Mittwoch, 23. Dezember 2015

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele XII

Auch die zu den s.g. "Naturwissenschaften" konstruierten Forschungsbereiche bilden keine "Realität" oder schon gar nicht in einem umfassenden Sinne "alles" ab, sondern erzählen uns von einer Wirklichkeit als begrenzte Perspektive, als Ausschnitt, als eine eigene bedeutungshafte Erzählung, die sie selbst mitschaffen. "Realität" abzubilden, würde voraussetzen, sie außerhalb von Wahrnehmung zu erfassen, da jede Wahrnehmung, gleich durch welche "Brille" oder durch welche "Instrumente" sie erfolgt, bereits eine Konstruktionsleistung ist, die von der jeweiligen vorhergehenden Wirklichkeit abhängig ist. Da uns nur die Wahrnehmung bleibt, durch die wir Welt und immer nur ausschnitthaft, eingebettet in sinnhafte Erzählungen erfahren können, bieten uns auch die Naturwissenschaften nur Konstrukte an, die sie mit Bedeutung ausstatten, zu Narrativen machen. Nur wenn wir den Glauben an die "Wahrheit" der Naturwissenschaften endlich auch allgemein aufbrechen, haben wir auch eine Chance die Geisteswissenschaften wieder aufzuwerten, die in ihrer Selbstreflektion bereits weiter vorangeschritten zu sein scheinen, um mit Hilfe dieser auch die kapitalistische Welt des Technisch-Strebenden-Funktionierens als Wahrheit aufzulösen und uns zu befreien...Was dabei entsteht muss keine Verunsicherung sein, sondern eine Wissenschaft, die das Mögliche außerhalb ihrer bisherigen Narrative zu denken imstande ist und überhaupt allererst fähig, sich selbst zu reflektieren. Auch entsteht daraus kein Chaos, sondern die Möglichkeit des Schaffens, wenn wir uns nicht mehr auf je spezifische Wahrheiten als Natürlichkeiten berufen können, mit denen wir mit dem Schwert des Zeitgeistes gegen das "Andere" zu Felde ziehen.

Wie schon Hitler, ist auch Trump der unterschätzte Vollidiot, der ungebildete Hampelmann, dem man jede schwachsinnige Theorie einreden kann, damit er sie medienwirksam rausposaunt, ganz hitleresque inszeniert er sich selbst und seinen Pöbel als den armen, marginalisierten und bedrohten Weißen Mann, in einer Welt der "fremden, volkszersetzenden Horden", ganz im stile faschistischen Aufbruchs schreien seine Anhänger nach Rache, nach Härte nach Gnadenlosigkeit und rekrutieren sich aus einer vermeintlichen "Mitte" der Gesellschaft, die nur schlicht, bieder und mit dem üblichen konservativen Mangel an Bildung erscheint und ganz wie 1933 ist genau das eine explosive Mischung...die Welt hingenen muss diesmal frühzeitig handeln...

Sonntag, 6. Dezember 2015

Markus Gabriels nicht existierende Welt und seine qualitativ ebenso wenig existente Konstruktivismuskritik

Markus Gabriel, Philosoph und Autor, hat wie man das so tut, ein Buch geschrieben. Es nennt sich „Warum es die Welt nicht gibt“ und wird als Spiegel Bestseller deklariert, das heisst also, es haben womöglich viele Leute gelesen und als Freund einer, wie ich es nenne, „Gossenphilosophie“, die sich nicht in sprachlicher Vereinfachung verliert, sondern deren Programmatik die Verbreitung und Anwendung philosophischen Denkens ist, eben weil damit die Komplexität der Welt, die sich sprachlich eben nicht einfach fassen lässt, zum Alltag dazugehören soll, sah mich freilich auch gezwungen ein so breit rezipiertes Machwerk anzuschauen. Das folgende schreibende Sprechen dient jetzt nicht als Buchrezension, es gibt vielmehr eine Prozess des Lesen wider, eine kleine Perspektive innerhalb der Perspektive auf das Buch und wird evtl. nach einigen weiteren Seiten des Lesens fortgesetzt. Das Buch ist also nicht zu Ende gelesen und trotzdem erlaube ich mich mir hier bereits einige Worte, nicht zuletzt als kleiner Seitenhieb einer ebenso fragmenthaften Kritik des Konstruktivismus, die Gabriel damit betreibt.
Was nun als charmant-narzisstisches Philosophieren in Buchform begann (und ich hoffe sehr, dass Gabriel der entgegenspringende Narzismus bewusst ist und dieser als Stilmittel fungiert), welches zugleich „verständlich“ sein wollte, also „allen“ verständlich, wie auch immer das ohne einen zur Unkenntlichkeit reduzierten Verstehensbegriff zu leisten sein könnte, findet seinen ersten Höhepunkt in Gabriels Beschäftigung mit dem Konstruktivismus, die er als Kritik versteht, sich aber als wohl mit „Verständlichkeit“ begründete oberflächlich-vereinfachende Überheblichkeit zeigt, der ich mich hier widmen möchte. Dabei will ich gar nicht auf das Offensichtlichste eingehe, nämlich das Problem, dass es DEN Konstruktivismus gar nicht gibt, sondern eine Vielheit an Ansätzen (einzig den Neurokonstruktivismus erwähnt er explizit aber ebenso unzulässig verkürzt), noch will ich mir anmaßen in gleicher Weise wie er als „Kritiker“, selbst als „Advokat“ all dieser Spielarten aufzutreten, vielmehr möchte ich „meine“ Variante des Konstruktivismus gegen seine Kritik ins Feld führen und dies so kurz und knapp wie möglich.
Wie man das als Philosoph nun so gern macht um nicht der Zuschreibung eines arroganten Elfenbeinturmberwohners anheimzufallen, arbeitet sich Gabriels Kritik an Beispielen ab. Ein zentrales Beispiel und damit einen zentralen Kritikpunkt möchte ich nun aufnehmen. Es handelt sich dabei um folgendes Gedankenspiel:
„Nehmen wir an, wir sitzen in gerade im Zug und erkennen, dass Passagiere einsteigen. In diesem Fall ist es eine Tatsache, dass Passagiere in einen Zug einsteigen. Vorausgesetzt, wir unterliegen keiner optischen Illusion, was möglich, aber wohl die Ausnahme ist, vermittelt uns unsere Registratur (unsere Augen) ein zutreffendes Bild der Tatsachen. Die so erkannte Tatsache besteht an sich, was in diesem Kontext bedeutet: Die Passagiere wären auch dann in den Zug eingestiegen, wenn niemand an Bord des Zuges sie dabei beobachtet hätte.“ (S. 58)
Die wichtige Punkte hierbei sind „Tatsache“, „zutreffendes Bild“ und „an sich“. Es geht also darum, dass unabhängig von einem Beobachter, genau dies vor sich geht: Passagiere steigen in einen Zug ein. Der Konstruktivismus gehe nun fehl, weil er genau dies leugne. Den Fehler, den Gabriel nun macht, benennt er dabei selbst, jedoch ohne es zu merken und zeigt dabei, dass erstens nicht der Konstruktivismus „Tatsachen“ leugnet, sondern nur sein ziemlich verqueres Bild von diesem und zweitens, dass Gabriel dem Leser hier mit einer ziemlich primitiven Vereinfachung sein Weltbild logisch unterjubeln will und sich dafür einer aristotelischen Rhetorik des „allgemein Wahrscheinlichen“ bedient, nämlich der „Tatsache“, dass ja wohl jeder seiner Behauptung folgen würde, es sei denn, er ist einer jenen“verkopften“ und „fehlerhaften“ Konstruktivisten.
Was ist nun dieser Fehler? Wenige Seiten weiter spricht Gabriel von den Bedingungen des Erkenntnisvorgangs, zu denen z.B. Sinnesorgane gehören, mit denen wir diese „Tatsachen“ wahrnehmen können, diese sind aber unterschieden von den Bedingungen des Erkannten, die Passagiere steigen also nicht ein, weil ich sie sehe, sondern trotz allem, ihre „Tatsache“ kann also von mir erkannt werden, wird aber nicht durch das Erkennen produziert. Kurz darauf dringt er nun zu des Pudels Kern vor, in dem er schreibt: „Kein anderes Tier auf diesem Planeten ist imstande zu erkenne, dass Passagiere in den Zug einsteigen, da die anderen Tiere kein Konzept von Zügen oder Passagieren haben.“ (S. 62) Was haben wir hier nun? Genau das, was viele Konstruktivisten behaupten würden, die dabei aber gerade eine Unterscheidung im Begriff „Tatsache“ vornehmen. Einen grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Skeptizismus außen vor gelassen, kann man so etwas wie „Tatsachen“ annehmen, also eine Realität, die abseits aller Beobachtung existiert aber davon verschieden sind die „Tatsachen“, die die Beobachtung generiert und die eben in diesem Fall zum Beispiel Konzepte von „Bahnhof“, „Zug“, „Passagier“ und „Einsteigen“ benötigt um eben jene „Tatsache“ „Passagiere steigen am Bahnof in einen Zug ein“ zu schaffen. Bei dieser „Tatsache“ handelt es sich also nicht um einen „objektiven“ Fakt, sondern um eine „soziale Tatsache“ wie es Searl beschreiben würde, also um eine sozial verbindliche und institutionalisierte Vereinbarung von Handeln und Deuten dieser Handlung. Das heisst auch, dass wir eben nur einen Ausschnitt aus all dem wahrnehmen, was wahrnehmbar wäre, z.B. eben gerade im Moment nicht die Person, die am Bahnhofskiosk ein Eis kauft und es heisst ebenso, dass wir dieses Interpretationsmuster eben nicht nur anhand „markanter“ Elemente abrufen (die das Bild zugleich um Handlungsanweisungen, Gefühle, Erinnerungen usw. erweitern), sondern dies auch nur können, weil wir das für uns Sichtbare bereits eingeteilt haben, ihm eine Struktur gegeben. Man könnte also sagen, was „wirklich“ passiert, ist nur die Änderung der Relation und Zustände von ein paar Billiarden Strings. Dies wäre dann die „eigentliche Tatsache“, die wir aber aufgrund unserer Sinnesorgane aber auch aufgrund unserer sozialen und habitualisierten Vereinbarungen in einer andere „Tatsache“ überführen, die uns „sinnvoll“ erscheint. Damit ist diese „Tatsache“ beobachterabhängig. Ohne all diese Vereinbarungen und Personen, die diese vollführen, gibt es die Tatsache schlicht nicht. Genauso verhält es sich nun aber auch mit der Beschreibung durch die Strings. Auch hier handelt es sich in der Beobachtung um einen temporären, lokalen und narrativ zusammengefassten Ausschnitt (wir haben ja ein „Anfang“ und ein „Ende“ des Vorgangs, den wir als zielgerichtet beschreiben) mit Hilfe bestimmter Konstrukte, die in einen Diskurs, ein Bedeutungsnetzwerk und vieles mehr eingebunden sind. Und auch die Veränderung der Strings ist keine umfassende Beschreibung der „Tatsache“, denn sowohl die menschliche Person, als auch der Hund konstruieren mit Hilfe ihrer Wahrnehmung weitere, beobachterzentrierte „Tatsachen“, die wiederum das Handeln bestimmen und damit auch die „physikalische Realität“ beeinflussen, sie zeitigen Wirkungen. Ganz im Sinne der Theorie Gabriels, ist also dies alles „tatsächlich“, dies alles sind konstruktions- und damit beobachterbedingte „Tatsachen“, die freilich auf etwas „reales“ verweisen, sich an ihm abarbeiten, es aber nie erfassen können. Alle „Tatsachen“ sind damit dem was er „Gegenstansbereiche“ nennt zuordenbar und als solches „Tatsachen“ aber sie sind deswegen nicht „real“ oder eine Abbildung von „Realität“, noch sind sie nicht konstruiert. Der Konstruktivismus wie ich ihn hier vertrete behauptet damit eigentlich etwas ganz ähnliches (aber man muss sich ja im Wissenschaftsbereich auch freilich immer schön abgrenzen, geht ja um Forschungsgelder und Positionierungen). Es gibt wahrscheinlich eine Realität, die unabhängig aller Beobachtung ist. Zu eben dieser haben wir aber keinen Zugang. Alles was wir haben ist die Konstruktion von sinn- und musterhaften Ausschnitten, geprägt durch Vorstellungen, Vereinbarungen, Begriffe, aus denen komplexe Wirklichkeiten hervorgehen können, die sich von anderen unterscheiden. Sie alle sind „Tatsachen“ aber sie alle sind auch konstruiert.
Dies bedeutet freilich keinen zwangsweisen „heillosen“ Relativismus, nur verändert es das Verständnis der Welt und muss andere Grundlagen des „Richtigen“ finden als eine primitive Übereinstimmung mit den „Fakten“ der „Tatsachen“ der „einen“ „Welt“.

#Markus Gabriel #Konstruktivismus #warumesdieweltnichtgibt #Neuer Realismus

Montag, 30. November 2015

Das theatralische Nichthandeln als Handeln

Was ist es, das uns dazu treibt, auch im Angesicht so realer aber latent fortschreitender Katastrophen wir dem Klimawandel uns in diesem Mangel an Handeln zwar nicht zu gefallen aber doch zu verharren? Nun, es ist zum Einen unser recht neumodisches erlernte Selbstbild als "autonome, rationale, vernünftige" Wesen, das nicht viel mehr ist, als selbstgerechter Bullshit, Begründungsdiskurs unserer Superiorität über andere Tiere und Basis systemlegitimierender Argumenation seit der s.g. "Aufklärung", bzw. dessen politischer Programmatik. Das allein verstellt schon den Weg zur Lösung, weil es eben darauf hinausläuft, zu glauben, mit den Begründungsdiskursen für Handeln an sich, die es seit Jahrzehnten und teils länger gibt, irgendetwas im Handeln bewirken zu können. Dabei geht es im Kern und das ist der andere Punkt, um zwei Sachen: Macht und Gewohnheit. Erstere will sich niemand nehmen lassen und jede Zurückhaltung kann Machtverlust bedeuten, scheint vorsichtig abgewogen sein zu wollen. Das Zweite liefert eine ähnliche Illusion, die ihre Triebkraft ist. Macht ist wie Gewohnheit Teil der Konstruktion einer Sicherheitsillusion und wir sind als kulturelle Wesen sehr unsicher. Die Welt hat die Bedeutung, die wir ihr geben aber diese Bedeutung muss sozial abgesichert sein, sonst geraten wir in das Chaos von Freiheit, die wir so sehr fürchten. Wir brauchen Gewissheit, die wir bis zum Tode verteidigen können. Und solche Gewissheiten sind in unserem alltäglichen Verhalten eingelagert, umsponnen von einem Begründungsdiskurs, der die ganze Konstruiertheit unserer Welt verschleiert, um diese Sicherheitsillusion zu schaffen und Verbindlichkeit zu generieren. Unsere Gewohnheiten sind damit auch Teil unserer Identität, um die wir lieber als alles andere kämpfen und für die wir jeden Schwachsinn nutzen, der sich biete: Geschlechter, Nationen, Rassen, Spezies, Hauptsache, es kann als Distinktionsmerkmal gelten und irgendwie positiv aufgeladen werden aber dabei doch die eigentlichen Handlungsgründe, das unendliche emotional zusammengehaltene Gespinst aus kulturellen, sozialen und biographischen habituellen Mustern und Wahrnehmungen, kurz, eben jene Konstruiertheit verschleiern. Und das ist auch der Grund, warum wir unser Verhalten nicht ändern, weil wir erstens zu ungebildet sind um das zu sehen und zweitens so sehr emotional an all das gebunden, dass wir lieber den "Gutmenschen" zum Sündenbock und Ziel unserer uns als "gerecht" erscheinenen widerwärtigen Rache machen, für seine Dekonstruktion unserer Gewissheiten, der er ein Anderes entgegenstellt und uns als der Advokat des Chaos erscheint. Lieber beschimpfen wir ihn als uns selbst mit eigener Verantwortung herumzuschlagen für unser Schnitzel, unsere Kohle, unsere Bequemlichkeit. Der "Gutmensch" muss böse sein, damit wir alle schuldig sind, denn wo alle schuldig sind, ist es niemand und niemand kann etwas ändern...so flüchten wir uns selbstgerecht in den Untergang als objektivierenden Strukturfunktionalismus und in die Banalität des Bösen, in der wir alle Hannah Arendts Eichmann sein können, selbstzufrieden im verantwortungslosen Bösen, das den Schrecken verliert, denn es ist sicher und es ist allumfassend, solange wir nur "Veganer", "Ökos" oder diese ganzen Wissenschaftler, die womöglich noch Recht haben wollen, klein halten und sie soweit es geht der sozialen Unsichtbarkeit überantworten und nur alle paar Jahre in einem karnevalesken Akt gnadenvoll und lächerlich vorführen und uns dabei selbst auf die Schulter klopfen, wie viel wir doch wieder getan hätten, um die Illusion des Handelns im Nichthandeln zur Sicherung der Illusion der Sicherheit der Gewohnheit aufrecht zu erhalten. Oder anders: auch die Klimakonferenz ist nur ein Theater des Schreckens.

Samstag, 14. November 2015

Paris am 13.11. und der ganz "normale" Wahnsinn der sozialen Positionierung

Schreckliche Ereignisse in Paris. Wohl über hundert Tote. Neben den vielen Berichten um den Ablauf, die Zahl der Toten und Verletzten, beherrscht eine Frage die Nachrichten: "Kann es hier auch passieren?", also "uns" und nicht den "Anderen", den "Deutschen" und nicht den "Franzosen". Die Antwort ist, es IST bei "uns" passiert, es IST "uns" passiert und nicht in einem politisch zu instrumentalisierenden Sinn von "uns" als "Westen" oder "Europa" sondern "uns" als der Welt, auf der es letztlich beständig geschieht! Es fühlt sich surreal an...distopisch....wirr....unendlich traurig...abscheulich und es wird noch abscheulicher, wenn man an die Schändung der Toten für politische Programmatik und Identitätskonstruktionen in den kommenden Wochen denkt, die bereits jetzt einsetzen und von allerhand anderen sozialen Positionierungen begleitet ist, ganz zu schweigen von der Instrumentalisierung in der Flüchtlingsdebatte.

Daneben stört mich aber ein Punkt besonders, den ich nicht nur deswegen ansprechen will, sondern weil er eine soziale Positionierung enthält, die sich nicht als solche zu begreifen scheint, die sich selbst verschleiert und deswegen genauso gefährlich ist. Was mich stört, ist der Kampf gegen bestimmte Trauerbekundungen inkl. der Abwertung von spezifischen Bewältigungsmechanismen oder anders: Soll man nun für die Opfer beten oder nicht? Ich selbst, als einer jenen, der "Pray for Paris" ebenso sozial geteilt hat, kann mich da freilich rausreden, in einer eloquent-prätentiösen Weise, zu der ich schlicht fähig bin. Ich könnte darauf verweisen, dass ich ein umfassenderes Verständnis von "Gebet" aus dessen allgemeiner Funktion heraus habe, es also nicht als zwangsweise religiöse Handlung im herkömmlichen Sinne sehe, sondern als eine Form eines bewussten tiefen Gedenkens, in dem das eigene Empfinden darüber zum Ausdruck gebracht und akut kanalisiert wird und das diese für "religiöse" wie für "nichtreligiöse" Menschen eine der wenigen akuten Bewältigungsmechanismen ist, die spontan greifbar sind, um das "unfassbare" irgendwie psychisch anzupacken. Ich könnte ebenso erneut darauf hinweisen, dass auch atheistische Weltdeutungen im Kern analog zu Religionen funktionieren. Es sind dabei auch Religionen selbst nicht das vermeintliche Problem, sondern deren Auslegung, übrigens und das ist der Punkt, ebenso wie bei nichtreligiösen Wirklichkeiten und Weltdeutungen, wie z.B. bei auf dem Konstrukt "Biologie" basierenden Abscheulichkeiten wie Sexismus, Rassismus oder Speziesismus. Nicht die Biologie als weltdeutungsangebotsanbietende Disziplin und Referenzbereich ist dabei das Problem, sondern deren spezifische Auslegung.
Demgegenüber liefern religiöse Handlungen, wie erwähnt, psychische Bewältigungsmittel, die die Leute aktuell zur Verfügung haben. Und auch hierbei kommt es auf die Auslegung an! Denn freilich kann der Aufruf zum Gebet wieder eine Trennung konstruieren oder abbilden, mit Hilfe von Religion: "die Christen", zu denen wir in dem Moment alle konstruiert werden, gegen "die Moslems" oder "Terroristen", mit all der Scheisse, die damit zusammenhängt. Deswegen ist es natürlich mehr als wichtig auf dieses Problem hinzuweisen und ich bin froh, dass es Leute gibt, die den Mut haben dies zu tun. Aber und dies wird übersehen, diese Dichotomisierung wird durch andere Dichotomisierungen und damit soziale Positionierungen und Identitätsmuster ersetzt, die nicht weniger problematisch, homogenisierend und überheblich sind. So passiert ähnliches is dem Missbrauch der Opfer für die Systemlegitimierung in Form eines inszenierten Systemkampfes von "wir die Demokraten" vs. "die Anderen, die Fundamentalisten". Dabei wären die Anschläge auch passiert, wenn Frankreich ein Vorzeigefaschismus, eine Monarchie, eine Theokratie oder sonstein anderes Systemmodell wäre, dies ist eben nicht der Grund.
Aber was bleibt? Freilich gibt es auch andere und vielleicht inklusivere Bewältigungsmittel und freilich sind die Grundprobleme auch hier Bildung (verstanden als kritisches Denken), die Möglichkeiten von Anerkennung und Wertigkeit, sowie die Verteilung von Ressourcen, deren Ungerechtigkeit Religionen, in einer abscheulichen Deutungsweise mit solchen Handlungen bewältigen, wollen, indem sie der Ohnmacht, die die eigentliche Ursache ist, Handlungsmöglichkeiten entgegensetzt, die zugleich als emotionale Transformationsmittel des permanenten "Unangenehmen" dienen. Damit ist es aber eben nicht die Religion selbst, die "Schuld" ist, sondern sie wird zum Mittel, zum Kanalisationspunkt, weil es eben keine ausreichenden anderen Mittel gibt, die für die Individuen aktuell denkbar, erlernbar, vollziehbar wären. Und dies gilt auch für das Gebet. Auch dieses funktioniert auf diese Weise, es spendet Trost über Sinn (wenn religiös genutzt) und bietet irgendeine greifbare Handlung an, einen peformativen Akt, der die Starre der Ohnmacht wenigstens kurz bewältigt. Solange wie also die Ursache nicht effektiv bekämpfen wollen, fokussieren wir auch die Religion, nicht zuletzt um uns selbst zu feiern, in unserer überlegenen Moral, die nichts weiter ist als ein Mehr und ein Anderes als Bewältigungsmittel. Solange wir nicht fähig sind, die Ursachen zu bekämpfen, sollten wir uns hüten die Religion zu verdammen, sondern nur die Taten selbst aber immer wohlbewusst, dass die Verzweiflung Motor auf beiden Seiten ist und jede Form der Weltdeutung dazu treiben kann. legitimiert durch eine spezifische Auslegung dieser und alle zu abscheulichen Mördern zu machen, und wenn nur aus Unterlassung für alle die Flüchtlinge, die der Pöbel nun lieber ersaufen lassen würde als in die Mitte zu lassen, mit der Begründung eine Angst, die nichts anderes ist als eine perfide Deutung einer angeblichen Vernunft, die sie und ihre Handlungen legitimieren soll, denn man sieht ja was alles passieren kann.
Wir sollten also den Leuten vorerst selbst überlassen wie sie ihr Leid verarbeiten, so lange nicht neue Keile dadurch getrieben werden aber diese finden sich nahezu überall...mit anderen Worten: Wir die Demokraten, Wir die Vernünftigen oder Wir die Atheisten ist nicht besser als Wir die Christen....

Montag, 26. Oktober 2015

"Mensch" und andere Identitäten



Wir sind alle Menschen, wir haben alle eine unveräußerliche Würde und wir sind alle gleich wertvoll, solange wir eben Menschen sind. Ich bin ein Mensch, zumindest erfülle ich die gängigen Kriterien dieses Konstrukts und könnte mich daher nun bequem zurücklehnen und mich meiner menschlichen Identität erfreuen. Stattdessen verweigere ich mich ihr. Aber geht denn sowas? Darf denn sowas? Und welche Identität gibt es stattdessen? Gemeinhin wird an exklusivere gedacht und der moralische Zeigefinger in Stellung gebracht, zu Recht, denn die Idee der Menschenrechte, in der sich die Identität alles Menschlichen offenbart, legitimiert sich nicht zuletzt aufgrund ihres Verständnisses als moralischeres und inklusiveres Gegenmodell zu auf rassistischen oder sexistischen Wirklichkeiten basierenden Modellen. Ein Weg zurück in die Engstirnigkeit schließt somit aus. Eine Verweigerung dieses Modells der menschlichen Identität bedeutet also nicht, Menschenrechte per se abzuerkennen, es besteht nur darin, die durch Naturalisierung verschleierte Konstruktion einer zwangsweisen Identität menschlicher Identität zu offenbaren und eine bessere, inklusivere Alternative zu wählen. Dass solche nicht nur denkbar sind, sondern auch tatsächlich gedacht werden, zeigt der Artikel „Why I Identify as Mammal“ von Randy Laist (http://opinionator.blogs.nytimes.com/2015/10/24/why-i-identify-as-mammal/), in der die Identität als „Säugetier“, also basierend auf einem erweiterten biologischen Konstrukt, gegenüber exklusiveren bevorzugt und gerechtfertigt wird. Eine solche Rechtfertigung basiert dabei grundsätzlich auf antispeziesistischen Argumenten gegen einen menschlichen Chauvinismus, der genauso Teil der menschlichen Identitätskonstruktion ist, die letztlich immer auch als speziesistischer Imperativ zu verstehen ist und damit alle ethisch-argumentativen Fehler begeht, die sie Rassen- oder Geschlechteridentitäten zu Recht vorwirft, angefangen bei dem Charakter der Konstruktion, dem eine Naturalisierung verschleiernd gegenüber gestellt wird, bis hin zur Ausblendung der Ähnlichkeiten zugunsten von als bedeutungshaft konstruierten Unterschieden, denen kausale Zwangsläufigkeit untergeschoben werden.
In der Verweigerung der menschlichen Identität offenbart sich also nicht der Wunsch nach Exklusivität zum Zwecke der Selbstaufwertung, sondern ein kritischer Umgang mit „liebgewonnenen“ Konstrukten, die, u.a. aus Angst vor einem „Rückfall“ und ohne jegliches kritisches Bewusstsein verteidigt werden, auf deren relativ „Gutes“ im Vergleich zu „schlechten“ Alternativen fokussiert wird, um dabei ihr relativ „Schlechtes“ zu übersehen und so Alternativen als Denkbarkeiten zu verunmöglichen.
Dieser Angst sollen die Möglichkeiten neuer, inklusiverer und damit auch gerechterer und ethischerer Modelle von Identität entgegengesetzt werden, die die „alten“ Fehler zu vermeiden suchen.

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele XI

In nahezu jedem Bereich unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit wird Kompetenz gefordert und selbst Bildung als leere Worthülse noch gefeiert. In nahezu jedem Bereich, außer der Führung. Allein Herrschaft scheint uns trivial, bedeutungslos und unwichtig genug zu sein, dass wir allein eine quantitative Zustimmung und manchmal selbst nur eine imaginäre, als ausreichende Qualifikation ansehen...


Es gibt weitaus bessere, um nicht zu sagen sinnvollere, Identitätskonstrukte als regionale oder nationale Zugehörigkeiten, noch dazu, wenn deren Kern nicht mehr ist, als das Spiel zwischen kollektivem Selbstmitleid und kollektiver Selbstüberhöhung wie im Fall der s.g. "Deutschen Identität"...


Ein System, das anstatt seine Verantwortung, sein Handeln und seine Konstrukte, sowie sich selbst als eines zu hinterfragen, zu reflektieren, sich über quasi alle großen Parteien stattdessen lieber in "Das Boot ist voll"-Rhetorik rettet, das ein Bildungssystem fährt, welches in der Masse Menschen produziert, die all dies mitmachen oder gar noch gutheißen, ein System, das statt die ungerechte Verteilung in der Welt zu bekämpfen, lieber andere totalitäre Systeme stützt, um das Flüchten zu verunmöglichen und das bei all dem sich selbst noch als Ideal feiert, ist nicht einfach nur fehlgeleitet, sondern im Kern eine Obszönität, ja eine Abscheulichkeit...


Was bedeutet die Erfindung, die Illusion von Freiheit schon, die der westliche moderne Mensch so gern, wolllüstig und selbstverliebt reitet, gegen den Erhalt der Welt für alle Geschöpfe? Der Masse als heiliger Götze alles, selbst wenn die Welt zuschanden werden müsste...


Der Glaube daran, man könne "Geschichte" einfach so nacherleben, wie es solche Inszenierungen wie historische Reenactments suggerieren, steht auf der gleichen Stufe wie der Glaube eines Thailandurlaubers, der nun glaubt, er wüsste, wie es ist ein Thailänder zu sein...In beiden Fällen besteht der Kardinalfehler darin, "Wahrnehmung", "Fühlen" und "Erleben" als ahistorische Konstante zu betrachten.


Auch wenn manche das so gern anders sehen wollen und eine Korrellation herbeisehnen aber die Essgewohnheiten machen niemanden an sich zu einem besseren Menschen. In den allermeisten Fällen folgen auch diese Menschen nur erlernten Mustern, die sie nicht reflektieren. Wie groß auch der Wunsch sein mag und in Gruppenbeschreibungen auf facebook inszeniert wird, dass Veganismus nicht vereinbar sei mit Dingen wie „Rassismus“, „Sexismus“ oder „Chauvinismus“, so schnell kann man doch eines besseren belehrt werden, wenn ganze Gruppen totalitär geführt werden und manche Veganer Paradebeispiele totalitär denkender Menschen abgeben, die, wenn ihnen nur in einer anderen Zeit andere „voll gegen das Establishment“-Muster zur Verfügung gestanden hätten, jedem beliebigen totalitären System gefolgt wären. Das sagt nichts über den Veganismus aus oder die Wichtigkeit von ihm als erlernbares Muster, eine Form, die nötig ist, um überhaupt handeln zu können aber viel über Menschen...


Hagen Rether...zunehmend zynischer, aggressiver, deutlicher (wenn das noch geht) und auch wenn ich seine polemischen Zuspitzung aufgrund ihrer freilich intendierten Einfachheit widersprechen würde, großartiges „Kino“...nur in einem geht er wirklich fehl, wie alle, nicht zuletzt um allzu großes und aus obrigkeitlicher Sicht „problematische“ Subversivität und Devianz zu vermeiden: auch wenn immer wieder etwas gegenteiliges durchscheint, auch er sieht immer noch die derzeitige Demokratie als fähig, die Probleme zu lösen. Dabei wird nicht zuletzt eins übersehen: das „Lieblingsargument“ vieler gegen den s.g. „Kommunismus“ ist der dafür nicht bereite Mensch. Dieses „Argument“ muss aber die „Demokratie“ gleichermaßen treffen und dies noch mehr, denn auch und insbesondere unsere Demokratie lebt von einer aristotelischen Rhetorik, in der Politik, den Medien und selbst der Populärwissenschaft. es ist eine Rhetorik der „allgemeinen Wahrscheinlichkeit“, die das Motto stellt. Ihr Zweck ist jenes, welches die Masse für möglich, denkbar, annehmbar hält. In diesem Sinn werden ihre Diskurse durch den Konservatismus der Massen bestimmt. Sie ist schmeichelnd, anbiedernd, gewinnsüchtig und reproduziert lediglich bereits Gegebenes. Und wir alle glauben ihr, sind bereit es zu tun. Die Wenigen, die sich der Einfachheit des Vorgegebenen entziehen, verwechseln dabei nur ein „Dagegen-sein“ mit „Kritisch-sein“ und suchen nur beständig nach einem Gegendiskurs, der letztlich auch nur einfache Antworten präsentiert. Dass dies funktioniert, liegt vor allem an der Bildung im System, die kapitalistisch verwertbares Funktionswissen fördert und nicht die Basis einer jeden brauchbaren Demokratie, Bildung als Kritisches Denken, als Selbst- und Weltreflektion. Damit wird nicht zuletzt eine Macht suggeriert, eine Abhängigkeit von den Diskursen der Ordnung und den Diskursen der einfachen Gegenordnungen, ein Verlust der Souveränität, den wir letztlich so sehr herbeisehnen wie wir ihn beklagen, ja beklagen müssen, denn was haben wir sonst? Unser Problem ist nicht, dass wir nicht „mehr“ der Souverän sind. Das Problem ist, dass wir der dümmstmögliche Souverän sind, der sich vielleicht dank der durchgesetzten Ordnung des Bildungsmonpols, des „alternativlosen“ Totalitarismus unserer Demokratie, die so wie sie ist, kein anderes Bildungssystem denken kann, da wir dieses letztlich selbst nicht wollen, aus Angst vor allem Komplexen und Großen, für immer erhalten wird....es darf nicht darum gehen, Demokratie beständig zu postulieren, es muss darum gehen allererst die Grundlage dafür zu setzen. In diesem Sinne ist Bildungskritik Systemkritik und Demokratiekritik im Grunde demokratisch.

Montag, 21. September 2015

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele X

Was ist der Unterschied zwischen einem Terroristen und einem euphemistisch so bezeichneten "Asylgegner"? Letzterer ist zugleich auch Wähler...Aber nicht nur das, er ist Teil des Nationalitaetskonstrukts "Deutscher", er darf also, um einen gegenwaertigen Diskussionsstrang aufzugreifen, auch "nutzlos" sein und trotzdem bleiben. Das einzig Gute daran ist, dass dies recht unverhohlen den tief verwurzelten Nationalismus und den ebenso ungebildeten wie festen Glauben an liebgewonnene Konstrukte der Bevoelkerung deutlich zu zeigen vermag...

Wir leben in einem System normativer, faschistoider Gleichheit als Gleichförmigkeit in der Masse und als Masse, die das Wesen unserer Demokratie ist,, in der "Gutmensch" ein Schimpfwort sein muss, in dem "Helden" nur fern, als Imagination aus anderen Zeiten oder nur in Form alltäglicher und stets massenkonformer "glücklicher Zufälligkeit" existieren dürfen, in der Trojas Hektor, Platons König als Abscheulichkeiten gelten müssen, nach denen wir uns doch heimlich sehnen um bar jeder Verantwortung sein zu können. Unser Prinzip ist das argwöhnisch bewachte Mittelmaß der Masse, die Konvention als Moral und anstatt Ethik und Gerechtigkeit, eine Massenhysterie gegen jede Form eingebildeter oder tatsächlicher (moralischer) Überlegenheit wo sie sich nicht auf blosses technisches Verständnis beschränkt. Denn wo alle gleich sind kann niemand schlecht sein, wo wir alle Hannah Arendts Eichmann sind und uns in die Funktion der Mittelmäßigkeit retten, da meinen wir unsere Seelen von Schuld befreien zu können, eine Schuld auf die jeder "Gutmensch" uns in seinem Handeln verweist. Der "Gutmensch" ist unser allererster und wichtigster Sündenbock an dem wir unsere Mittelmäßigkeit strafen und uns zugleich indem wir ihn bestrafen von der Schuld an ihr zu befreien suchen.

Kritisches Denken ist im Grunde das Abenteuer der Suche nach den kulturellen Mustern, sozialen Prozessen und biographischen Erlebnissen, nach den Deutungen und Sinneinheiten, die uns alle beständig beeinflussen und die wir vielleicht letztlich sind. So gefährlich diese sein können, so nötig sind diese um überhaupt zu sein. Und so ist dieses Abenteuer ein immerwährendes Wechselspiel aus Verkrusten und Aufbrechen. Das eigentlich Bedauerliche ist dabei allerdings nur, dass diese Suche so selten unternommen wird...

Objektivität ist eine Lüge aber Neutralität ein Verbrechen. Das ist es was insbesondere Geisteswissenschaftler mit ihren, zumindest theoretisch, so wichtigen Fähigkeiten endlich begreifen müssen. Unsere Rolle kann und muss der Sand im Getriebe des unkritischen Funktionierens sein, unsere Methoden und Reflektionen der Vorschlaghammer der die Welt mit ihren Routinen, Mythen, Glaubenssätzen in Stücke schlägt um eine für alle erträglichere Wirklichkeit bauen zu können und unser Mut das Gegenüber der geschürten Furcht vor dem Ausbruch aus Diskurs und Rolle die der kapitalistische Wissenschaftsbetrieb uns einimpft um uns gefügig zu machen und der wir uns so gern unterwerfen um Anerkennung, Status und purer Existenz willen. Lasst uns stattdessen zum Apotheker des kritischen Denkens werden, zum kollektiven Morpheus im Widerstand gegen die "Wahrheiten" der Matrix.... 

Donnerstag, 27. August 2015

Alte Fehler unter neuem Vorzeichen oder längst überfällige Dekonstruktion? - Die Ausstellung "Frauensache - Wie Brandenburg Preußen wurde" unter kulturgeschichtlicher Sicht

Wenn die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg eine Ausstellung präsentiert die vorgibt, mit der Konstruktion von Vergangenheit zu Geschichte(n) der "Großen weißen Männer" und ihrer Kriege, einer seit langem kritisierten Geschichtsschreibung im Stil des 19. Jahrhunderts, aufzuräumen und ihr ein "Anderes" entgegenzusetzen, dann scheint dies eine Sensation, ja ein kleiner Skandal in der auf Homepage, in Publikationen und Führungen immer noch reproduzierten Welt von "Friedrich dem Großen", des "Absolutismus" und der "Aufklärung", kurz in einer Welt geschichtsphilosophischen Anachronismus'.
Allein deswegen, so scheint es, lohnt es sich, sich eingehender mit dieser Ausstellung auseinanderzusetzen und fast wäre man von vornherein geneigt die Bedeutung einer solchen gar nicht hoch genug einschätzen zu können, scheint doch in ihr das Potential auf, auch die SPSG geschichtswissenschaftlich ins 21. Jahrhundert zu katapultieren. Allerdings ist genau deswegen auch Vorsicht geboten, es ist genau hinzuschauen und dabei die Frage zu stellen, ob die Ausstellung einem solchen Anspruch gerecht werden kann. Wie wird mit diesem Anspruch umgegangen, wie wird er umgesetzt? Mit anderen Worten gilt es zu fragen, ob die lange und tief verwurzelte Tradition der "Geschichte der großen weißen Männer und ihrer Kriege und Kunstsammlungen" nicht doch abfärbt, ob die "Frauensache" nur das Altbekannte in neuem Gewand präsentiert, die Vorzeichen oder besser, das Geschlecht wechselt, um alte und liebgewonnene methodische und erkenntnistheoretische Fehler erneut begehen zu können. Ein Bericht über diese Ausstellung wird dies zu berücksichtigen haben.
Damit wären wir eigentlich auch schon beim Thema angelangt, genauer, bei „Geschlecht“ als Kategorie, als Konstrukt, als eine „willkürliche“ Möglichkeit Welt zu strukturieren, zu ordnen und Handlungssicherheit zu generieren. Eine Ausstellung, die die historischen Ausprägungen von „Geschlecht“ thematisiert oder sich zumindest eine dezidiert geschlechterhistorische Perspektive auf die Fahne zu schreiben scheint, sollte genau mit diesem Thema, der Konstruktion von „Geschlecht“, von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“, den Rollenerwartungen und -modellen bewusst umgehen. Nicht zuletzt auch deswegen, um eine allzu leichte anachronistische Identifikation aufgrund der Kategorie „Geschlecht“ zu vermeiden, denn abseits der im Alltag für die Generierung von „Sicherheit“ und „Ordnung“ scheinbar so nötigen Naturalisierung von „Geschlecht“ und der Kopplung von Handlungsanweisungen an „Penisse“ und „Vaginas“ und deren zugeordnete Merkmale, ist „Frau“ eben nicht gleich „Frau“, weder durch soziale Schichtungen hindurch, noch historisch betrachtet. Eine „Frau“ heute ist eben etwas gänzlich anderes als eine „Frau“ des 17. oder 18. Jahrhunderts, auch wenn es freilich Überschneidungen in den Rollenerwartungen und Begründungen geben kann. Eine solche Ausstellung sollte sensibel mit dem Thema der Geschlechterkonstruktion umgehen, es überhaupt thematisieren, nicht zuletzt, um einem Bildungsanspruch gerecht zu werden, der darin bestehen muss, die Konstruiertheit solcher Kategorien aufzuzeigen. Damit wären wir jedoch beim ersten Punkt angelangt, der bereits seinen dunklen oder besser pinken Schatten auf die Ausstellung wirft: das Logo und die Werbung. Noch bevor auf die Ausstellung selbst eingegangen werden kann, steht die Werbung als die Verheißung dessen was einen dort erwartet und diese lässt nichts Gutes ahnen. Das Logo besteht aus einer stilisierten „weiblichen“ Hand, die eine Schachfigur gekonnt doch „zärtlich“ in einem „Traum“ aus „Pink“ zu setzen beginnt. Eine solche Darstellung muss sich freilich mit dem Vorwurf der Reproduktion geschlechtersterotyper, wenn nicht sexistischer Kritik auseinandersetzen, die hier jedoch nicht eigens abgehandelt werden muss. Wichtig ist deren Kern, nämlich der Vorwurf der Reproduktion von geschlechterstereotypen Wahrnehmungen und einer spezifischen Konstruktion des „Weiblichen“, die zudem die bereits angesprochene anachronistische Gefahr bedeutet, sich selbst oder die „moderne Frau“ in die „Frau“ vergangener Epochen zu übertragen. Allerdings, so könnte man einwenden, kann auch Werbung bewusst mit solchen Stereotypen spielen, den Zuschauer abholen, um ihn dann mit seinen Vorannahmen kritisch zu konfrontieren. Ob und inwieweit dies hier funktioniert, gilt es in der Betrachtung der Ausstellung zu entscheiden.
Diese ist nun in mehrere thematische, örtlich getrennte Abschnitte unterteilt. Der erste Raum besteht in einem ereignishaften Überblick über eine Geschichte der Hohenzollern und Brandenburg-Preußens. Anhand markanter Meilensteine, die durch jeweils ein Ausstellungsobjekt begleitet sind, sollen die „wichtigsten“ (dass eine solche „Wichtigkeit“ ein nachträgliches Konstrukt ist bleibt leider unthematisiert) Wegpunkte dieser historischen Erzählung präsentiert werden. Die Objekte sind dabei durchaus vielseitig. Sie bestehen z.B. in der Lehnsurkunde, Schädelfragmenten aus dem „30-jährigen Krieg“ oder einigen Koffern, mit denen das Königshaus nach dem „I. Weltkrieg“ sein Hab und Gut ins Exil transportieren ließ.
Das eigentlich Bemerkenswerte sind aber nicht die Objekte an sich, sondern der Versuch mit einer teleologisch orientierten Geschichtsschreibung der Hohenzollern und Brandenburg-Preußens zu brechen, ein wichtiger und nicht zu unterschätzender Ansatz, der jedoch, anders als dies seitens der Stiftung vermutet werden könnte, nicht neu ist. Und dies ist, trotz dem wirklich positiven Ansatzes, eines weiterer Kritikpunkt, der immer wieder durchscheinende und teils kommunizierte Glaube an die Neuartigkeit eines solches Bruchs mit einer teleologischen Geschichtsschreibung oder der Geschichtskonstruktion anhand der „Großen weißen Männer“. An diesem Punkt beginnt man sich zu fragen, ob und wenn ja welcher Art von „Historikern“ die SPSG beschäftigt. Bereits im frühen 20. Jahrhundert gab es seitens der s.g. Annales-Historiker derartige Ansätze und Kritik an des bisherigen. In den 60er und 70er Jahren wurde diese Kritik seitens der s.g. Sozialgeschichte fortgesetzt und wird schließlich seit den 90ern auch von der aus der Kritik an der Sozialgeschichte hervorgegangenen s.g. Neuen Kulturgeschichte getragen. Dass eine solche Abkehr von derartigen Geschichtsmodellen „neu“ erscheint, zeigt vielmehr den methodischen und erkenntnistheoretischen „Konservatismus“, um nicht Rückständigkeit sagen zu müssen, der Welt der SPSG, die, wie bereits erwähnt, immer noch vom Glauben an Konstrukte wie „Absolutismus“ oder „Aufklärung“ gekennzeichnet ist. Trotz allem macht die Ausstellung, wenn auch spät (in dieser Verspätung steht sie allerdings leider auch nicht allein da), einiges an diesem Punkt richtig. Die Entstehung Brandenburg-Preußens wird nicht mehr als zielgerichtete Erfolgsgeschichte erzählt, sondern auch in ihren Brüchen, Unsicherheiten und Scheidewegen hin zu Alternativen und dies ist wert und wichtig erzählt zu werden. Problematisch bleibt dabei allerdings auch die Verwendung von Karten, die immer noch als Repräsentanten gelesen werden statt als Konstrukteure, als Abbildungen einer scheinbaren (realen) Wirklichkeit statt als Erschaffer einer solchen aus ebenfalls letztlich alltagsmoderner Perspektive von „Raum“ und „Grenze“ als quasi „absolut“ Auch verbleibt, trotz aller Kritik an der Teleologie die Erzählung der Ausstellung bestimmten Ereignissen und Personen verhaftet und damit letztlich einem nachträglichen und durch ereignishafte Erzählungen geprägtem Geschichtsverständnis, das zur sehr die Perspektive jener „Großen“ und nachträglich als entwicklungsgeschichtlich bedeutenden Ereignisse einnimmt, es versäumt nach den Zeitgenossen jenseits des Hofes und deren Perspektive zu fragen. Eine Teleologie kann so nur ansatzweise aufgebrochen werden.
Ein weiterer Raum beschäftigt sich nun mit den Netzwerken, zu deren zentralen Punkten die „Frauen“ gemacht werden, oder anders, mit der Heiratspolitik als Herrschaftspraxis. Einzelne Linien und netzwerkartige Verbindungen werden vorgestellt und durch Geschenke im Rahmen dieser Verbindungen präsentiert. Viel Gold, viel Glitzer und der Versuch den „Frauen“ eine politische Bedeutung als letztlich Verhandlungsgut, Unterpfand und Symbol einer politischen Verbindung zuzuerkennen. Der letzte Raum der hier zur Sprache kommen soll, beschreibt hingegen die Rollen von „Herrscherfrauen“ (denn freilich bleibt man auch hier auf der Ebene der „Großen“). Bemerkenswert ist hier zumindest in Ansätzen der Versuch nicht nur die einzelnen normativen Rollenmodelle wie „Ehefrau“, „Mutter“, „Witwe“ und „Regentin“ zu erzählen, sondern auch „Devianzen“, aufzuzeigen, Brüche und alternative Modelle und Möglichkeiten mit den Erwartungen zu spielen, sie zu umgehen, genauso wie eben jene auch zu erfüllen. Dabei wird auch das Spannungsfeld zwischen „heimatlichen“ Identitäten und familiären Loyalitäten aufgemacht und aufgezeigt. Auf diese Weise sollen „Spielräume“ aufgezeigt werden, die sich zwischen „konformem“ als auch „deviantem“ Verhalten bewegen aufgezeigt werden und z.B. der Komplexität nicht gerecht werdende Zuschreibungen bspw. von „Opferrollen“ der „Frauen“ vermieden werden. Begleitet werden auch diese einzelnen Rollenmodelle und Spielräume durch teils sehr spannende Ausstellungsstücke. Allerdings bleibt die Ausstellung auch hier an der Oberfläche. So werden die einzelnen Rollen nicht weiter ausgeführt oder historisiert. Anstatt zu fragen, inwieweit beispielsweise die Rolle „Mutter“ grundsätzlich sozialgruppenspezifisch aber vor allem auch historisch Wandlungen unterliegt, inwieweit sich also diese Rolle des 16. Jahrhunderts von der im 19. Jahrhundert und vor allem von derjenigen des modernen Betrachters unterscheidet, begnügt man sich auch hier mit gefährlichen Oberflächlichkeiten, die dazu führen anachronistische Vorstellungen in die Vergangenheit zu transportieren.
Was gilt es abschließend zu sagen? Die Ausstellung geht einen aber leider auch nur einen(!) Schritt des Weges in die „richtige“ Richtung, indem sie längst veraltete und methodisch und erkenntnistheoretisch nicht mehr haltbare historische Erzählungen aufbrechen will. Sie zeigt mit teils spannenden Ausstellungsstücken Spielräume und Rollenmodelle von „Herrscherfrauen“ im regionalen Rahmen Brandenburg-Preußens und versucht dessen Vergangenheit nicht nur als eine Geschichte der „Großen weißen Männer und ihrer Kriege“ zu erzählen, sondern auch als eine Geschichte der „Großen weißen Frauen“ und genau darin liegt das Problem. Bei aller Tendenz zu einem Aufbruch verbleibt die Ausstellung allzu oft den alten Konstrukten verhaftet. So bleibt der Blick den „Herrscherfrauen“, einer Perspektive „von oben“ verhaftet, ebenso wie einer gewissen Teleologie ereignishaften Erzählens, das zwar nicht mehr eine einzige Erfolgsgeschichte sein will, jedoch immer noch Ereignisse im Hinblick auf ein Ziel hin wertet. Ebenso verbleibt die Sprache diesen alten Erzählungen verhaftet, so wird die Geschichte der „Großen weißen Männer“ last but not least durch die weiterhin unreflektierter Verwendung von Beinamen wie Friedrich „der Große“ reproduziert, die den „Herrschern“, ob sie nun eine Vagina oder einen Penis haben zu denjenigen macht, die Vergangenheit aus sich selbst heraus zu bestimmen vermögen. Dazu gesellten sich in der Führung anachronistische und unzureichend bis gar nicht historisierte Begriffe und Konstrukte, die den Blick auf die Wirklichkeiten der Zeitgenossen verstellen, wie „Militär“ oder „Mutter“. Hinzu kommt und dies ist noch problematischer, dass es die Ausstellung unterlässt, die generelle Konstruktion von „Geschlecht“ zu thematisieren, geschweige denn zu hinterfragen, stattdessen nimmt sie „Mann“ und „Frau“ als Gegebenes und nicht als historisch Gewachsenes und „willkürlich“ Konstruiertes an. Gerade eine solche Thematisierung stellt den wichtigsten Beitrag einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive zum Ziele von Bildung (dessen einzig sinnvoller Kern kritisches Denken sein kann) dar. Ein Bildungsauftrag wird damit also kaum erfüllt und man kann behaupten, die Ausstellung steht einem solchen in vielen Teilen sogar entgegen.
Die einleitende Frage lässt sich also nicht ganz eindeutig beantworte: Ja, die Ausstellung beginnt einen längst überfälligen Prozess aber ebenso ist zu bejahen, dass sie dabei alte Fehler unter neuen Vorzeichen begeht. Inwieweit sie also zu unterstützen ist, hängt dann letztlich von der persönlichen Perspektive ab, von der Bewertung des Einen oder des Anderen als ausschlaggebend. Den Ausstellungsstücke selbst ist die Präsentation jedoch nicht anzulasten, sie zu betrachten lohnt immer, im Zweifel mit einem guten Buch zur Konstruiertheit von „Geschlecht“ oder von Vergangenheit zu Geschichte(n)…

Dienstag, 4. August 2015

Das anachronistische Gefühl und „Der gefühlte Krieg“ – Rezension zur Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen

Das anachronistische Gefühl und „Der gefühlte Krieg“ – Rezension zur Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen

Es ist ein zweischneidiges Schwert, dieser Bericht über die Ausstellung „Der gefühlte Krieg“, denn, so einfach die Bewertung in der Überschrift aufscheint, ist es eben doch nicht. Nicht, weil die Ausstellung dann vielleicht doch vieles „richtig“ macht, sondern vielmehr weil bei aller Kritik etwas auf dem Spiel zu stehen scheint, das sehr wichtig in der Museumslandschaft ist: der Mut Neues zu wagen. Genau das ist es auch, was diese Ausstellung in gewisser Hinsicht auszeichnet, im Positiven, wie im Negativen.
In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Geschichtswissenschaft viel getan, zumindest theoretisch oder besser, zumindest theoretisch in der Theorie. Alte Geschichtsphilosophien, die aus den Vergangenheiten als Geschehenem die Geschichten „Großer Weißer Männer (und ihrer Kriege um auf das Thema zu verweisen)“ machten, wurden abgelöst von Geschichten der Strukturen und schließlich von den Geschichten des Sinns und der Wechselwirkungen von sinn(re)produzierenden Akteuren und sinndeterminierenden Strukturen. Damit wandelte sich der Blick auf das, was als „wirkmächtig“ und „geschichtsträchtig“ erachtet wurde und löste eine ganze Reihe an Perspektivwechseln (genannt „turns“) aus, die der Komplexität menschlichen Handelns und menschlicher Vergangenheit Rechnung tragen sollten. Dabei wurden zugleich „liebgewonnene“ und als allgemeingültig erachtete „Gewissheiten“ hinterfragt, dekonstruiert, zerstört und damit zugleich der Weg bereitet für „neue“ Geschichten. Zu diesen vermeintlichen Gewissheiten gehört auch der Glaube an Gefühle als unveränderbar, als letztlich ahistorisch, als immer gleich. Die Geschichte, die dies hinterfragt, ist die Emotionsgeschichte, die zugleich Pate für diese Ausstellung gestanden haben dürfte. Dass sich ein Museum mit einer Ausstellung diesen „neuen“ und in vielen Teilen kritischeren Geschichten zuwendet, die zudem aufgrund ihres konstruktivistischen Untertons zugleich mehr bieten als bloße Wissensbestände, sondern das Potential haben zu kritischem als welt- und selbstreflexivem Denken anzuregen, indem eben gerade Gewissheiten hinterfragt und das Gegebene als Gewordenes erkannt werden kann, ist leider immer noch nicht selbstverständlich, sondern ein mutiger Schritt. Ein mutiger Schitt leider immer noch entgegen nicht zu unterschätzender Widerstände seitens sich hartnäckig am Leben erhaltender älterer geschichtswissenschaftlicher Strömungen und vor allem auch entgegen der Art und Weise von historischen Erzählungen wie sie im geschichtskundlichen Schulunterricht und in weiten Teilen populärer Geschichtskultur bestimmend bleiben. Dieser Mut gehört gewürdigt, zumal diese Ausstellung in zweierlei Hinsicht etwas „richtig“ macht. Erstens, sie greift ein höchst aktuelles Thema auf, die Emotionsgeschichte, die, das muss man zugeben, freilich qualitativ sehr unterschiedlich betrieben wird, nicht zuletzt weil jeder gern auf „neue“ Züge aufspringt, immerhin geht es um Förder- und Forschungsgelder. Zweitens, die Ausstellung kehrt auch dem Krieg der „Großen Weißen Männer“ den Rücken und sucht „Geschichte von unten“ zu betrachten, nicht normative Vorgaben und formulierte Ideale einer „Elite“ sind geschichtsmächtig, sondern der einzelne Akteur auch jenseits dieser „Eliten“ in seinem alltäglichen Handeln. Insbesondere dieser kommt im wahrsten Sinne „zu Wort“, ihm wird eine „Authentizität“ zugesprochen, die über jene der „Großen“ hinaus geht und genau hier liegt eines der großen Probleme der Ausstellung, auf das noch eingegangen werden muss.
Das Hauptproblem jedoch besteht darin, die Grundkategorie der eigenen Geschichte die man in der Ausstellung konstruiert letztlich durch einen unzureichend reflektierten und thematisierten Anachronismus scheitern zu lassen und damit die Chance auf eine „wirkliche“ Geschichte von Gefühlen und Krieg zu vereiteln, die in mehr bestehen kann als einer Geschichte der Gefühle des Krieges des Besuchers, die sich selbst verschleiert. Aber der Reihe nach.
„Kein Krieg ohne gesteigerte Emotionen“ lautet das Postulat am Beginn der Ausstellung, das diese zugleich legitimiert. Es gehe um die Rolle von Gefühlen im Krieg. Dieser emotionsgeschichtliche Blick soll dabei anregen, Krieg neu zu denken, neu über ihn zu reflektieren. Unterstützt wird dieses Vorhaben durch künstlerischer Installationen und Arbeiten, die das emotionale (Er)Leben im und zum Ersten Weltkrieg spiegeln und fassbarer machen soll. Ein solches Vorhaben scheint vielversprechend, eine Geschichte des Krieges durch die „Brille“ der Gefühle der Teilhabenden, in der zugleich eine Geschichte des Fühlens überhaupt erscheint, ja erscheinen muss! Aber genau dies ist der elementare Fehler der Ausstellung. Es ist eben keine Geschichte des Fühlens, die letztlich die Voraussetzung sein muss, um das Fühlen im Ersten Weltkrieg erfassbar zu machen, es ist eine Geschichte des Fühlens der Besucher, des Anachronismus des Fühlens.
Fühlen hat eine Geschichte, Gefühle haben eine Geschichte, Krieg hat eine Geschichte. Auf all dies wird jedoch nicht eingegangen. Was bedeutet eigentlich „Angst“ für den „einfachen Soldaten“ um 1916, was für seine daheimgebliebene Frau? Was bedeutet „Vaterlandsliebe“, wie wurde diese gelebt abseits der in Ausstellungsstücken präsentierten Propaganda? All dies sind Fragen, den sich praktisch nicht gestellt wird, die aber zentraler Kern eines „Gefühlten Krieges“ sein müssen. Begriffe wie „Angst“ und „Vaterlandsliebe“, sowie generell Emotionsbegrifflichkeiten unterliegen einem historischen Wandel: „Angst“ ist eben nicht gleich „Angst“. Gleiche Vokabeln verschleiern dies und gerade deshalb wäre es nötig gewesen, als allererstes das Thema „Gefühl“ überhaupt in seiner Historizität zu thematisieren. Stattdessen erscheinen in allen präsentierten Quellen die Gefühle oder besser das Verständnis der jeweiligen konkreten Gefühle, der Besucher auf. Die „Angst“ im „Krieg“, die „Liebe zum Vaterland“, die „Ehre“ und „Sehnsucht“ sind die Gefühle der Besucher, nicht diejenigen der durch die Quellen Sprechenden. Daran ändern auch einzelnen Ausstellungsteile nicht, die zeitgenössische Angstbewältigungsmechanismen präsentieren, diese können so nur als „skuril“ erscheinen, denn die Gefühle zu denen diese Praktiken gehören sind eben andere. Unterstützt wird dieser Anachronismus dabei noch durch die Bearbeitung durch zeitgenössische Künstler, die eben nicht das historische Gefühl verarbeiten, sondern ihre eigene Interpretation einer „Angst“ in ihrer Interpretation von „Krieg“, die zwar durchaus auf einer geschichtswissenschaftlichen Erzählung von „Krieg“ fußen kann (der übrigens in seiner Historizität auch dringend thematisiert werden müsste, ebenso wie der Zusammenhang „gesteigerter“ Emotionen und „Krieg“) aber auf diese Weise das Thema nur noch mehr verwirrt, denn es sind nun nicht mehr die „modernen“ Gefühle zur modernen Vorstellung von „Krieg“, sondern „moderne“ Gefühle zu einer historischen Erzählung von „Krieg“.
Die durchgehend sehr sparsame Beschriftung und Erklärung der Exponate trägt freilich ihr Übriges zu einer „modernen“ alltagsweltlichen Interpretation des Fühlens im Ersten Weltkrieg bei. Dies ist umso drastischer, als dass auch den Schreibenden Akteuren bspw. der Briefe und Postkarten von der „Front“ eine große Authentizität zugestanden wird, allein bereits dadurch, dass ihr Schreiben als Teil eines Diskurses von „Frontbriefen“ nicht thematisiert wird. Mit anderen Worten wäre allererst zu fragen, welchen Diskursen sie folgen wenn sie schreiben, welche Regeln existieren, welche Begründungen für spezifische Stile. Nicht zuletzt wäre ein wichtiges Thema die Frage danach, inwiefern das Schreiben oder generell Ausdrücken eine Gefühls dieses Gefühl ist, dem Erleben folgt, es erst hervorruft oder gar ohne es auskommt. Das Schreiben vom „eigenen“ Fühlen ist wie das Fühlen selbst historisch, sozial, kulturell und biographisch bedingt, es steht im Austausch mit einem „tatsächlichen“ Fühlen ohne es zu sein und es erfüllt Funktionen, hat Bedeutungen auch im Krieg aber auch diese trägt es eben nicht „offen“ zu Schau, sondern muss erst erschlossen werden und kann daher in einer Ausstellung nicht für sich selbst stehen ohne mindestens anachronistische Interpretationen zu provozieren.
Was bleibt also? Die Ausstellung ist ein Versuch neue Themen zu erschließen und daher wichtig. Sie bietet interessante Ausstellungsstücke zum Ersten Weltkrieg und eine wichtige Perspektive „von unten“, die es vermag zumindest eine Geschichte der „Großen Weißen Männer“ zu umgehen und vielleicht zu hinterfragen. Was fehlt ist eine Thematisierung des Fühlens und seiner Historizität selbst, der Normen und Diskurse des Fühlens, des Redens, Schreibens oder anderweitigen Ausdrückens des Fühlens. So wichtig die Zuwendung zu solchen Themen ist, nicht zuletzt weil sie es mehr als andere Geschichten schaffen könnten zu bilden statt nur wissensbulimisch vermeintliche Fakten zu vermitteln, so sehr kann sie auch fehlgehen, wenn dem einzelnen Soldaten in seinem Ausdruck per se „Authentizität“ zugesprochen und sein Fühlen dabei klammheimlich durch anachronistische Deutungen modernisiert wird. Was bleibt ist dann nur das Fühlen des Besuchers, eine eigene spannende Geschichte wert aber nicht zum Preis des Fühlens des historischen „Anderen“.

Sonntag, 12. Juli 2015

Die Überheblichkeit der Vereinfachung - das Beispiel Freital

Freital und anderswo. Schrecklich. Abscheulich. Unendlich ungerecht was dort den Flüchtlingen seitens Teilen der Bevölkerung entgegengebracht wird.
Es ist abzulehnen, zu bekämpfen, zu verabscheuen. Aber zu vereinfachen? So liest man allzuoft Beiträge, die diese euphemistisch so bezeichneten "Flüchtlingsgegner" entweder als "besorgte Bürger" verharmlosen oder aber sie als "dumm" und "böse" inszenieren. Um Letzteres soll es hier gehen. Diese Zuschreibung macht es nämlich so schön einfach. In der Erklärung der "Dummheit" und "Boshaftigkeit", gern auch "Mitleid- oder Fühllosigkeit" lässt sich so schnell die Ursache ausmachen und zugleich schafft dies eine Wirklichkeit, in der man selbst nie zu "jenen" gehören könne, es a priori ausschliesst, denn man selbst sei ja weder "dumm", noch "böse", noch "mitleidlos". Der Wunsch nach absoluter Abgrenzung ist verständlich und liegt in der emotionalen Abwehr dieser Denk- und Handlungsmuster begründet, die durchaus eine wichtige Bedeutung hat. Aber dies offenbart auch eines der Grundprobleme, den diese Überheblichkeit mit den "Flüchtlingsgegnern" teilt.
Letztere sind nicht "dumm", "böse" oder "mitleidlos", sie sind vor allem wenig gebildet und teilen dies mit denen, die diese leichten, einfachen Lösungen die diese Zuschreibungen sind, häufig nutzen.
Menschen handeln, weil sie spezifische Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl und Handlungsmuster erlernt und u.a. mit Hilfe sozialer Prozesse emotional abgesichert haben oder anders, weil sie spezifischen Wirklichkeiten
folgen. Genau dies trifft aber grundsätzlich auf beide Seiten zu. Freilich unterscheiden diese sich im Ergebnis, die eine ist erträglicher als die andere aber keine von beiden ist "rationaler", "reflektierter" oder bringt eben solche Akteure hervor. Sie beide basieren auf den selben Mechanismen und Prozessen. Eben jene Prozesse sind dabei überall zu sehen, nicht nur selbst auch bei facebook, sondern insbesondere auch hier.
Wirklichkeiten werden eingeübt, verteidigt, sozial sanktioniert, Exklusivität wird geschaffen, Abweichendes bestraft, spezifische Wirklichkeiten hegemonialisiert, verabsolutiert.
Wir alle sind aktiver und passiver Teil solcher Prozesse. Welche Wirkungen und Wirklichkeiten entstehen hängt damit maßgeblich von den sozialen Gruppen ab, in denen wir diese erlernen und von den Grundbedigungen, die wir zum Durschauen von uns selbst als Akteur und den sozialen und kulturellen Prozessen, mitbringen, erlernt haben.
Nur Bildung, verstanden als kritisches Denken, kann diesen Prozess aufbrechen, Verabsolutierungen und Naturalisierungen von Wirklichkeiten verhindern. Aber diese Bildung wird nicht in der Schule erlernt,
nicht in der Ausbildung und kaum im Studium. Der Sinn unserer Bildungseinrichtungen ist die Vermittlung von Funktionswissen, das Erlernen von genau so viel Wissen und damit auch spezifischer Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die eine Reproduktion der Gesellschaft und ihrer Produktivität erlauben. Bildung ist in dieser Hinsicht kontraproduktiv, sie erzeugt Unbequemlichkeiten, Störungen des Systems und dies nicht nur partiell wie an dem Beispiel einer damit letztlich in Kauf genommenen Gewalt und Abwehr gegen Flüchtlinge, die ohnehin "Andere" treffen, nicht durch die Gesellschaft und ihre Exklusivität erzeugte "Eigene", sondern beständig.
Was bedeutet dies nun? Es bedeutet, dass die Zuschreibungen wie "dumm", "böse" oder "mitleidlos" nicht mehr sind, als einfache Bewältigungsmuster die die eigene Unschuld sicherstellen wollen und eine Überheblichkeit transportieren, die das Selbst als entgegen dieser Zuschreibungen konstruiert, damit aber übersieht, wie Wahrnehmen, Denken und Handeln erlernt werden und funktionieren. Es bedeutet freilich auch, dass gegen die Handlungen dieser "Flüchtlingsgegner"
ein große emotionale Abwehr existiert, es also alternative Wirklichkeiten gibt, die erträglicher sind und die es zu befördern gilt. Es heisst aber auch, dass wir uns bewusst sein sollten, wie unsere eigenen fragilen Wirklichkeiten entstehen und auch vergehen können. Es bedeutet, dass wir handeln müssen, strafen, kämpfen, ändern, dass wir wütend sein müssen, abgestoßen, angeekelt aber dabei nie ohne Bedauern, immer ohne Hassen und immer bewusst, dass auch das, was wir als Selbst begreifen, unsere Abwehr, unser Mitleid und unsere "Offenheit" Dinge sind, die wir erlernt haben, bedingt durch die sozialen Zugehörigkeiten, durch Exklusivitäten, die wir selbst jeden Tag mitschaffen und uns dabei Prozessen bedienen, die ebenso ursächlich für das sind, was hier bekämpft wird.
Schlussendlich bedeutet es vor allem das Kernproblem zu schauen und zu bekämpfen, in uns wie in allen anderen, den Mangel an Bildung als kritischem Denken.

Montag, 8. Juni 2015

Atheismus als Religion

Der Glaube, die Aufgabe von Gott als Lenker der Welt, hätte uns "befreit" ist nichts als ein Irrglaube, ein selbstgerechtes, selbstverliebtes Statement. Die Verunsicherung, die der Wegbruch fester Werte und damit Sicherheit, erzeugt hat, wurde durch das Dogma der Natur gefüllt.
Aus ihr selbst heraus sollten nun die Gesetze des Lebens und das Gute der Welt erkannt und legitimiert werden.
Dieser neue Irrglaube wirkt bis heute in erschreckender Weise nach. Das vermeintlich Natürliche der Welt und des Umgangs des Menschen mit sich und ihr, das letztlich nicht mehr ist als das alltäglich Sichtbare, dessen soziale und kulturelle Konstruktion geleugnet oder negiert wird, ist nun der Maßstab und der Grund der neuen Werte geworden. Eine solche Weltkonstruktion und ihre Werte leben von Naturalisierungen sozialer und kultureller Mechanismen und einer durch und durch positivistischen Sichtweise.
So wie die soziale Hierarchie in der Frühen Neuzeit durch das Beobachten scheinbar natürlicher, jedoch sozial eingeübter und unter bestimmten Vorstellungen gedeuteter Verhaltensweisen gerechtfertigt wurde, so wird auch heute noch die Superiorität des "Menschen" gegenüber dem "Tier" festgeschrieben.
Die Möglichkeit dessen ergibt sich nicht zuletzt aus einem Missverständnis, das darin besteht, alltägliche Beobachtungen als quasi naturwissenschaftliches Testsystem zu deuten.
Dabei handelt es sich jedoch nur um eine lebensweltliche und nicht wissenschaftliche Beobachtung, die ihre eigenen Vorannahmen übersieht und die das Bestehende somit nur bestätigen kann, bereits deutet statt beobachtet und antwortet statt fragt.
Dies ist möglich aufgrund des inszenierten alltagsmenschlichen Selbstverständnisses als vernünftiges und praktisch immer zum reflektierten Selbstdenken fähigen (und damit allezeit wissenschaftlich beobachtenden) Wesen, sowie der Verleugnung des Werts von Sozial- und Geisteswissenschaften und der Superiorität naturwissenschaftlicher Forschung oder in diesem Sinne einer abgespeckten, selbstkritikfreien Version dessen.
Ursache dieses Umstands ist der weit verbreitete Irrtum des s.g. "Naiven Realismus" als der Idee, dass die Welt so ist, wie sie sich uns in unserer Wahrnehmung darstellt. Die "Realität", oftmals die Problematik verschärfend normativ aufgeladen und als "Normalität" gesetzt, wird so zur Begründung des Handelns. Diese ist jedoch nicht mehr als ein Konstrukt, ein Ideal, dass sich aus einem möglichen Ausschnitt der (Be)Deutungsvielfalt herausschält und ihrerseits die Wahrnehmung der Welt prägt. Diese Konstruktion erfüllt zum Einen den Sinn, dem Chaos der Vielfalt zu entkommen und Handlungsfähigkeit zu erzeugen und zum Anderen, um Gemeinschaft über eine gemeinsam konstruierte und bestätigte Wirklichkeit zu schaffen. Dabei bildet diese Normalitätskonstruktion nur ein Ideal, eine Bedeutungsnetzwerk an Möglich- und Verbindlichkeiten, aus dem sich je unterschiedlich stark die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bedienen.
Neben "traditionellen Religionen" setzt sich so ein anderes Glaubenssystem, eine andere Wirklichkeit, eine andere Konstruktion von Welt, die als quasi-religiös zu bezeichnen ist, ebenso basierend auf Dogmen von "Natürlichkeit", "Rationalität" und "Autonomie", die in das Selbstbild des glaubenden Säkularisierten eingeschrieben sind, gruppiert um je spezifisches "Heiliges" wie "Familie", "Arbeit", "Freiheit", das postuliert wird, affektiv aufgeladen ist, angenommen statt hinterfragt oder begründet werden soll und auf die es stützendenden grundsätzlichen dogmatischen Glaubenssätze angewiesen ist.
Als Mittel zu deren Absicherung werden die zu den s.g. "Naturwissenschaften" konstruierten Forschungsbereiche gebraucht oder vielmehr deren vereinfachte und selten verstandene Konzepte, die Teile und vermeintliche Basis des zeitgenössischen "atheistischen" Glaubens bilden, jedoch nur soweit sie allgemeinverständlich scheinen und den jeweiligen Glauben stützen.
Doch auch hierbei zeigt sich der Irrglaube, denn auch "Naturwissenschaften" bilden keine "Realität" ab, sondern erzählen uns von einer Wirklichkeit, die sie selbst mitschaffen. Realität abzubilden würde voraussetzen sie außerhalb von Wahrnehmung zu erfassen, da jede Wahrnehmung, gleich durch welche "Brille" oder durch welche "Instrumente" sie erfolgt bereits eine Konstruktionsleistung ist, die von der jeweiligen vorhergehenden Wirklichkeit abhängig ist. Da uns nur die Wahrnehmung bleibt, durch die wir Welt erfahren können, bieten uns auch die Naturwissenschaften nur Konstrukte an, die sie mit Bedeutung ausstatten, zu Narrativen machen. Nur wenn wir den Glauben an die Wahrheit der Naturwissenschaften endlich auch allgemein aufbrechen, haben wir eine Chance die Geisteswissenschaften wieder aufzuwerten, die in ihrer Selbstreflektion bereits weiter vorangeschritten zu sein scheinen...Was dabei entsteht muss keine Verunsicherung sein, sondern eine Wissenschaft, die das Mögliche außerhalb ihrer bisherigen Narrative zu denken imstande ist. Auch entsteht daraus kein Chaos, sondern die Möglichkeit des Schaffens, wenn wir uns nicht mehr auf je spezifische Wahrheiten als Natürlichkeiten berufen können, mit denen wir mit dem Schwert des Zeitgeistes gegen das "Andere" zu Felde ziehen.

Dies heisst nun nicht, dass wir in einen Relativismus verfallen dürfen oder müssen. Es heisst lediglich im Sinne kritischen Denkens die eigene Wirklichkeit zu hinterfragen und geeignetere Bewertungskriterien zu finden als jene nach einer größtmöglichen Passung mit einer nicht existierenden (bzw. nicht zugänglichen) Realität, deren Mangel traditionellem Glauben angeheftet wird. Diese neuen Bewertungskritieren richten sich dabei ihrerseits nach der Funktion. Für die Psychotherapie ist das Auswahlkriterium für eine Wirklichkeit ein erträglicheres Leben für das Individuum, für generelle, in diesem Sinne moralischere Handlungsweisen, ist es die Ethik selbst, die das Kriterium stellt. In diesem Sinne steht die Forderung nach einer Ethik, die sich als Methode und nicht als Normenkatalog und damit als eigenständige Wirklichkeit präsentiert.
Die Frage ist damit nicht, ob "Religion" abzulehnen ist, ob sie "wahr" oder "falsch" ist, sondern welche "Religion", ob säkular oder nicht, die "richtige" ist, um eine solche Wirklichkeit zu schaffen.

Sonntag, 7. Juni 2015

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele IX

Die Forderung "Wissenschaft" habe sich "allgemeinverständlich", was immer nur heisst "so dass ich es gerade jetzt verstehe" und damit eine egozentrische Reduktion darstellt, auszudrücken, ist ein zweischneidiges Schwert, das das Wesen des je unterschiedlichen Sprechens gefahrvoll übersieht. So sinnvoll diese Forderung zum Ziele eines Höheren ist, so problematisch ist sie. Das Wesen der Alltagssprache ist die notwendige Reduktion, die Vereinfachung der Welt. Das Wesen des wissenschaftlichen Sprechens ist die Erfassung der Welt in ihrer Komplexität. Wo immer wir daher eine Vereinfachung ausserhalb des erwähnten Zwecks vornehmen, werden wir immer in die Gefahr je spezifischer Ismen blicken müssen, die in der die jeweilige Wirklichkeit beschreibend schaffenden Sprache angelegt sind. Eine alltagsweltliche Vereinfachung zur Wahrnehmungs- und Handlungsoptimierung der Sprache ist damit mitursächlich für Rassismus, Sexismus und Speziesismus.

Wer glaubt, dass "wir" in einer grundsätzlich freiheitlichen, pluralistischen und offenen Gesellschaft leben, der irrt eben so grundsätzlich.
Offenheit und Pluralismus, die Zulassung alternativer Wirklichkeiten, gelten nur so lange, wie sich diese alternativen Wirklichkeiten auf ästhetische Fragen einengen lassen, sie nicht das "Heilige" der Gesellschaft oder das System infrage stellen. Wo immer dieses "Andere" darüber hinaus geht, greift der Totalitarismus jedweden Systems. Es greift die Folter, verstanden als als Zwang empfundene, durch emotionales Leid begleitete, gewaltsame Forderungen nach Konformismus, wie sie sich versteckt in jedweder Sozialisation und offen abscheulich im Strafsystem finden lassen.
Pluralismus ist nur da erlaubt, wo er zahnlos, bedeutungslos bleibt und nur der Idealisierung des Systems als vermeintlich pluralistisch und freiheitlich dient.
Mit anderen Worten darf zwar jeder entscheiden welche Musikrichtung er hört, so lang diese nicht das System gefährdet aber zu entscheiden, ob eine Handlung einer Behörde der eigenen Würde widerspricht, darf nur so weit behauptet werden, wie davon eine allgemein anerkannte Würde, derer wir alle teilhaben dürfen und müssen, betroffen scheint.
Ein wirklich gerechtes System, welches zwar notwendig seine Grenzen des Pluralismus finden muss, muss als solches zugleich den Spagat zwischen einem wirklichen Pluralismus als Patchwork der Minderheiten im Sinne Lyotards und gleichzeitigem Universalismus dessen Grundlage nur eine ethische Methode sein kann, wagen.
Nur eine Gesellschaft, die beständig offen gegenüber allen Wirklichkeiten ist, deren hegemoniale Wirklichkeit als immer prima facie gefasst wird, die beständig und immer von jedem hinterfragbar sein muss, kann überhaupt daran denken, dies nur im Ansatz leisten zu können. Und nur ein solches System kann aus ethischer Sicht legitim sein.

Eine diskriminierungs- und gewaltfreie Sprache existiert nicht auch wenn die Alltagsnaivität auf der Suche nach ihr sein kann. Es ist die Funktion von Sprache zu diskriminieren. Sie soll Unterschiede durch Benennung generieren, als solche bewerten und so die Welt wertend ordnen. Für jeden Unterschied fällt eine Gemeinsamkeit und umgekehrt. Jedes Wort wählt aus und erzeugt in der Auswahl wechselseitig zur Wahrnehmung eine spezifische Wirklichkeit die sich wie jede in einem sprachlichen Gewaltakt und durch soziale Prozesse hegemonial setzt. Dies heisst jedoch nicht jedes Sprechen gut. Es verschiebt nur den Fokus vom Glauben einer solch freien Sprache hin zur Suche nach spezifischen und beständig kritisch zu begründenden wertenden Unterschiede.

Samstag, 6. Juni 2015

Rezension. Klappe die Erste....Mad Max Fury Road

Da auch "Popkultur" Teil des Lebens, Teil des Seins und Teil der Sinntruktur ist, bietet es sich an, auch darüber zu schreiben, freilich unter einem spezifischen Fokus, der an diesem Beispiel besonders aufscheint. Nicht Zweck, sondern Mittel, quasi Medium ist das mediale Ereignis hierbei...In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen...

Hm...okay...nunja, Mad Max – Fury Road...Was soll ich sagen. Zuerst einmal, der Film hat etwas, er ist ganz gut, hat mir gefallen aber meine Erwartungen wurden dann doch in einigen Bereichen enttäuscht, Erwartungen, die er allerdings nicht selbst geweckt hat oder geweckt haben wollte. Diese kamen aus einer ganz anderen Richtung. So sah sich anlässlich des Films mal wieder der intellektuelle Bodensatz der s.g. Zivilisation genötigt, sich zu äußern. Der Film sei „feministische Progaganda“, „männerfeindlich“ und „sollte boykottiert werden“. Mein Interesse war freilich mehr als geweckt. Wie sollte ein solcher Film nicht genial werden? Ich musste ihn sehen, konnte es nicht erwarten. Nach dem Sehen nun allerdings die Enttäuschung. Wo bitte war der Film „feministische Propaganda“? Oder anders gefragt, wo ging dieser angebliche „Feminismus“ über einen primitiven, infantilen „Feminismus“ hinaus, der ein genuin „Weibliches“ konstruiert und als positive, revolutionäre Norm einem scheinbar zum Grotesken gesteigerten „Männlichen“ gegenüberstellt und sich so selbst eines Sexismus schuldig macht? Freilich, ganz so einfach macht es sich der Film auch nicht. Zumindest verweigert er sich einer Zwangszuweisung dieses „Weiblichen“ als „gender“ an ein konstruiertes Geschlecht im Sinne von „sex“ und denkt es als mögliche Formen von Sozialisation, so dass auch ein „Mann“ dem Attribut „Fürsorge“ teilhaftig werden kann, wie auch eine Frau der „Gewalt“. Leider bleibt der Film auf dieser oberflächlichen Ebene stecken und konstruiert dieses „Weibliche“ als „Fürsorgliches“, „Lebenserhaltendes“ aus einem genuin weiblichen Körper. In diesem wird es gebildet, dieser ist ihr Ursprung, aus diesem kann es sich entfalten und auch den „männlichen Körper“ „befallen“. Indem also dieses genuin aus dem „Weiblichen“ stammende „Weibliche“ als Gegenentwurf eines genuin „Männlichen“ gesetzt wird, verbleibt der Film in einem ekelhaft konservativen „Feminismus“, der vielleicht als Entwicklungsstufe notwendig war, sich aber mittlerweile überlebt haben sollte.
Und auch in anderer Hinsicht blieb Enttäuschung zurück. Wenn schon nur ein oberflächlicher „Feminismus“, dann doch wenigstens Neues in den Sehgewohnheiten, ein Bruch mit den alten? Leider nein. Den „weiblichen“ Helden gibt es ebenso bereits als Topos, wie den nicht mehr uneingeschränkt „guten“. Und auch der Versuch eines ästhetischen „Häßlichen“, einer „Weiblichkeit“ jenseits von Arsch und Titten ist nicht neu. Gut, Charlize Theron fehlt ein halber Arm, sie hat ne Glatze und schmiert sich Öl ins Gesicht aber sie bleibt Charlize Theron, eine „Frau“, die durchaus konventionell im Spektrum des „Attraktiven“ bleibt. Auch ist das Modell einer „Weiblichkeit jenseits der Sexyness“ spätestens seit Alien erprobt. Was bliebe noch? Der eigentliche Titelträger des Films der zur Nebenfigur wird. Auch das wurde bereits vorher genutzt, z.B. im großartigen „Der letzte Mohikaner“. Allerdings ist es auch hier wieder nicht ganz so einfach. Immerhin ist „Mad Max“ wichtiger Impulsgeber und eines der beiden Aushängeschilder einer neuen „Männlichkeit“, die „weibliche“ Attribute aufnehmen kann. Aber gerade seine Impulse sind ein weiteres Problem und schließen den Kreis zur ersten Enttäuschung. Schließlich ist er es, der der „weiblichen“ Revolution als solche zum Start verhilft. So ist es doch wieder ein „männliches“ Hegemonialitätsstreben, das das „Weibliche“ zur Norm zu erheben vermag. Auch eine Charlize Theron, auch das „Weibliche“ als Alternative, auch die „Fürsorge“ und das „Leben Erhaltende“ sind so letztlich wieder einem spezifischen „Männlichen“ unterworfen.
Was bleibt also als Fazit. Nun, Fury Road ist ein alles in allem guter Film, ich mag ihn, wirklich, auch wenn mir das Verhältnis „Effekt : Inhalt“ etwas zu einseitig war und der Film nicht allzu viel zu erzählen wusste.
Das zweite wichtige Fazit, das ich aus diesem Film erneut ziehen kann ist, dass bloß weil eine Horde Idioten sich von einem Film in ihrer Idiotie bedroht fühlt, heisst dies nicht, dass der Film Besonderes oder Innovatives zu bieten hat, es heisst nachwievor einfach nur, dass es Idioten sind.

Montag, 25. Mai 2015

Land der Dichten und der Henker - Peter Singers Ehrung in Berlin

Morgen am 26.05.2015 ist es soweit. Die Verrohung der Sitten, der Verfall der abendländischen Moral und der Untergang christlicher Werte erreichen ihren Zenit: Peter Singer kommt nach Deutschland und wird für seine Arbeit geehrt. Aber wer war das nochmal und was hat er so schlimmes getan. Nun, er ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Philosophen, wird als Begründer der Praktischen Ethik bezeichnet und ein Vorreiter im Bereich der Tierethik und, jetzt kommts, einer säkularen Sterbehilfedebatte. Und genau Letzteres macht ihn zum Teufelsadvokaten. Singers Position, die sich in den 70ern formt, geht dabei eben nicht von einer Heiligkeit des Lebens aus, sondern versucht in einer Zeit, in der es möglich ist, Leben immer länger zu erhalten, Kriterien zu finden, die sowohl die positiven Seiten dieser Entwicklung beachten aber gleichzeitig die Zwangsläufigkeit einer Maßnahme nicht aus ihrer Möglichkeit generieren will. Mit anderen Worten stellt er die Frage, ob nicht verschiedene Formen von Sterbehilfe in manchen Fällen nicht moralisch gebotener sind als eine Ausreitzung des Machbaren im künstlichen Erhalt von Leben, insbesondere wenn dies mit grossem Leid der Betroffenen einhergeht. Der Clou dabei ist, dass "findige" Journalisten auf die tolle Idee kamen seine Idee so zu vereinfachen und zu verzerren, dass dabei raus käme, "Singer will Behinderte töten". Verkauft sich ja auch besser als eine fundierte und kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk. Und als Journalist ist man ja auch zum Schreiben da und nicht zum Lesen oder Denken...Das Problem potenziert sich freilich in den heutigen Zeiten von facebook und twitter noch. Bei Letzterem hat man ja eh nur wenige Zeichen und zu verlangen mehr über ein Thema zu lesen als ein oder zwei Sätze wäre freilich intellektuelle Überheblichkeit...Und so springen alle fröhlich auf den Zug zur Hexenjagd. Endlich wieder etwas das uns Deutsche eint.

Dass es bei der Verleihung nun gar nicht mal darum geht, ist freilich zweitrangig. Ebenso obligatorisch ist die erwähnte Erkenntnis sein Werk nicht gelesen haben zu müssen. Wozu auch, wenn es nichtmal die Medien und Politiker tun. Zur Begründung nehmen wir ein anderes Beispiel. Krieg und Frieden. Nie gelesen. Warum auch. Das Wort "Krieg" ist in Deutschland schwer belastet und Krieg ist ohnehin nichts Gutes. Wer über Krieg schreibt, muss also ein böser Mensch sein...
Aber wieder zu Singer. Der spricht ja auch über etwas ultimativ Böses. Und das in Deutschland. Deswegen wird es auch mal wieder Zeit, dass sich eine Horde Deutscher gegen ihn als Jüdischstaemmigen zusammenrottet, seine Bücher verbrennen will, ihm die Einreise verweigern, ihn schlagen, ihm das Reden verbietet und ihn als Nazi beschimpft. Das ist dann auch das intellektuelle Niveau auf dem sich die Singerkritik außerhalb akademischer Kreise auch in aller Regel bewegt. Und ja, richtig gelesen. Man kann Singer kritisieren. Ich selbst habe es schon getan. Nur habe ich freilich den Fehler gemacht, dies auf Basis seiner Werke getan, was mich anscheinend quasi automatisch zu einem Mitwisser und damit Mittäter macht, noch dazu, weil ich ihm bei aller Kritik nicht abspreche Wichtiges geleistet zu haben. Aber so ist das eben im Land der Dichten und der Henker, deren intellektuellem Niveau und Aktionismus man sich allzu gern unterwirft. Leben darf hier verlängert werden, man darf sogar darüber sprechen aber das Sterben leichter zu machen, egal in wie wenigen Fällen und wie begründet, das ginge zu weit. Das ist hierzulanden Menschlichkeit.


                                           

Mittwoch, 20. Mai 2015

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele VIII

Letztlich sind "Rassen", "Geschlechter" und "Spezies" ziemlich genau wie Einhörner, nur viel hässlicher. Sie existieren als eine Vorstellung an der wir uns aus unterschiedlichsten Gründen festhalten und nur solange wie wir an sie glauben. Nur wo wir diese quasi magischen (oder sagen wir "heiligen" im Sinne Durckheims) Dinge als gegeben konstruieren, können Sie unsere Welt bestimmen. Wir alle brauchen Dinge an denen wir uns festhalten und die uns Orientierung bieten aber so wenig wie dies Einhörner sein müssen, so wenig gibt es einen Zwang zu einer Aufteilung in die oben erwähnten Begriffe. Und so wenig es sinnvoll erscheinen mag, sich wegen Einhörnern die Rübe einzuhauen, so wenig sinnvoll ist es auch im Bereich von "Geschlechtern", "Rassen" und "Spezies". Identitäten und Welten funktionieren auch sehr ohne diese vier Dinge. Nur bei den Einhörnern bin ich mir da nicht ganz sicher...

Warum handeln wir wie wir handeln? Weil wir gelernt haben so zu handeln. Warum bleiben wir bei diesem Handeln? Weil wir emotional daran gebunden sind, weil wir fühlen wie wir handeln sollen. Das Fühlen selbst ist jedoch kulturell bedingt, erlernt, ein Konstrukt. Und so offenbart sich eines der größten Schwierigkeiten einer Ethik. Wir brauchen eine abstrakte Ethik basierend auf universeller Begründbarkeit als Rechtfertigungsinstanz um dem Relativismus zu entkommen aber diese hat selbst keine motivationale Kraft. Das Fühlen muss die Basis für das Handeln, seine Stütze sein, zugleich darf es aber nicht dessen Begründung bleiben.

Die Angst vor dem Tod ist letztlich nur der Wunsch die Gegenwart zu erhalten und weiterhin Erfahrungen zu machen.
Der Wert bezieht sich dabei auf das gegenwärtige Erfahren oder anders, das Erfahren der Gegenwart, den Erhalt des Bewusstseinstroms, des Zeitfensters, in dem sich Gegenwart vollzieht und dafür ist kein intellektualisiertes Todesverständnis nötig.
Dies ist der Grund, warum auch allen Tieren ohne Zukunftsbewusstsein ein Lebensrecht zugesprochen werden muss. Wenn gegenwärtige Erfahrungen, die nie einen punktuellen Moment markieren, sondern vielmehr immer schon zeitlich ausgedehnt sind, als das eigentlich Wertvolle bezeichnet werden müssen, dann sind sie es für alle, die dazu fähig, die Subjekte eines Lebens sind und dann sind alle Wesen, die zu Erfahrungen fähig sind, alle diese Subjekte des Lebens dem grundsätzlichen moralischen Recht auf Leben teilhaftig.

Neben vielen anderen Möglichkeiten wird auch das Zeitbewusstsein als legitimierende Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, bei genauerem Hinsehen müsste man jedoch zwischen Person und Nichtperson, sagen, genutzt. Zeitbewusstsein in seiner Ausprägung als Bewusstsein von einem Selbst in der Zeit und damit der Selbstentwurf in der Zukunft wird als Grenze für (schmerz-, bzw. leidlose) Tötung angenommen. Aber welchen Sinn hat diese Grenze? Letztlich ist der Entwurf des Selbst in der Zukunft ursächlich durch den Wunsch das Unvermeidbare zu vermeiden geprägt und paradoxerweise von einer Überbetonung der Gegenwart. Wenn von einem säkularen, allein im Diesseits gelegenen Leben auszugehen ist, so sind sowohl das Selbst, das maßgeblich eine Ansammlung von Erlebnissen, deren Verarbeitung und entsprechenden Dispositionen ist (um es sehr zu vereinfachen), als auch dessen Entwurf in der Zukunft insofern unsinnig, als die Löschung dieser Erinnerung unvermeidbar ist. Ob ein Individuum eine oder tausende Erfahrungen macht ist, retrospektiv betrachtet, aus subjektiver Sicht immer belanglos. Der hinter der Idee stehende Wunsch ist zudem vielmehr auf die Gegenwart gerichtet und entspringt einem "Weiterleben-wollen", das notwendig die Gegenwart betonen muss, da, um sinngemäß Alatriste im gleichnamigen Film wiederzugeben, wir in der Zukunft alle tot sind.
Es ist nun also so, dass die auf das Subjekt bezogene Konzeption des Zeitbewusstseins wenig Sinn macht, vielmehr ist ihr Kern die aktuelle emotional verkettete Wollensfähigkeit, die die Grundlage einer ethischen Beurteilung eines Tötungsverbots stellen könnte. Dies gilt umso mehr, als dass auch völlig in der Gegenwart existierende, bewusste Lebewesen ein Stück in die Zukunft weisen. Dieser Umstand wird durch ein falsches Verständnis des Terminus Gegenwart verschleiert, denn auch diese bezeichnet einen sich in der Zeit, sowohl in Zukunft, als auch Vergangenheit, erstreckenden Bereich, der nicht auf einen Moment reduzierbar ist.
Aus diesen Gründen sollte ein Tötungsverbot bei der Wollensfähigkeit ansetzen, die sich zudem nicht auf einen Zukunftsentwurf in die fernere Zukunft erstrecken muss.
Dies schliesst nun auch explizit menschliche Nichtpersonen in den Schutz ein, sowie nichtmenschliche Nichtpersonen und nichtmenschliche Personen (die allerdings genau genommen auch vorher schon inkludiert werden müssen, was allerdings kulturell unhinterfragt verleugnet wird, da die Grenzen sich eben doch an Äußerlichkeiten als unreflektierte Refrenzpunkte orientieren).
Für eine sinnvolle Moral müssen zwar nun Prinzipien wie Gerechtigkeit, Fürsorge und Bedürfnisse integriert werden und können graduelle Unterschiede bewirken, einen kategorischen jedoch nicht.

Es gibt Theorien, die nichtmenschlichen Tieren aufgrund des Fehlens von Repräsentationen Kultur absprechen. Diese seien nötig für die Konstitution gesellschaftlicher institutioneller Tatsachen und die semantischen Bedeutungsnetzwerke, für die wiederum Sprache notwendige Bedingung sei.
Ich hingegen glaube, dass dies eine Verengung des Blickfeldes auf die menschliche Sprache bedeutet als Ursprung aller Kultur ist. Befreit man sich von dieser Vorannahme, lassen sich sowohl Repräsentionen, als auch Bedeutungsnetzwerke denken, die ohne abstrakte Sprache auskommen. Ein solches Bedeutungsnetzwerk könnte sich ebenso aus Geräuschen, Handlungen, Gesten, Bildern und nicht zuletzt Emotionen konstituieren.
Dass diese Annahme Plausibilität besitzt, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass auch menschliche Wesen sich solch "primitiver" Bedeutungsnetzwerke bedienen. So ist der Gedanke an Orte (und vor allem die an ihnen verorteten Räume), geliebte Personen und selbst an institutionelle Tatsachen wie Geld auch gänzlich ohne Sprache möglich. Statt eines Komplexes bestehend auch weiterer mit diesen verbundender sprachlich repräsentierter abstrakter Vorstellungen, ergibt sich so ein Komplex aus einfachen, bildlichen, handlungsbezogenen und emotionalen Knotenpunkten verbunden zu einem solchen Bedeutungsnetzwerk. In dieser Hinsicht muss auch das benutzte Werkzeug mancher Spezies nicht sprachlich repräsentiert sein, um als Kulturgut zu gelten. Die Vorstellung dieses, die sich in der durch kollektive Intentionalität zugewiesenen Funktion findet, kann sich auch im Bild dieser Handlung erschöpfen und es kann diese sein, die im Rahmen kultureller Repdroduktion weitergegeben wird.
Es gibt damit zumindest keinen Grund aufgrund fehlender Sprache die Möglichkeit tierlicher Kultur a priori auszuschließen.

Die Erfindung von Sexualität

Homosexualität ist, auch wenn eine sich oberflächlich als "liberal" inszenierende Gesellschaft aus falschen Gründen einer mangelnden Verstehenskompetenz und aufgrund des Natürlichkeitskonstrukts als Argumentersatz dies nicht gern hört, nichts Angeborenes aber und dies ist wichtig, auch nichts einfach durch den Akteur Entschiedenes. Was "schön", was "attraktiv" und eben auch welche Merkmale als sexuell stimulierend empfunden werden, wird erlernt, durch ein Wechselspiel biographischer Erlebnisse und kultureller (Deutungs)Muster, derer sich das Kind probierend nähert. In diesem kindlichen Erproben ist das Geschlecht auf das sich ein Bedürfnis nach Nähe und ein bestimmter emotionaler Erregungszustand bezieht der ebenso durch die Gesellschaft geformt und gedeutet wird unerheblich. Eine positive Erfahrung in diesem Erproben kann dann durch die Ausrichtung des Gehirns und unterstützt und mit Konkretem angereichert durch die Gesellschaft in Mustern unterschiedlicher Reichweite gespeichert und so bei einer Gesellschaft die Geschlechter denkt, auf diese bezogen. So entstehen Sexualitäten aus mit Hilfe von sozialem Druck verallgemeinerten auf ein konkretes Individuum bezogenen Erfahrungen.
Aber was heißt dies nicht? Es heißt nicht, dass Homosexualität etwas zu "Heilendes" ist, denn ein solcher "korrigierender Gewaltakt" einer hegemonialen Wirklichkeit kann sich nicht begründen. Denn nicht nur Homosexualität wird erlernt, sondern Sexualität überhaupt. Beide sind nicht "natürlich" gegeben, sondern Konstrukte und gesellschaftlich produzierte Handlungsmuster, die als Teil von Identitäten abgearbeitet werden können und je kulturvariant mit normativem Gehalt und dessen Begründung ausgestattet sind. Statt dieses Ergebnis konstruktivistischer Forschung zum Zwecke scheinbar liberaler Selbstverstaendnisse zu opfern, gilt es dieses zu beachten, denn der Konstruktivismus selbst kann eine sexuelle Freiheit auch ohne das Konstrukt vermeintlicher Natürlichkeit oder "schwuler Gene" verteidigen. Das Einzige, das uns "natürlich" gegeben ist, ist somit letztlich eine sich verschiedenen Potentialen öffnende Bisexualität.

Donnerstag, 14. Mai 2015

Glück und Gerechtigkeit

Gerechtigkeit und Glücklich-sein stehen letztlich in einem engen Verhältnis zueinander. Glücklich-sein ist ein Gefühl und als solches ist es ein erlernbares Konstrukt, das Teil des institutionalisierten und hierarchisierten Bedeutungsnetzwerks einer Gesellschaft ist. Wie es sich anzufühlen hat, wer es wann empfinden darf und aufgrund welcher Bedingungen ist normiert und festgelegt. Freilich lassen sich Alternativen denken aber je mehr diese nötig sind weil die Gesellschaft die Grundbedingungen für ihr hegemoniales Glückskonstrukt nicht für alle schaffen kann, als umso ungerechter muss sie bezeichnet werden. Glück ist damit nur sehr bedingt etwas Persönliches, es trotzdem als solches verstehen zu müssen Ausdruck einer pathologischen Gesellschaft.

Sonntag, 15. März 2015

Das „Binnen-I“ als Beitrag zur Geschlechterdekonstruktion?

Das „Binnen-I“ als Beitrag zur Geschlechterdekonstruktion?

Diskussionen um das Binnen-I gibt es seit einigen Jahren und sie flammen immer wieder auf. Von der einen Seite mit dem Augenmerk auf die wirklichkeitsstrukturierende und -schaffende Macht von Sprache als Aufwertung des Weiblichen als gleichberechtigt gefordert, von der anderen Seite als unnötig abgetan, wird das Binnen-I immer mal wieder durchs diskursive Dorf getrieben, mal mehr und mal weniger reflektiert, sinnvoll und angebracht.
Das folgende Sprechen soll sich dieser Frage in kurzer Form aus einer geschlechterdekonstruktivistischen Perspektive widmen und eine Möglichkeit liefern diese zu betrachten. Das folgende Sprechen versteht sich dabei ausdrücklich als genannte Perspektive und nicht als Ausarbeitung, es soll zum Denken anregen, nicht entscheiden.
Wie bereits gesagt, sehe ich das Binnen-I als Versuch an, das Weibliche gegenüber dem Männlichen als gleichwertig aufzuwerten, ihm sprachlich Beachtung zu geben und so eine unterordnende Subsummierung des Weiblichen unter das Männliche in der Sprache und damit auch in den mit dieser produzierten Wirklichkeiten zu unterbinden. Dass das Weibliche aufgewertet werden kann, zeigt sich immer noch recht drastisch, wenn man die ungleichen Behandlungen betrachtet, die jedoch und dies ist enorm wichtig, nur die Spitze des Eisbergs darstellen und die ihren Kern in spezifischen Rollenzuschreibungen finden, die das Männliche und das Weibliche klar definieren, zum Leidwesen auf beiden Seiten. Dies soll und darf nicht vergessen werden. Nicht nur das Weibliche ist definiert und normiert, sondern auch das Männliche, wobei Letzteres nachwievor allzu oft als das gesellschaftlich Stärkere konzipiert zu sein scheint.
So sehr eine solche Aufwertung auch wünschenswert erscheint, so sehr geht sie doch am eigentlichen Problem vorbei. Freilich ist Dasjenige, das als weiblich konzipiert ist, dem als männlich konzipierten oftmals als unterlegen gedacht. Frauen werden schlechter bezahlt, werden als emotionaler gedacht, wobei Emotionalität dem Rationalitätskonstrukt als untergeordnet konzipiert ist und immer noch herrschen in weiten Teilen der Bevölkerung allgemein viele Sexismen vor, die die sprachlich manifestierte Unterordnung bestätigen.
Wenn Sprache nun Wirklichkeiten strukturieren kann, was wird dann mit der Aufwertung durch das Binnen-I geschaffen? Das als weiblich Konzipierte wird zwar aufgewertet aber zu zwei Preisen, die nicht gezahlt werden sollten. Zum Einen wird diese Aufwertung allzu oft zum Preis dieses Weiblichen als spezifisches Weibliches erkauft. Dies bedeutet, dass hier das Weibliche als genuin vom Männlichen verschieden und als spezifisches Weibliches gedacht wird, das sich an biologischen Kategorien, die selbst nichts als Konstrukte sind, orientiert und spezifische soziale Rollen zuschreibt. Gegenüber der Aufwertung eines spezifischen Weiblichen als Anderes, das jedoch gleichberechtigt sein soll, kann dabei auch die Aufwertung des Weiblichen als nur durch die Biologie vom Männlichen verschiedene soziale Rolle stehen. Beides Ansätze gehen jedoch fehl. Der erste Ansatz konstruiert anhand des biologischen Geschlechts als scheinbar natürliche Größe ein Anderes, das spezifisch als Rolle festgeschrieben wird, so weitgefasst diese auch teils sein können, während der zweite Ansatz es vermeidet ein Anderes zu denken und so Möglichkeiten als Rollen negiert und auf diese Weise normiert.
Zum Anderen wird mit Hilfe des Binnen-I die Geschlechterdichotomie insgesamt festgeschrieben, denn das Männliche und das Weibliche sind die einzig sprachlich repräsentierten Kategorien, die ihre Dichotomie in die Wirklichkeit tragen und diese strukturieren. In Beiden Fällen wird das Geschlecht (gender) und die zugrunde liegende bio-kulturelle Kategorie (sex) auf eine Bipolarität eingeschränkt und auf diese hin sprachlich normiert. Es drängt zum Entscheiden und mehr noch, es drängt zur Bedeutsamkeit des Geschlechts als die Wirklichkeiten strukturierende Kategorie anhand derer sich die Akteure zu definieren haben. Demgegenüber will ich etwas anderes setzen, das die Geschlechtskategorie nicht auf- sondern als das willkürliche Strukturmerkmal abwertet, das es ist. Es ist nicht mehr nötig, denn Orientierung auf die wir angewiesen sind, kann auch anders geschaffen werden. Nicht anhand als bedeutsam konstruierter äußerer Merkmale oder fester Rollenzuschreibungen, sondern neuer Möglichkeiten, die eine größere Varianz des Anderen zuzulassen vermag und im Sinne Lytoards zu einem auch im Bereich der Geschlechtsidentität Patchwork der Minderheiten führt, die jedoch nicht als Minderheiten beachtet werden müssen, denen wir alle angehören, sondern als Kategorie aufhört zumindest bedeutsam zu sein.
Aber wie dem sprachlich Rechnung tragen? Der Vorschlag kann nicht zur sprachlichen Repräsentation aller möglichen Formen eines Anderen führen, denn dies würde die Begriffe ins Unendliche ausdehnen. Auch kann es nicht zu einer vorbelasteten Subsummierung unter das Männliche kommen. Der Weg kann somit wohl nur jener hin zur Bedeutungslosigkeit des Geschlechts, sprachlich repräsentiert durch das Sächliche sein, das „Mensch“ an Stelle von „Mann“ und „Frau“ setzt und „das“ an die Stelle von „der“ oder „die“.
Damit wäre zumindest ein Teilerfolg geleistet und ein Weg in die Veränderung der Wirklichkeit durch Sprache.