Freitag, 13. Mai 2016

Das kartonierte Sein als Scheinargument und epistemisches Problem plus ein bisschen Geschichtsphilosophie

Im Prinzip soll sich der folgende Text einem immer wieder gebrauchten Scheinargument bedienen, das wohl viele schon benutzt oder gehört haben und das auf den ersten Blick und wie wir sehen werden auch auf den zweiten, nicht völlig abwegig ist, sogar verständlich scheint. Da es jedoch häufig als „ultimatives Argument“ gebraucht wird, um dem Gesagten des Gegenübers engültig die Berechtigung zu versagen, soll es einmal genauer betrachtet werden.

Es gibt viele verschiedene Varianten davon, die Beliebtesten sind vielleicht die Aussagen „Du warst aber (im Gegensatz zu mir) nicht dabei!“, „Du hast das gar nicht miterlebt!“ oder „Du warst noch nie in einer solchen Situation und kannst das nicht beurteilen!“. Philosophisch ausgedrückt heisst das nichts anderes, als die Behauptung aufzustellen, ein In-der-Situation-sein oder Gewesen-sein“ bedeutet einen epistemischen Vorteil zu haben. Verbunden wird dies häufig mit dem Glauben daran, bessere und exaktere, im Sinne von wahrere, Aussagen über sich selbst zu machen, weil man ja man selbst ist und so einen authentischeren, direkteren, unmittelbareren und damit ebenso wahreren Zugang zu sich selbst habe.
Relevant ist dieser Einwand nicht zuletzt für Historiker, denn wir waren ja nicht dabei.

Um nun sowohl das Problem genauer zu betrachten und seine Stichhaltigkeit zu prüfen, soll, wie es Philosophen ja ganz gern machen, ein vereinfachtes Beispiel gewählt werden, um die zentralen Punkte zu verdeutlichen.

Level 1

Nehmen wir zwei Personen an, Person A und Person B. Nehmen wir nun an, dass Person B in einem Karton sitzt, Person A sitzt außerhalb dieses. Nun unterhalten sich beide über die Situation von Person B. Person A könnte nun sagen, dass Person B in einem Karton sitzt, während Person B antwortet, dass dies nicht stimme, denn sie sitze im Dunkeln und wisse aus ihrer Perspektive freilich besser Bescheid. Der Clou ist, beide haben Recht. Und Person A hat auch dann Recht, wenn er nie in einem Karton gesessen hat, da seine Aussage sich auf einen völlig anderen Aspekt bezieht, der sich aus der unterschiedlichen Perspektive ergibt. Während Person B also durchaus eine Wirkung angeben kann, die Person A in diesem Beispiel nicht kennt, kann Person A in dieser Hinsicht den Grund dafür angeben, eine Struktur, die dies bedingt und die Person B aufgrund seines Sitzens in dem Karton und der sich daraus ergebenen Perspektive nicht erkennen kann. Beide haben also eine spezifische Perspektive, die sich bereits deswegen unterscheidet, weil beide in anderen Formen des In-der-Welt-Seins „gefangen“ sind.
Beide können nun versuchen ihre je andere Perspektive zu nutzen, um je mehr über die Welt zu erfahren und zwar über die Welt, die sie beide teilen, im Rahmen dessen sie diese Welt erst zu einer geteilte Welt machen. Vielleicht werden die beide das In-der-Welt-sein der je anderen Person erfahren können aber sie können ihr eigenes Weltbild erweitern, also ihre Vorstellung davon, welche Perspektiven noch zu dieser gehören und, dies ist das wichtige, welche Beschränkungen herrschen, die ihren je eigenen Blick bedingen, ihn lenken und damit auch das eigene Verhalten.
Voraussetzung dafür ist aber die Anerkennung von multiplen Perspektiven und die Abkehr vom Glauben der beiden Annahmen, dass 1. ein In-der-Situation-sein einen per se epistemischen Vorteil hat und 2. derjenige in der Situation automatisch mehr darüber weiß, was diese Situation ist.

Bonuslevel

Was genau tun nun Wissenschaftler, vor allem Geschichtswissenschaftler? Das hängt mit davon ab, welcher geschichtsphilosophischer Richtung sie sich angeschlossen haben, was ihre Frage ist, welche Methoden sie anwenden, usw. Wer noch Geschichtenerzähler der älteren Richtungen ist, wird nach der Person in dem Karton schauen, seine Biografie schreiben, seine persönlichen Daten aufschreiben, den Tag der Entstehung des Kartons, den großen Sieg Einzug zum Gedenktag erheben, dies alles allerdings nur, wenn es sich auch lohnt, Person B also irgendwie berühmt ist, um zu zeigen wie wichtig Person B für die Welt ist, usw....
Strukturalisten hingegen schauen vor allem auf den Karton, denn dieser bestimme das Leben von Person B, indem er dessen Welt vorgibt, die Struktur, die Bewegungsmöglichkeiten, usw. Es geht also daran, den Karton zu vermessen, ihn mit anderen zu vergleichen, Mittelwerte zu errechnen, den idealen Karton, an dem die idealen Personen Anteil haben. Die Person sitzt drin, sie ist die vom Karton gebeutelte...
Kulturhistoriker hingegen schauen sich jene Person an, jedoch anders als vorher. Die Betrachtung gilt der Beschreibung des Im-Karton-seins. Wie bewältigt die Person diese Situation, welchen Sinn gibt sie ihr, wie verständigt sie sich mit anderen, wie verstetigen sie das Leben im Karton als gemeinsames In-der-Welt-sein, welche kulturellen Praktiken ergeben sich, usw. Dabei ist es nicht der Karton in seinen Maßen der interessiert, sondern der Karton wie er der Person innen erscheint und dieses Erscheinen wird als Einfluss, als prägend angesehen. Im Idealfall wird dabei ein s.g. praxelogischer Ansatz gewählt, der den strukturalistischen Karton berücksichtigt, als Rahmen der Bedeutungszuweisung, die den eigentlichen Einfluss ausmacht und zugleich eine Wechselwirkung untersucht, die den Karton auch in seinen Maßen als zumindest zum Teil durch die Kultur der Person beeinflusst sieht, in dem jene Kultur auch auf das vermeintlich statische einwirkt, während der Karton sich auch langsam selbst wandelt, verfällt, an manchen Stellen geflickt wird, an anderen bewusst aufgerissen um den Blick zu erweitern, der eingeteilt wird, um verschiedene Teile verschiedenen Funktionen zuzuweisen, der immer wieder anders erlebt wird, je nachdem, in welcher Verfassung die Person ist, usw.

Level 2

Das zweite Level ist nun schwieriger. Denn eigentlich befindet sich nicht nur Person B in einem Karton, sondern auch Person A. Beide können sich dabei trotzdem sehen, der Karton ist nicht völlig undurchsichtig, sondern ein milchiger Schleier, verschwommen, unscharf, mit uneinsehbaren Bereichen. Durch diesen können beide auf einander schauen. Wenn beide wissen wollen, wie die Welt beschaffen sei, müssen sie miteinander reden, ihre Wahrnehmung abgleichen. Die Crux dabei ist, dass sie nur die Wahrnehmung haben und sich darüber verständigen was dies ist das sie sehen, um auf diese Weise zu vereinbaren, was denn zu sehen sei und nochmehr, was dies zu bedeuten habe. Da beide aber in unerschiedlichen Kartons sitzen ist das schwer. Nun könnte man sagen, Person B hat einen epistemischen Vorteil, wenn sie auf sich selbst schaut, weil dieses Schauen ist unmittelbar, es befindet sich ja in dem Karton, währnend Person A durch seinen eigenen erst hindurchsehen muss. Der erste Einwand dagegen ist, dass beide immer noch über etwas völlig anderes sprechen, über Struktur und Erleben. Der zweite Einwand ist, dass das Im-Karton-sein ja weiterhin eine Perspektive darstellt, die durch diesen Zustand geprägt ist und zwar so, dass es Person B selten merkt. Und auch dieses Erleben ist dabei durch die Kultur geprägt, also den normativen Austausch vieler Leute in Kartons, die dann darüber sprechen was es heisst aber auch was es heissen soll, das Im-Karton-sein zu erleben.

Bonuslevel

Dieses epistmeische Problem gehen Wissenschaftler nun dahingehend an, dass sie, bevor sie Andere betrachten, sich erst einmal selbst in den Blick nehmen (sollten). Es muss also geklärt werden, wie der „eigene“ Karton die eigene Wahrnehmung bestimmt, durch das eigenen Erleben, Fühlen, Denken, usw. Dieser Blick schärft sich dabei eben auch an der Untersuchung des Anderen immer weiter, denn es gilt zu schauen, wie auch dessen Wahrnehmung sich mittels kultureller Prozesse schafft, die dann wiederum auf das eigene Sehen angewendet werden. Das ist übrigens der wichtigste Kern von Bildung, von Historischer Bildung insbesondere. Dabei produziert auch der Wissenschaftler Erzählungen von Personen in Kartons und diesen Kartons, die durch die Erzählungen seiner eigenen Zeit, seines eigenen Kartions beeinflusst sind, Perspektiven über Perspektiven also. Deren epistemisch höhrer Wert liegt allerdings darin, dies zu berücksichtigen. Dies nennt sich dann erkenntnistheoretische und methodische Reflektion. Diese kann dazu führen, mehr erfahren, in Wechselwirkung vom Anderen und sich selbst. Der Mehrwert besteht dabei auch darin zu zeigen, wie sich der Karton auswirkt und wie sich wiederum das Im-Karton-sein auf diesen auswirkt. Ein Wissenschaftler kennt so idealerweise die Erzählungen des Im-Karton-Seins als kulturell erlernte Muster, dessen sich Person B nicht bewusst ist und die automatisiert ablaufen, er kennt die Auslöser dafür, die Gründe und Begründungen, die vielen Erzählungen und er kann bedingt Aussagen darüber machen, wie solche Dinge ihn selbst dazu bringen all jenes zu sehen, zwar unvollständig aber doch in größerem Umfang als es Person B möglich ist. Der Unterschied besteht in einem Wissen um dieses Prozesse im Gegensatz zu einem kreativen Gefangensein in diesen Prozessen.

Level 3

Allerdings ist es mit zwei Personen und zwei Kartons oder dessen Multplizierung nicht getan, denn jeder steckt zeitgleich in vielen Kartons, die sich überlappen und die er mit anderen teilt.

Bonuslevel

Das wahnsinnige Unterfangen besteht jetzt darin dies alles zu berücksichtigen in Bezug auf sich selbst als produktiver und damit auch verzerrender Teil der eigenen Wahrnehmung, als auch in Bezug auf alle Anderen, auf die, die untersucht werden. Je mehr Gründe und Begründungen, je mehr Einflussfaktoren, je mehr Kartons also bekannt sind, umso besser kann das Verhalten erklärt werden, umso höher der epistemische Vorteil gegenüber denen, die sich Selbst im Karton lediglich befinden.

Bossfight

Als Letztes steht nun generell ein epistemisches Problem an, nämlich die Frage, was, auf welche Weise und ob überhaupt etwas existiert, ob wir Zugang dazu haben usw.
Die Frage kann dabei unterschiedlich beantwortet werden. Mein persönlicher Cheatcode ist der Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass die Welt zwar existiert aber wir ihr nur als Welt begegnen, also als die Gesamtheit der Erzählungen, die wir uns von ihr machen und von der wir nie wissen, ob sie auch nur im Entferntesten mit jener Welt übereinstimmt. Das aber ist kein Problem, eben weil wir es nicht wissen können. Als kulturelle Wesen schaffen wir die Bedeutungen selbst, wie wir uns auch dabei beobachten können. Weil es aber diese Bedeutungen sind, die von uns selbst wechselseitig in unsere vielen Kartons geschaffen werden, die unser Handeln bestimmen, sind es auch diese, die es zu erforschen gilt, denn sie sind alles was wir haben. Weil dies aber so ist, weil damit unser Erleben selbst in Kategorien abläuft, wissen wir selbst auch nicht zwangsweise mehr über uns, bloss weil wir wir selbst sind, denn was wir tun ist jene Erzählungen anwenden, an deren Gestaltung wir mitwirken, die wir aber nicht selbst hervorbringen. Wer die Erzählungen, ihre Gründe und Begründungen, die Kartons kennt, der weiß damit eine Menge über uns, auch wenn er es nicht nacherleben kann.