Samstag, 12. März 2016

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele XV

Freilich sind insbesondere Sozial- und Geisteswissenschaftler "unbequem", natürlich sind sie es, es ist ihre Aufgabe! Mit der leider immer weniger gewürdigten Fähigkeit zur Dekonstruktion sozio-kultureller Prozesse und Strukturen, mit der Dekonstruktion von Gesellschaft, von Welt und Selbst geht Verantwortung einher, eine Verantwortung, die freilich auch als Pflicht dazu zu definieren ist, nicht zuletzt weil es eben immer wieder irgendwelche "Natürlichkeiten", "Wahrheiten" und sonstige Unsinnigkeiten sind, die durchs Dorf getrieben werden und mit denen man den je Anderen zu besiegen trachtet. Freilich wird dies nicht geschätzt, weil es eben "unbequem" ist oder vielmehr so gesehen wird. Denn es läuft nicht nur den Marktlogiken des einfachen und schnellen Konsums entgegen, sondern auch den Machtstrukturen, die sich nicht zuletzt über all jene unhinterfragten alltäglichen Gewissheiten legitmieren. Hier nehme ich alle Wissenschaftler, besonders aber eben jene Sozial- und Geisteswissenschaftler in die Pflicht, ganz im Sinne Mills eben nicht die Uni als Vorbereitung auf eine Leben "in" der Gesellschaft zu nutzen, zur Aneignung funktionaler Wissensbestände, sondern als Widerstandsrefugium gegen jene scheinbar feststehende Gesellschaft. Wissenschaftler sollten nicht ausführende Organe der bestehenden Logiken sein, sondern immer mindestens zu einem gewissen Teil auch Widerstandskämpfer, die sich dem intellektuellen Vorschlaghammer gegen das Starre und vermeintliche Gewisse bedienen.

Das Recht, wie auch die gelebte Gewohnheit vom Arbeitnehmer seitens des Arbeitgebers Überstunden und dies ohne weitere Gegenleistungen einfordern zu können, ist nichts Anderes, als das Recht, auf das Privatleben Einfluss nehmen zu dürfen, gänzlich über den Arbeitnehmer verfügen zu können, in dem sich nachwievor sowohl der Status des Arbeitnehmers als bloßes Werkzeug der Wirtschaft zeigt, wie auch generell ein Primat der Arbeit für Identität, Sitte und Gesellschaft, dem es zu folgen gilt, um keine Sanktionierungen befürchten zu müssen. Gestützt wird dies nicht zuletzt auch durch zu sittlichen Gesetzen erhobene Narrative wie jene der "Professionalität", der "Notwendigkeit" oder der "Firmenloyalität", in die ein emotionaler Stil eingeschrieben ist, der den Arbeitnehmer all jene Fremdzwänge verinnerlichen soll, kulminierend in eben jenem "schlechten Gewissen" "Firma" oder "Kollegen" im Stich zulassen, wenn sich nicht unterworfen wird. Alle anderen Entwürfe müssen folglich als "Faulheit", "Egoismus" oder mangelnde "Professionalität" erzählt werden und machen das Individuum in der Möglichkeit seiner "privaten" Entfaltung letztendlich von der Gnade derjenigen abhängig, die in strukturellen Machtpositionen ihm gegenüber sitzen. "Freiwillige Überstunden" sind der moderne Ablasshandel, in welchem man den sittlichen Gesetzen der "Professionalität" huldigt und sich der Sünde eines Lebens außerhalb der Arbeit loskauft.

In der immer noch betriebenen Gegenüberstellung von Rationalität und Emotionalität und der mindestens teils negativen Bewertung und Ablehnung letzterer, offenbart sich eine Machtstruktur, die Emotionalität verbietet und zugleich nutzt, um bestimmten Akteuren u.a. die Diskurshoheit zu sichern. Dabei ist nur "ungeordnete" Emotionalität für diese ein Problem, weil sie das Chaos einer anderen Ordnung in sich trägt und das Recht der Teilhabe untergräbt, denn nur wer kontrolliert ist, darf teilhaben. Als Mäßigung und Disziplin verkauft, sichert eine bestimmte Emotionalität so die Ordnung ab, weil sie allen das Sprechen verbietet oder abwertet, die zu viel ungeordnete Emotionalität aufweisen. Wird sie in Ordnung gebracht, überträgt sie aber bereits die Bedeutungen und Werte des hegemonialen Diskurses, denn wenn Eigenes gleichgültig vorgebracht wird, verliert es seine Qualität als eigenes, der Wille zu diesem schwindet. All dies wird dabei im Hintergrund selbst emotional abgesichert, durch dazu geschaffene Gefühle wie den sozial ausschliessenden Ärger, der dafür sorgt, dass die Ordnung bleibt. Diskurse sind Macht, Rationalität ihre Waffe, das andere Sprechen ist Widerstand und Leidenschaft die Triebkraft, derer sich die Ordnung bemächtigt oder sie abwertet und zerstören will.