Samstag, 30. April 2016

Die andere Seite des Spiegels - Tiere als historische Akteure und Subjekte

Tierliche und menschliche Topografien als Ergebnis von Interaktionsräumen in historischer Analyse
 
 Tiere sind in der Geschichtswissenschaft keine völlig neuen Betrachtungsobjekte mehr. Ganz im Gegenteil existieren bereits etliche Arbeiten, die sich mit dem Tier oder den Tieren beschäftigen. Neu ist hingegen der Blick auf jenes Tier als tierlichem Anderen, als Gegenüber, als Subjekt und Akteur und nicht nur als Objekt von Deutungen, als Umweltfaktor oder als dialektisches Gegenüber einer Identitätsgeschichte des Menschen.1 Mit der Formulierung eines Bestrebens, sich dem Tier oder besser den Tieren als Subjekte und Akteure der Vergangenheit und damit als zu betrachtende, handelnde Teile in historischen Erzählungen, stellen sich allerdings zwangsweise Probleme nach der methodischen Umsetzung einer solchen Geschichte der Tiere ein. Das Ausrufen eines animal turn und die Formulierung einer Animate History allein reichen nicht aus, auch wenn bereits das Bedürfnis nach solchen Sichtweisen eine eigene Untersuchung wert wäre. Soll es zu Untersuchungen und Erkenntnissen jenseits des Bisherigen und des Bedürfnisses kommen, so muss geklärt werden, wie ein Zugang zum tierlichen Anderen geschaffen werden kann, es muss Quellen oder zumindest Lesarten dieser geben, ein Etwas also, aus dem sich die Geschichte schreiben lässt. Um solche Quellen zu finden, muss allerdings auch ein Verständnis dafür entwickelt werden, was genau denn erforscht werden soll und kann, um dann zu schauen, welche Quellen Aussagen darüber zu Tage fördern könnten. Jener Grundlage einer Animate History soll sich hier in Form eines Vorschlags genähert werden, der den Ansatz eines symbolischen Interaktionsismus aufgreift und ihn, performativ, emotional und spatial gewendet, weiterführt. Dies scheint nötig, da auch jener Ansatz bisher zwar Tiere als Akteure begreift, die auf uns reagieren und wir auf sie, die aber trotz allem einer Geschichte des Menschen und der kurzen Momente der Interaktion verhaftet bleibt, nicht aber Erkenntnisse außerhalb dieser kurzen Interaktion über die Welt jener Tiere zu schreiben vermag. Herauszuheben ist dabei die Betrachtung des gemeinsamen Spazierengehens von Mensch und Hund, für das ein Wissen auf beiden Seiten und eine Form der Institutionalisierung von Handlungsroutinen bereit stehen muss, um dies zu ermöglichen.2 So wichtig dieser Fall und seine Betrachtung ist, weil sie am ehesten den Anspruch einlösen kann, so bleibt er trotzdem bei einer Geschichte jener Interaktion, die den Hund nur im Rahmen dieser Interaktion und des Wissensaustauschs betrachtet. Ziel ist es hier jedoch, darüber hinaus zu gehen und den Betrachtungspunkt zu erweitern, sowohl in Bezug auf das Tier als Akteur, dem nicht nur ein Wissen unterstellt wird, sondern dieses auch im Rahmen seines Tierseins beschrieben, als auch insbesondere in Betrachtung tierlicher Lebenswelt und deren Wandel mittels dieser Interaktion. Die Frage ist also auch, wie verändert sich die Welt für den Hund jenseits des Moments der Interaktion und wie kann dies beschrieben werden? Denn jener grundsätzliche Wandel der Lebenswelt des Tieres und dessen Beschreibung stellen den Zielpunkt einer solchen Forschung.

Den Knackpunkt eines Zugangs zu Tieren als Akteure bildet nun grundsätzlich der Zusammenbruch klassischer dichotomer und absoluter Unterscheidungen von Mensch und Tier. Besteht aber kein solcher absoluter Unterschied, so kann es auch keine grundsätzliche methodische Verschiedenheit geben, wie sich jenen Anderen genähert werden kann. Um einen Zugang zu skizzieren soll das Beispiel eines Videos gewählt werden, das zur Zeit auf Plattformen wie facebook die Runde macht.
Zu sehen sind ein Lemur und zwei Kinder. Letztere kraulen den Lemuren, unterbrechen ihr Vorhaben jedoch immer wieder. Der Lemur reagiert seinerseits auf diese Unterbrechung damit, dass er die Kinder ansieht und die Handbewegung des Kraulens simuliert, woraufhin diese erneut mit dem Kraulen beginnen. Als erstes handelt es sich auch hier eindeutig um eine Interaktion zwischen Menschen und dem Lemuren. Eine Analyse dieser Interaktion läuft jedoch Gefahr, anthroprozentrische Zuschreibungen als Grundlage zu wählen und damit menschliche Kultur zu übertragen und dies bereits dann, wenn das Handeln selbst als Kraulen bezeichnet wird. Dieser Begriff ist bereits ein menschlicher, der eine menschliche Handlung und menschliche Bedeutungen beschreibt, in das menschliche Bedeutungsnetzwerk von Handlungen eingeschrieben ist. Kann also überhaupt davon gesprochen werden, dass das Kraulen auf beiden Seiten existiert oder was ist es, was existiert? Damit stellt sich auch die Frage, ob eine Geschichte des gemeinsamen Spazierens in dieser Formulierung überhaupt Sinn machen kann. Krault also der Mensch, während der Lemur gar nicht gekrault wird? Was aber ist es dann, was dem Lemuren passiert, was er zu wollen scheint? Dies sind Fragen, die gestellt werden müssen, wenn es darum geht, ein Tier als Akteur ernst zu nehmen und ihm nicht einfach menschliche Begriffe zuzuschreiben. Ein Weg aus diesem Dilemma bietet die Emotionsgeschichte. In dieser stellt sich ähnlich die Frage, wie überhaupt von Gefühlen (richtiger eigentlich Fühlkonzepte, weil Gefühle bereits spezifische Formen von emotionalen Prozessen sind) gesprochen werden kann, die es gar nicht in der eigenen Gefühlskultur gibt, wie kann also etwas völlig Unbekanntes beschrieben werden? Eine Lösung, die auch Stalfort in ihrer Geschichte zur Entstehung des Gefühls nutzt, ist die s.g. reduktionistische Paraphrase der Linguistin Anna Wierzbicka.3 Dabei wird ein Gefühl mit möglichst einfachen und quasi universalen Begriffen beschrieben, die sich auf einer Ebene befinden, die allen Kulturen verständlich ist. Diese Begriffe handeln von Handlungsimpulsen, von Kategorien wie „angenehm“ und „unangenehm“, von Situationen, in denen diese auftreten und der Intensität. Damit lassen sich Gefühle auch in anderen Kulturen verständlich machen, die diese nicht kennen. Freilich ist dieses Gefühl darüber hinaus mit Bedeutung versehen, in dem es zum Beispiel erwünscht oder unerwünscht ist, raumspezifisch ausgeprägt, also nur in bestimmten Räumen erlaubt oder nicht erlaubt, vielleicht nach Geschlechtern getrennt, usw. All dies ist Teil des Gefühls einer spezifischen Kultur, das aber einen Zusatz darstellt und dieses reguliert, deren Kern aber selbst nicht betrifft. Wenn ein Gefühl plötzlich unangenehm wird, weil es woanders als erlaubt empfunden wird, so liegt dies nicht am Gefühl als solchen, sondern vor allem daran, dass es eine höhergelegene emotionale Topografie gibt, die das Angenehme in bestimmten Situationen nicht unangenehm macht, sondern diesem etwas Unangenehmes zusätzlich gegenüber stellt, um es zu kontrollieren.
Wird diese Methode auf das Kraulen angewandt, kann auch dieser Begriff soweit abstrahiert werden, dass er als Forschungsbegriff benutzt werden kann. Auf diese Weise wird auf die Gemeinsamkeiten verwiesen, um eine gemeinsame Betrachtung dieser Handlung in der Interaktion zu ermöglichen. Zugleich werden so die Zusätze menschlicher Kultur, wie auch die Zusätze auf tierlicher Seite beseitigt. Diese sind dann als Ergänzungen zu verstehen, die die beiden Perspektiven bestimmen, die von beiden Partnern zwar nicht verstanden werden, was der Interaktion aber keinen Abbruch tut, solange dies sich nicht auf den Moment der Interaktion auswirkt. Geschieht dies aber, so lassen sich auch jene Bedeutungen in Handeln übersetzen, einbetten in die Performanz der Interaktion. Was dabei geschieht ist eine Übersetzung eines kulturellen Inhalts auf der einen Seite in einen Inhalt auf der anderen Seite. Die Deutung kann dabei verschieden sein, die Frage nach dem Warum also ungleich beantwortet werden. Das bedeutet aber eben nicht, dass jene Inhalte nicht in die jeweiligen Logiken übersetzt werden können. Im Rahmen dieser Abnehmenden Missverstehens als Verstehen ist es damit irrelevant ob Mensch und Tier unterschiedlichen Logiken von Bedeutungen folgen, solange beide ihre Handlungen aufeinander abstimmen können. Dem Tier muss es nicht wichtig sein, ob der Mensch die Handlung aus religiösen oder persönlichen Gründen Aufrecht erhält und dem Menschen muss nicht bewusst sein, dass es sich um Fellfplege satt Zuneigung handelt, damit die Interaktion glückt und in ihrer Intention und wirklichkeitsverändernden Wirkung beschrieben werden kann. Dieser Überschuss an Bedeutung auf beiden Seiten kann kompensiert werden.
Was bleibt nun vom Kraulen übrig. In jedem Fall ist es eine Form des Körperkontakts, eine Form der berührenden Interaktion, die und dies ist wichtig, emotional gestützt ist. Warum das Kraulen in einer Kultur benutzt wird, was also der Begründungsdiskurs ist und welchen Bedeutungsüberhang dem zugesprochen wird, ist dabei für diese Interaktion dann nur auf je einer Seite relevant, für die Interaktion nicht, es ist nicht Teil dieser, sondern nur der jeweiligen einzelnen Perspektive. Beiden gemeinsam ist aber die emotionale Komponenten in Form körperlicher Erregungszustände, die als angenehm empfunden werden und so den jeweiligen Akteur motivieren und antreiben diese Handlung durchzuführen, unabhängig ob es um Zuneigung oder Fellpflege als kulturellem bzw. biologischem Zweck geht.
Die Handlung des Kraulens institutionalisiert sich dabei als emotionale Performanz, als eine Handlungsroutine, die mit angenehmem Empfinden verknüpft ist und immer dann abgerufen werden kann, wenn ein Bedürfnis nach angenehmen emotionalen Zuständen besteht, weil jene Handlung diese hervorruft und damit bedeutet. Dafür ist keine Sprache notwendig, sondern allenfalls eine Form von Erinnerung und Empfinden. Freilich kann eine Kultur dieses Empfinden blockieren, zum Beispiel in dem Kraulen als moralisch verwerflich gilt und mit einer Hölle bestraft wird. Auf diese Weise wird ein Konflikt hergestellt zwischen angenehmem und unangenehmem Empfinden und im Sinne dieser Moral entschieden, sofern das Unangenehme stärker ist. Aber auch dies existiert wieder nur auf einer der beiden Seite als zusätzliche Bedeutung, die die Interaktion zum Beispiel verhindern oder befördern kann, die aber nicht nötig ist, um die Interaktion aufrecht zu erhalten.
Verfügt der Lemur nun über Erinnerung und Empfindung und dafür gibt es schon allein dann Anzeichen, wenn er wiederkehrt und erneut danach verlangt, konstituiert sich nicht nur für die beiden Kindern ein neuer Raum im Rahmen dieser Interaktion, der sich institutionalisieren kann als jener Raum, an dem eine bestimmte Handlung vollzogen wird, die angenehm ist, sondern auch auf Seiten des Lemuren. Beide treten in eine sich institutionalisierende Interaktion ein, die einen emotionalen und performativen Raum schafft und auf diese Weise die jeweiligen Topografien verändert, der Welt beider Seiten einen weiteren Raum hinzufügt, mit Hilfe dessen sich in der Welt orientiert werden kann.
Die Bedeutung dessen muss nun nicht sprachlich kommunzierbar sein als Raum des Kraulens, sondern kann in der Performanz und Emotionalität selbst liegen. Was der Lemur für sich schafft, ist die Erinnerung an einen emotionalen Raum, der aus einer Handlung seinerseits und einer Handlung der Kinder als Antwort auf diese besteht, für deren Handlung er aber in Interaktion treten muss. Damit hat auch der Lemur einen Raum konstituiert als eine Art Institution aus Wahrnehmen, Erinnern und Handeln, die bestimmten Regeln folgt, die beide Parteien kennen, über die sie sich im Rahmen eines Kommunikationsexperiments austauschen und verständigen. Damit handelt es sich auf einer höheren kulturellen Ebene um zwei verschiedene Räume, in denen jeweils die andere Spezies als Objekt, als Element auftritt, die entsprechend Einfluss ausübt und „funktioniert“ und von der sich beide Seiten letztlich ein anderes Bild machen dem eine andere und zusätzliche Bedeutung beimessen können. Auf rudimentärer Ebene funktioniert diese Interaktion dennoch und produziert einen Interaktionsraum dessen Regeln beide kennen und an dem beide ein Bedürfnis haben, auch wenn es sich um völlig andere Deutungen handeln mag.
Auf dieser Ebene ist es aber möglich eine emotionale und performative Topografie auf beiden Seiten zu erzählen, die sich immer dann ändern kann, wenn der Interaktionsraum sich wandelt, wenn zum Beispiel mehr Kinder oder mehr Lemuren dazukommen oder es zu Zwischenfällen in diesem Selbstverständlichen kommt, die den Raum vielleicht unangenehm machen und folglich wiederum die Bewegung „in“ der Welt beeinflussen, die Topografie verändern und den Dorfplatz für eine oder beide Partein zum unangenehmen Raum machen.
Das Problem bei der bishierigen Betrachtung besteht darin, dass nur eine Seite des Spiegels dieser Interaktionen betrachtet wird, so dass der Mensch als Subjekt auch außerhalb dieses Moments auftaucht, das Tier darüber hinaus wieder zum Objekt wird, seinen Akteursstatus nicht weiter verfolgt wird. Hier aber zeigen sich beide als Subjekte, als Akteure, deren Welt nachhaltig in ihrem Werden beschrieben werden kann.
Wie kann dies aber nun historisch untersucht werden? Wo sind die Quellen?
Eine ähnliche Beobachtung ist historisch nicht möglich aber das ist sie auch nicht bei einer Geschichte nicht der Kindheit, sondern der Kinder in der Frühen Neuzeit. Auch von diesen existieren selbst keine Quellen. Trotzdem lässt sich eine solche Geschichte ähnlich erzählen. So existieren Quellen, die das Handeln beschreiben, Normen, Verbote, Strafen, Bilder, usw. Zwar sind jene Quellen immer durch eine Perspektive geprägt, dies ist aber ein immanentes Problem der gesamten Geschichtswissenschaft, das nicht der Animate History aufgebürdet oder gegen diese ins Feld geführt werden kann. Auch wenn Bewertungen mitschwingen, so lassen sich doch Bewegungen und Handlungen lesen, auf die damit reagiert wird oder die verhindert werden wollen. Selbst wenn eine der beiden Logiken der Teilnehmer nicht bekannt ist, kann jene Interaktion beschrieben werden. Auch jene Quellen zeigen Formen der Aneignung von Welt durch jene Kinder und deren performative Topografie, die ihre Welt bestimmt und ist.
Dabei geht es also weniger um Sprache, als vielmehr Performanz, um Performanz als Sprache, der Körper wird zum Medium einer solchen Geschichte und alle Quellen, die jenen Körper in Bewegung zeigen, kommen so infrage, jede Interaktion also, jede Bewegung, die auf Bewegung reagiert, das Handeln wird zur Sprache der rudimentären Ebene zweier Akteure, die in ihren jeweiligen Welten handeln, sich aufeinander einspielen, in Interaktion treten, ohne dass eine Seite die andere völlig verstehen könnte. Dieser Tanz ist nichts anderes als die Kommunikation selbst. Die Bedeutungen der einzelnen Schritte sind unklar aber die Ähnlichkeiten der Körper erlauben es zumindest einige der Schritte aufeinander abzustimmen.

1Siehe dazu als Zusammenfassung und Ausblick Krüger, Gesine; Steinbrecher, Aline; Wischermann, Clemens: Animate History. Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren, in: Krüger, Gesine, u.a. (Hrsg.): Tiere und Geschichte: Konturen einer „Animate History“, Stuttgart 2014, S. 8-33.
2Vgl. ebd., S. 31f.
3Vgl. Stalfort, Jutta: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den Wandel menschlicher Emotionalität (1750-1850), Bielefeld 2013, S. 57ff.