Tierliche und menschliche Topografien als Ergebnis von Interaktionsräumen in historischer
Analyse
Tiere sind in der
Geschichtswissenschaft keine völlig neuen Betrachtungsobjekte mehr.
Ganz im Gegenteil existieren bereits etliche Arbeiten, die sich mit
dem Tier oder den Tieren beschäftigen. Neu ist hingegen der Blick
auf jenes Tier als tierlichem Anderen, als Gegenüber, als Subjekt
und Akteur und nicht nur als Objekt von Deutungen, als Umweltfaktor
oder als dialektisches Gegenüber einer Identitätsgeschichte des
Menschen.1
Mit der Formulierung eines Bestrebens, sich dem Tier oder besser den
Tieren als Subjekte und Akteure der Vergangenheit und damit als zu
betrachtende, handelnde Teile in historischen Erzählungen, stellen
sich allerdings zwangsweise Probleme nach der methodischen Umsetzung
einer solchen Geschichte der Tiere ein. Das Ausrufen eines animal
turn und die Formulierung einer Animate History allein reichen nicht
aus, auch wenn bereits das Bedürfnis nach solchen Sichtweisen eine
eigene Untersuchung wert wäre. Soll es zu Untersuchungen und
Erkenntnissen jenseits des Bisherigen und des Bedürfnisses kommen,
so muss geklärt werden, wie ein Zugang zum tierlichen Anderen
geschaffen werden kann, es muss Quellen oder zumindest Lesarten
dieser geben, ein Etwas also, aus dem sich die Geschichte schreiben
lässt. Um solche Quellen zu finden, muss allerdings auch ein
Verständnis dafür entwickelt werden, was genau denn erforscht
werden soll und kann, um dann zu schauen, welche Quellen Aussagen
darüber zu Tage fördern könnten. Jener Grundlage einer Animate
History soll sich hier in Form eines Vorschlags genähert werden, der
den Ansatz eines symbolischen Interaktionsismus aufgreift und ihn,
performativ, emotional und spatial gewendet, weiterführt. Dies
scheint nötig, da auch jener Ansatz bisher zwar Tiere als Akteure
begreift, die auf uns reagieren und wir auf sie, die aber trotz allem
einer Geschichte des Menschen und der kurzen Momente der Interaktion
verhaftet bleibt, nicht aber Erkenntnisse außerhalb dieser kurzen
Interaktion über die Welt jener Tiere zu schreiben vermag.
Herauszuheben ist dabei die Betrachtung des gemeinsamen
Spazierengehens von Mensch und Hund, für das ein Wissen auf beiden
Seiten und eine Form der Institutionalisierung von Handlungsroutinen
bereit stehen muss, um dies zu ermöglichen.2
So wichtig dieser Fall und seine Betrachtung ist, weil sie am ehesten
den Anspruch einlösen kann, so bleibt er trotzdem bei einer
Geschichte jener Interaktion, die den Hund nur im Rahmen dieser
Interaktion und des Wissensaustauschs betrachtet. Ziel ist es hier
jedoch, darüber hinaus zu gehen und den Betrachtungspunkt zu
erweitern, sowohl in Bezug auf das Tier als Akteur, dem nicht nur ein
Wissen unterstellt wird, sondern dieses auch im Rahmen seines
Tierseins beschrieben, als auch insbesondere in Betrachtung
tierlicher Lebenswelt und deren Wandel mittels dieser Interaktion.
Die Frage ist also auch, wie verändert sich die Welt für den Hund
jenseits des Moments der Interaktion und wie kann dies beschrieben
werden? Denn jener grundsätzliche Wandel der Lebenswelt des Tieres
und dessen Beschreibung stellen den Zielpunkt einer solchen
Forschung.
Den Knackpunkt eines
Zugangs zu Tieren als Akteure bildet nun grundsätzlich der
Zusammenbruch klassischer dichotomer und absoluter Unterscheidungen
von Mensch und Tier. Besteht aber kein solcher absoluter Unterschied,
so kann es auch keine grundsätzliche methodische Verschiedenheit
geben, wie sich jenen Anderen genähert werden kann. Um einen Zugang
zu skizzieren soll das Beispiel eines Videos gewählt werden, das zur
Zeit auf Plattformen wie facebook die Runde macht.
Zu sehen sind ein Lemur
und zwei Kinder. Letztere kraulen den Lemuren, unterbrechen ihr
Vorhaben jedoch immer wieder. Der Lemur reagiert seinerseits auf
diese Unterbrechung damit, dass er die Kinder ansieht und die
Handbewegung des Kraulens simuliert, woraufhin diese erneut mit dem
Kraulen beginnen. Als erstes handelt es sich auch hier eindeutig um
eine Interaktion zwischen Menschen und dem Lemuren. Eine Analyse
dieser Interaktion läuft jedoch Gefahr, anthroprozentrische
Zuschreibungen als Grundlage zu wählen und damit menschliche Kultur
zu übertragen und dies bereits dann, wenn das Handeln selbst als
Kraulen bezeichnet wird. Dieser Begriff ist bereits ein menschlicher,
der eine menschliche Handlung und menschliche Bedeutungen beschreibt,
in das menschliche Bedeutungsnetzwerk von Handlungen eingeschrieben
ist. Kann also überhaupt davon gesprochen werden, dass das Kraulen
auf beiden Seiten existiert oder was ist es, was existiert? Damit
stellt sich auch die Frage, ob eine Geschichte des gemeinsamen
Spazierens in dieser Formulierung überhaupt Sinn machen kann. Krault
also der Mensch, während der Lemur gar nicht gekrault wird? Was aber
ist es dann, was dem Lemuren passiert, was er zu wollen scheint? Dies
sind Fragen, die gestellt werden müssen, wenn es darum geht, ein
Tier als Akteur ernst zu nehmen und ihm nicht einfach menschliche
Begriffe zuzuschreiben. Ein Weg aus diesem Dilemma bietet die
Emotionsgeschichte. In dieser stellt sich ähnlich die Frage, wie
überhaupt von Gefühlen (richtiger eigentlich Fühlkonzepte, weil
Gefühle bereits spezifische Formen von emotionalen Prozessen sind)
gesprochen werden kann, die es gar nicht in der eigenen Gefühlskultur
gibt, wie kann also etwas völlig Unbekanntes beschrieben werden?
Eine Lösung, die auch Stalfort in ihrer Geschichte zur Entstehung
des Gefühls nutzt, ist die s.g. reduktionistische Paraphrase der
Linguistin Anna Wierzbicka.3
Dabei wird ein Gefühl mit möglichst einfachen und quasi universalen
Begriffen beschrieben, die sich auf einer Ebene befinden, die allen
Kulturen verständlich ist. Diese Begriffe handeln von
Handlungsimpulsen, von Kategorien wie „angenehm“ und
„unangenehm“, von Situationen, in denen diese auftreten und der
Intensität. Damit lassen sich Gefühle auch in anderen Kulturen
verständlich machen, die diese nicht kennen. Freilich ist dieses
Gefühl darüber hinaus mit Bedeutung versehen, in dem es zum
Beispiel erwünscht oder unerwünscht ist, raumspezifisch ausgeprägt,
also nur in bestimmten Räumen erlaubt oder nicht erlaubt, vielleicht
nach Geschlechtern getrennt, usw. All dies ist Teil des Gefühls
einer spezifischen Kultur, das aber einen Zusatz darstellt und dieses
reguliert, deren Kern aber selbst nicht betrifft. Wenn ein Gefühl
plötzlich unangenehm wird, weil es woanders als erlaubt empfunden
wird, so liegt dies nicht am Gefühl als solchen, sondern vor allem
daran, dass es eine höhergelegene emotionale Topografie gibt, die
das Angenehme in bestimmten Situationen nicht unangenehm macht,
sondern diesem etwas Unangenehmes zusätzlich gegenüber stellt, um
es zu kontrollieren.
Wird diese Methode auf
das Kraulen angewandt, kann auch dieser Begriff soweit abstrahiert
werden, dass er als Forschungsbegriff benutzt werden kann. Auf diese
Weise wird auf die Gemeinsamkeiten verwiesen, um eine gemeinsame
Betrachtung dieser Handlung in der Interaktion zu ermöglichen.
Zugleich werden so die Zusätze menschlicher Kultur, wie auch die
Zusätze auf tierlicher Seite beseitigt. Diese sind dann als
Ergänzungen zu verstehen, die die beiden Perspektiven bestimmen, die
von beiden Partnern zwar nicht verstanden werden, was der Interaktion
aber keinen Abbruch tut, solange dies sich nicht auf den Moment der
Interaktion auswirkt. Geschieht dies aber, so lassen sich auch jene
Bedeutungen in Handeln übersetzen, einbetten in die Performanz der
Interaktion. Was dabei geschieht ist eine Übersetzung eines
kulturellen Inhalts auf der einen Seite in einen Inhalt auf der
anderen Seite. Die Deutung kann dabei verschieden sein, die Frage
nach dem Warum also ungleich beantwortet werden. Das bedeutet aber
eben nicht, dass jene Inhalte nicht in die jeweiligen Logiken
übersetzt werden können. Im Rahmen dieser Abnehmenden
Missverstehens als Verstehen ist es damit irrelevant ob Mensch und
Tier unterschiedlichen Logiken von Bedeutungen folgen, solange beide
ihre Handlungen aufeinander abstimmen können. Dem Tier muss es nicht
wichtig sein, ob der Mensch die Handlung aus religiösen oder
persönlichen Gründen Aufrecht erhält und dem Menschen muss nicht
bewusst sein, dass es sich um Fellfplege satt Zuneigung handelt,
damit die Interaktion glückt und in ihrer Intention und
wirklichkeitsverändernden Wirkung beschrieben werden kann. Dieser
Überschuss an Bedeutung auf beiden Seiten kann kompensiert werden.
Was bleibt nun vom
Kraulen übrig. In jedem Fall ist es eine Form des Körperkontakts,
eine Form der berührenden Interaktion, die und dies ist wichtig,
emotional gestützt ist. Warum das Kraulen in einer Kultur benutzt
wird, was also der Begründungsdiskurs ist und welchen
Bedeutungsüberhang dem zugesprochen wird, ist dabei für diese
Interaktion dann nur auf je einer Seite relevant, für die
Interaktion nicht, es ist nicht Teil dieser, sondern nur der
jeweiligen einzelnen Perspektive. Beiden gemeinsam ist aber die
emotionale Komponenten in Form körperlicher Erregungszustände, die
als angenehm empfunden werden und so den jeweiligen Akteur motivieren
und antreiben diese Handlung durchzuführen, unabhängig ob es um
Zuneigung oder Fellpflege als kulturellem bzw. biologischem Zweck
geht.
Die Handlung des Kraulens
institutionalisiert sich dabei als emotionale Performanz, als eine
Handlungsroutine, die mit angenehmem Empfinden verknüpft ist und
immer dann abgerufen werden kann, wenn ein Bedürfnis nach angenehmen
emotionalen Zuständen besteht, weil jene Handlung diese hervorruft
und damit bedeutet. Dafür ist keine Sprache notwendig, sondern
allenfalls eine Form von Erinnerung und Empfinden. Freilich kann eine
Kultur dieses Empfinden blockieren, zum Beispiel in dem Kraulen als
moralisch verwerflich gilt und mit einer Hölle bestraft wird. Auf
diese Weise wird ein Konflikt hergestellt zwischen angenehmem und
unangenehmem Empfinden und im Sinne dieser Moral entschieden, sofern
das Unangenehme stärker ist. Aber auch dies existiert wieder nur auf
einer der beiden Seite als zusätzliche Bedeutung, die die
Interaktion zum Beispiel verhindern oder befördern kann, die aber
nicht nötig ist, um die Interaktion aufrecht zu erhalten.
Verfügt der Lemur nun
über Erinnerung und Empfindung und dafür gibt es schon allein dann
Anzeichen, wenn er wiederkehrt und erneut danach verlangt,
konstituiert sich nicht nur für die beiden Kindern ein neuer Raum im
Rahmen dieser Interaktion, der sich institutionalisieren kann als
jener Raum, an dem eine bestimmte Handlung vollzogen wird, die
angenehm ist, sondern auch auf Seiten des Lemuren. Beide treten in
eine sich institutionalisierende Interaktion ein, die einen
emotionalen und performativen Raum schafft und auf diese Weise die
jeweiligen Topografien verändert, der Welt beider Seiten einen
weiteren Raum hinzufügt, mit Hilfe dessen sich in der Welt
orientiert werden kann.
Die Bedeutung dessen muss
nun nicht sprachlich kommunzierbar sein als Raum des Kraulens,
sondern kann in der Performanz und Emotionalität selbst liegen. Was
der Lemur für sich schafft, ist die Erinnerung an einen emotionalen
Raum, der aus einer Handlung seinerseits und einer Handlung der
Kinder als Antwort auf diese besteht, für deren Handlung er aber in
Interaktion treten muss. Damit hat auch der Lemur einen Raum
konstituiert als eine Art Institution aus Wahrnehmen, Erinnern und
Handeln, die bestimmten Regeln folgt, die beide Parteien kennen, über
die sie sich im Rahmen eines Kommunikationsexperiments austauschen
und verständigen. Damit handelt es sich auf einer höheren
kulturellen Ebene um zwei verschiedene Räume, in denen jeweils die
andere Spezies als Objekt, als Element auftritt, die entsprechend
Einfluss ausübt und „funktioniert“ und von der sich beide Seiten
letztlich ein anderes Bild machen dem eine andere und zusätzliche
Bedeutung beimessen können. Auf rudimentärer Ebene funktioniert
diese Interaktion dennoch und produziert einen Interaktionsraum
dessen Regeln beide kennen und an dem beide ein Bedürfnis haben,
auch wenn es sich um völlig andere Deutungen handeln mag.
Auf dieser Ebene ist es
aber möglich eine emotionale und performative Topografie auf beiden
Seiten zu erzählen, die sich immer dann ändern kann, wenn der
Interaktionsraum sich wandelt, wenn zum Beispiel mehr Kinder oder
mehr Lemuren dazukommen oder es zu Zwischenfällen in diesem
Selbstverständlichen kommt, die den Raum vielleicht unangenehm
machen und folglich wiederum die Bewegung „in“ der Welt
beeinflussen, die Topografie verändern und den Dorfplatz für eine
oder beide Partein zum unangenehmen Raum machen.
Das Problem bei der
bishierigen Betrachtung besteht darin, dass nur eine Seite des
Spiegels dieser Interaktionen betrachtet wird, so dass der Mensch als
Subjekt auch außerhalb dieses Moments auftaucht, das Tier darüber
hinaus wieder zum Objekt wird, seinen Akteursstatus nicht weiter
verfolgt wird. Hier aber zeigen sich beide als Subjekte, als Akteure,
deren Welt nachhaltig in ihrem Werden beschrieben werden kann.
Wie kann dies aber nun
historisch untersucht werden? Wo sind die Quellen?
Eine ähnliche
Beobachtung ist historisch nicht möglich aber das ist sie auch nicht
bei einer Geschichte nicht der Kindheit, sondern der Kinder in der
Frühen Neuzeit. Auch von diesen existieren selbst keine Quellen.
Trotzdem lässt sich eine solche Geschichte ähnlich erzählen. So
existieren Quellen, die das Handeln beschreiben, Normen, Verbote,
Strafen, Bilder, usw. Zwar sind jene Quellen immer durch eine
Perspektive geprägt, dies ist aber ein immanentes Problem der
gesamten Geschichtswissenschaft, das nicht der Animate History
aufgebürdet oder gegen diese ins Feld geführt werden kann. Auch
wenn Bewertungen mitschwingen, so lassen sich doch Bewegungen und
Handlungen lesen, auf die damit reagiert wird oder die verhindert
werden wollen. Selbst wenn eine der beiden Logiken der Teilnehmer
nicht bekannt ist, kann jene Interaktion beschrieben werden. Auch
jene Quellen zeigen Formen der Aneignung von Welt durch jene Kinder
und deren performative Topografie, die ihre Welt bestimmt und ist.
Dabei geht es also
weniger um Sprache, als vielmehr Performanz, um Performanz als
Sprache, der Körper wird zum Medium einer solchen Geschichte und
alle Quellen, die jenen Körper in Bewegung zeigen, kommen so
infrage, jede Interaktion also, jede Bewegung, die auf Bewegung
reagiert, das Handeln wird zur Sprache der rudimentären Ebene zweier
Akteure, die in ihren jeweiligen Welten handeln, sich aufeinander
einspielen, in Interaktion treten, ohne dass eine Seite die andere
völlig verstehen könnte. Dieser Tanz ist nichts anderes als die
Kommunikation selbst. Die Bedeutungen der einzelnen Schritte sind
unklar aber die Ähnlichkeiten der Körper erlauben es zumindest
einige der Schritte aufeinander abzustimmen.
1Siehe
dazu als Zusammenfassung und Ausblick Krüger, Gesine; Steinbrecher,
Aline; Wischermann, Clemens: Animate History. Zugänge und Konzepte
einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren, in: Krüger, Gesine,
u.a. (Hrsg.): Tiere und Geschichte: Konturen einer „Animate
History“, Stuttgart 2014, S. 8-33.
2Vgl.
ebd., S. 31f.
3Vgl.
Stalfort, Jutta: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den
Wandel menschlicher Emotionalität (1750-1850), Bielefeld 2013, S.
57ff.
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