Im Prinzip soll sich der folgende Text
einem immer wieder gebrauchten Scheinargument bedienen, das wohl
viele schon benutzt oder gehört haben und das auf den ersten Blick
und wie wir sehen werden auch auf den zweiten, nicht völlig abwegig
ist, sogar verständlich scheint. Da es jedoch häufig als
„ultimatives Argument“ gebraucht wird, um dem Gesagten des
Gegenübers engültig die Berechtigung zu versagen, soll es einmal
genauer betrachtet werden.
Es gibt viele verschiedene Varianten
davon, die Beliebtesten sind vielleicht die Aussagen „Du warst aber
(im Gegensatz zu mir) nicht dabei!“, „Du hast das gar nicht
miterlebt!“ oder „Du warst noch nie in einer solchen Situation
und kannst das nicht beurteilen!“. Philosophisch ausgedrückt
heisst das nichts anderes, als die Behauptung aufzustellen, ein
In-der-Situation-sein oder Gewesen-sein“ bedeutet einen
epistemischen Vorteil zu haben. Verbunden wird dies häufig mit dem
Glauben daran, bessere und exaktere, im Sinne von wahrere, Aussagen
über sich selbst zu machen, weil man ja man selbst ist und so einen
authentischeren, direkteren, unmittelbareren und damit ebenso
wahreren Zugang zu sich selbst habe.
Relevant ist dieser Einwand nicht
zuletzt für Historiker, denn wir waren ja nicht dabei.
Um nun sowohl das Problem genauer zu
betrachten und seine Stichhaltigkeit zu prüfen, soll, wie es
Philosophen ja ganz gern machen, ein vereinfachtes Beispiel gewählt
werden, um die zentralen Punkte zu verdeutlichen.
Level 1
Nehmen wir zwei Personen an, Person A
und Person B. Nehmen wir nun an, dass Person B in einem Karton sitzt,
Person A sitzt außerhalb dieses. Nun unterhalten sich beide über
die Situation von Person B. Person A könnte nun sagen, dass Person B
in einem Karton sitzt, während Person B antwortet, dass dies nicht
stimme, denn sie sitze im Dunkeln und wisse aus ihrer Perspektive
freilich besser Bescheid. Der Clou ist, beide haben Recht. Und Person
A hat auch dann Recht, wenn er nie in einem Karton gesessen hat, da
seine Aussage sich auf einen völlig anderen Aspekt bezieht, der sich
aus der unterschiedlichen Perspektive ergibt. Während Person B also
durchaus eine Wirkung angeben kann, die Person A in diesem Beispiel
nicht kennt, kann Person A in dieser Hinsicht den Grund dafür
angeben, eine Struktur, die dies bedingt und die Person B aufgrund
seines Sitzens in dem Karton und der sich daraus ergebenen
Perspektive nicht erkennen kann. Beide haben also eine spezifische
Perspektive, die sich bereits deswegen unterscheidet, weil beide in
anderen Formen des In-der-Welt-Seins „gefangen“ sind.
Beide können nun versuchen ihre je
andere Perspektive zu nutzen, um je mehr über die Welt zu erfahren
und zwar über die Welt, die sie beide teilen, im Rahmen dessen sie
diese Welt erst zu einer geteilte Welt machen. Vielleicht werden die
beide das In-der-Welt-sein der je anderen Person erfahren können
aber sie können ihr eigenes Weltbild erweitern, also ihre
Vorstellung davon, welche Perspektiven noch zu dieser gehören und,
dies ist das wichtige, welche Beschränkungen herrschen, die ihren je
eigenen Blick bedingen, ihn lenken und damit auch das eigene
Verhalten.
Voraussetzung dafür ist aber die
Anerkennung von multiplen Perspektiven und die Abkehr vom Glauben der
beiden Annahmen, dass 1. ein In-der-Situation-sein einen per se
epistemischen Vorteil hat und 2. derjenige in der Situation
automatisch mehr darüber weiß, was diese Situation ist.
Bonuslevel
Was genau tun nun Wissenschaftler, vor
allem Geschichtswissenschaftler? Das hängt mit davon ab, welcher
geschichtsphilosophischer Richtung sie sich angeschlossen haben, was
ihre Frage ist, welche Methoden sie anwenden, usw. Wer noch
Geschichtenerzähler der älteren Richtungen ist, wird nach der
Person in dem Karton schauen, seine Biografie schreiben, seine
persönlichen Daten aufschreiben, den Tag der Entstehung des Kartons,
den großen Sieg Einzug zum Gedenktag erheben, dies alles allerdings
nur, wenn es sich auch lohnt, Person B also irgendwie berühmt ist,
um zu zeigen wie wichtig Person B für die Welt ist, usw....
Strukturalisten hingegen schauen vor
allem auf den Karton, denn dieser bestimme das Leben von Person B,
indem er dessen Welt vorgibt, die Struktur, die
Bewegungsmöglichkeiten, usw. Es geht also daran, den Karton zu
vermessen, ihn mit anderen zu vergleichen, Mittelwerte zu errechnen,
den idealen Karton, an dem die idealen Personen Anteil haben. Die
Person sitzt drin, sie ist die vom Karton gebeutelte...
Kulturhistoriker hingegen schauen sich
jene Person an, jedoch anders als vorher. Die Betrachtung gilt der
Beschreibung des Im-Karton-seins. Wie bewältigt die Person diese
Situation, welchen Sinn gibt sie ihr, wie verständigt sie sich mit
anderen, wie verstetigen sie das Leben im Karton als gemeinsames
In-der-Welt-sein, welche kulturellen Praktiken ergeben sich, usw.
Dabei ist es nicht der Karton in seinen Maßen der interessiert,
sondern der Karton wie er der Person innen erscheint und dieses
Erscheinen wird als Einfluss, als prägend angesehen. Im Idealfall
wird dabei ein s.g. praxelogischer Ansatz gewählt, der den
strukturalistischen Karton berücksichtigt, als Rahmen der
Bedeutungszuweisung, die den eigentlichen Einfluss ausmacht und
zugleich eine Wechselwirkung untersucht, die den Karton auch in
seinen Maßen als zumindest zum Teil durch die Kultur der Person
beeinflusst sieht, in dem jene Kultur auch auf das vermeintlich
statische einwirkt, während der Karton sich auch langsam selbst
wandelt, verfällt, an manchen Stellen geflickt wird, an anderen
bewusst aufgerissen um den Blick zu erweitern, der eingeteilt wird,
um verschiedene Teile verschiedenen Funktionen zuzuweisen, der immer
wieder anders erlebt wird, je nachdem, in welcher Verfassung die
Person ist, usw.
Level 2
Das zweite Level ist nun schwieriger.
Denn eigentlich befindet sich nicht nur Person B in einem Karton,
sondern auch Person A. Beide können sich dabei trotzdem sehen, der
Karton ist nicht völlig undurchsichtig, sondern ein milchiger
Schleier, verschwommen, unscharf, mit uneinsehbaren Bereichen. Durch
diesen können beide auf einander schauen. Wenn beide wissen wollen,
wie die Welt beschaffen sei, müssen sie miteinander reden, ihre
Wahrnehmung abgleichen. Die Crux dabei ist, dass sie nur die
Wahrnehmung haben und sich darüber verständigen was dies ist das
sie sehen, um auf diese Weise zu vereinbaren, was denn zu sehen sei
und nochmehr, was dies zu bedeuten habe. Da beide aber in
unerschiedlichen Kartons sitzen ist das schwer. Nun könnte man
sagen, Person B hat einen epistemischen Vorteil, wenn sie auf sich
selbst schaut, weil dieses Schauen ist unmittelbar, es befindet sich
ja in dem Karton, währnend Person A durch seinen eigenen erst
hindurchsehen muss. Der erste Einwand dagegen ist, dass beide immer
noch über etwas völlig anderes sprechen, über Struktur und
Erleben. Der zweite Einwand ist, dass das Im-Karton-sein ja weiterhin
eine Perspektive darstellt, die durch diesen Zustand geprägt ist und
zwar so, dass es Person B selten merkt. Und auch dieses Erleben ist
dabei durch die Kultur geprägt, also den normativen Austausch vieler
Leute in Kartons, die dann darüber sprechen was es heisst aber auch
was es heissen soll, das Im-Karton-sein zu erleben.
Bonuslevel
Dieses epistmeische Problem gehen
Wissenschaftler nun dahingehend an, dass sie, bevor sie Andere
betrachten, sich erst einmal selbst in den Blick nehmen (sollten). Es
muss also geklärt werden, wie der „eigene“ Karton die eigene
Wahrnehmung bestimmt, durch das eigenen Erleben, Fühlen, Denken,
usw. Dieser Blick schärft sich dabei eben auch an der Untersuchung
des Anderen immer weiter, denn es gilt zu schauen, wie auch dessen
Wahrnehmung sich mittels kultureller Prozesse schafft, die dann
wiederum auf das eigene Sehen angewendet werden. Das ist übrigens
der wichtigste Kern von Bildung, von Historischer Bildung
insbesondere. Dabei produziert auch der Wissenschaftler Erzählungen
von Personen in Kartons und diesen Kartons, die durch die Erzählungen
seiner eigenen Zeit, seines eigenen Kartions beeinflusst sind,
Perspektiven über Perspektiven also. Deren epistemisch höhrer Wert
liegt allerdings darin, dies zu berücksichtigen. Dies nennt sich
dann erkenntnistheoretische und methodische Reflektion. Diese kann
dazu führen, mehr erfahren, in Wechselwirkung vom Anderen und sich
selbst. Der Mehrwert besteht dabei auch darin zu zeigen, wie sich der
Karton auswirkt und wie sich wiederum das Im-Karton-sein auf diesen
auswirkt. Ein Wissenschaftler kennt so idealerweise die Erzählungen
des Im-Karton-Seins als kulturell erlernte Muster, dessen sich Person
B nicht bewusst ist und die automatisiert ablaufen, er kennt die
Auslöser dafür, die Gründe und Begründungen, die vielen
Erzählungen und er kann bedingt Aussagen darüber machen, wie solche
Dinge ihn selbst dazu bringen all jenes zu sehen, zwar unvollständig
aber doch in größerem Umfang als es Person B möglich ist. Der
Unterschied besteht in einem Wissen um dieses Prozesse im Gegensatz
zu einem kreativen Gefangensein in diesen Prozessen.
Level 3
Allerdings ist es mit zwei Personen und
zwei Kartons oder dessen Multplizierung nicht getan, denn jeder
steckt zeitgleich in vielen Kartons, die sich überlappen und die er
mit anderen teilt.
Bonuslevel
Das wahnsinnige Unterfangen besteht
jetzt darin dies alles zu berücksichtigen in Bezug auf sich selbst
als produktiver und damit auch verzerrender Teil der eigenen
Wahrnehmung, als auch in Bezug auf alle Anderen, auf die, die
untersucht werden. Je mehr Gründe und Begründungen, je mehr
Einflussfaktoren, je mehr Kartons also bekannt sind, umso besser kann
das Verhalten erklärt werden, umso höher der epistemische Vorteil
gegenüber denen, die sich Selbst im Karton lediglich befinden.
Bossfight
Als Letztes steht nun generell ein
epistemisches Problem an, nämlich die Frage, was, auf welche Weise
und ob überhaupt etwas existiert, ob wir Zugang dazu haben usw.
Die Frage kann dabei unterschiedlich
beantwortet werden. Mein persönlicher Cheatcode ist der
Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass die Welt zwar existiert
aber wir ihr nur als Welt begegnen, also als die Gesamtheit der
Erzählungen, die wir uns von ihr machen und von der wir nie wissen,
ob sie auch nur im Entferntesten mit jener Welt übereinstimmt. Das
aber ist kein Problem, eben weil wir es nicht wissen können. Als
kulturelle Wesen schaffen wir die Bedeutungen selbst, wie wir uns
auch dabei beobachten können. Weil es aber diese Bedeutungen sind,
die von uns selbst wechselseitig in unsere vielen Kartons geschaffen
werden, die unser Handeln bestimmen, sind es auch diese, die es zu
erforschen gilt, denn sie sind alles was wir haben. Weil dies aber so
ist, weil damit unser Erleben selbst in Kategorien abläuft, wissen
wir selbst auch nicht zwangsweise mehr über uns, bloss weil wir wir
selbst sind, denn was wir tun ist jene Erzählungen anwenden, an
deren Gestaltung wir mitwirken, die wir aber nicht selbst
hervorbringen. Wer die Erzählungen, ihre Gründe und Begründungen,
die Kartons kennt, der weiß damit eine Menge über uns, auch wenn er
es nicht nacherleben kann.
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