Samstag, 30. November 2013

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele

Hier, als dritter Eröffnungspost ein paar kürzere Sachen, um einen Einblick ins Themenspektrum zu bieten und ersten Lesern ein wenig mehr zu bieten...

Wahllos aneinandergereiht...

Kunst und Wert
Der zentrale Mehrwert von Kunst für Bildung besteht weder in der ästhetischen Aufarbeitung wissenschaftlicher Ergebnisse (wie z.B. bei der künstlerischen Erprobung relationaler Raumvorstellungen), noch in der Vermittlung von Möglichkeiten der Erprobung neuer Ausdrzcksformen zu diesem Zweck oder zum Zwecke der Schaffung eines Selbst, sondern vor allem in der Thematisierung der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, indem die Kunst es vermag alternative Wirklichkeiten gestalterisch zu erschaffen oder diese auch nur abzubilden und somit vermittelbar, erfahrbar zu machen.


Welt und Wirklichkeit
Eines der größten und schwerwiegensten Missverständnisse, der die Allgemeinheit zum großem Teil aufsitzt, liegt in der Annahme des s.g. "Naiven Realismus" begründet, als der Idee, dass die Welt so ist, wie sie sich uns in unserer Wahrnehmung darstellt. Die "Realität", oftmals die Problematik verschärfend normativ aufgeladen und als "Normalität" gesetzt, wird so zur Begründung des Handelns. Diese ist jedoch nicht mehr als ein Konstrukt, ein Ideal, dass sich aus einem
möglichen Ausschnitt der (Be)Deutungsvielfalt herausschält und ihrerseits die Wahrnehmung der Welt prägt. Diese Konstruktion erfüllt zum Einen den Sinn, dem Chaos der Vielfalt zu entkommen und Handlungsfähigkeit zu erzeugen und zum Anderen, um Gemeinschaft über eine gemeinsam
konstruierte und bestätigte Wirklichkeit zu schaffen. Dabei bildet diese Normalitätskonstruktion nur ein Ideal, eine Bedeutungsnetzwerk an Möglich- und Verbindlichkeiten, aus dem sich je unterschiedlich stark die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bedienen. Die Funktion wird also nur zum Teil erfüllt und das Ideal selbst wird nur unzureichend und in starkem Sinne nur von einer Minderheit getragen, die mit unterschiedlichen Aneignungen und konkurrierenden Wirklichkeit im Konflikt steht.
Dies heisst nun nicht, dass wir in einen Relativismus verfallen dürfen oder müssen. Es heisst lediglich im Sinne kritischen Denkens die eigene Wirklichkeit zu hinterfragen und geeignetere Bewertungskriterien zu finden als jene nach einer größtmöglichen Passung mit einer nicht existierenden (bzw. nicht zugänglichen) Realität.
Diese Bewertungskritieren richten sich ihrerseits nach ihrer Funktion. Für die Psychotherapie ist das Auswahlkriterium für eine Wirklichkeit ein erträglicheres Leben für das Individuum, für generelle, in diesem Sinne moralischere Handlungsweisen, ist es die Ethik selbst, die das Kriterium stellt. In diesem Sinne steht die Forderung nach einer Ethik, die sich als Methode und nicht als Normenkatalog und damit als eigenständige Wirklichkei präsentiert.


Gesellschaft, Ordnung und Verbrechen
Jede Gesellschaft schafft sich ihre Verbrechen und Verbrecher selbst. Die Gefängnisse und ihre strafende Praxis sind der Spiegel dieser Gesellschaft und ihres unhinterfragten Werte- und Verstehenshorizonts. Was strafen wir an einem Mörder? Das Töten ist der Allgemeinzustand, es geschieht täglich, stündlich, minütlich. Das Töten ist eine Kulturtechnik. Am "Tier" und "Feind" geübt, in Ausübung wie Akzeptanz, ist es nur ein kleiner Schritt zum Menschen allgemein. Worin besteht der qualitative Unterschied? Was die Gesellschaft am Mörder straft ist nicht das Töten selbst, es ist die Verletzung ihrer kategorialen Ordnung.


Wissenschaft
Wissenschaft, abseits ihres selbstgerechten Postulats und des Drucks seitens der Masse, der sich aus Argowhn speist, wertet immer. Das Auswahl des Themas ist eine Wertung und die Zurückhaltung, die letztlich das Bestehen der Welt(deutung) bestätigt, ist eine Wertung. Sie muss sich dessen bewusst werden und soll werten. Wissenschaft soll nicht nur finden, was die Welt im innersten zusammenhält, sondern ihre Ergebnisse selbst wertend und verändernd einbringen statt diese Ergebnisse schlicht instrumentalisieren zu lassen, denn letzteres ist ihr größter Fehler. Philosophie raus aus dem Elfenbeinturm und rauf auf die Straße, rein in die Gesellschaft und auf die Barrikaden!


Wahrnehmung und Veganismus
"Du denkst also, du bist das besseres?!" ist eines der Grundvorwürfe gegen Veganer und Vegetarier.
Dass dieser Ausspruch Sinn macht bedeutet, dass es keine Vorbilder, keine Helden des Alltags gibt und geben darf. Gegen jede Form des Besseren wird uns ein grundlegendes Unbehagen anerzogen, das die Massen und ihren Konformismus als Ideal feiert und die Quantität als Legitimationsprinzip bestätigt.
Dabei wird jedoch das "Besser-sein" nicht negiert, sondern schlicht ignoriert, um in Selbstgerechtigkeit verharren zu können.
Freilich wird dabei übersehen, dass zu unterscheiden ist zwischen ethischerem Denken und moralischerem Handeln oder Leben, dessen Unterscheidung oder besser Nichtunterscheidung einen Teil des Unbehagens ausmacht, da noch mehr als gegenüber moralisch besserem Handeln, Vorurteile gegen ethischeres Denken, dass immer präskriptiv, belehrend, verändernd sein muss(!), bestehen.
Wir alle sind nun aber relativ, auf unterschiedlichen Gebieten, moralisch besser lebend als andere. Wir alle genügen relativ höheren Werten gemessen an ethischen Massstäben.
Jedoch sind nur einige davon durch die Masse legitimiert und genau hierin liegt die Wurzel ethischeren Denkens, dem sich jedoch nur wenige befleissen.
Freilich ist auch der Veganismus ein Schema (wie auch und noch problematischer das Essen von Fleisch), das angeeignet wird, sich auf Vorannahmen und Dogmen bezieht, denn das Denken und Handeln in und mit Hilfe von Schemen gehört zur Grundstruktur menschlichen Seins. Und freilich bedeutet dies auch, dass viele Veganer nicht "besser" sind, im Sinne, dass sie sich häufiger ethischer Reflektion hingeben, ihr Handeln im Alltag häufiger auf ethischem Denken basiert. Aber dies bedeutet nachwievor, dass sie genau auf dieser einen Ebene, gemessen an ethischen Massstäben moralischer handeln und genau das macht sie "besser" in Relation zu Menschen, die dies nicht tun. Gegen diese Bewertung besteht jedoch eine zutiefst ablehnende Haltung, die ihren Ursprung im Postulat der individuellen Gleichheit der Voraussetzung zur moralischen Bewertung hat und im Dogma der Toleranz, entstanden aus der Ablehnung objektiver und absoluter Wahrheiten. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Negierung einer absoluten Wahrheit oder eines absoluten Guten sehr wohl zwischen Alternativen entschieden werden kann, diese Entscheidung jedoch Reflektion und Wissen benötigt, dass nicht ohne Weiteres zugänglich ist. Expertenwissen wird jedoch überall dort abgelehnt, wo es sich auf Erklärungen von Handeln oder Aufruf zum Handeln bezieht. Nicht zuletzt zeigt sich dies in der Ablehnung und dem Unverständnis gegenüber den Geistes- und Sozialwissenschaften, der Neurobiologie und der Psychologie.
An diesem Wissen und der Fähigkeit zum ethischeren Denken und an dem moralischeren Handeln einzelner, ist nun jedoch weder etwas Verwerfliches, noch Schreckliches. Das "Besser-sein" einiger ist die Grundlage für jede moralische Weiterentwicklung. Wir sollten endlich lernen Weiterentwicklung anzuerkennen, insbesondere auch dann, wenn sich diese Weiterentwicklung auf nicht schon ausgetretenen Wegen bewegt, nur sollten wir dabei nie vergessen, dass auch wir immer "besser", als auch "schlechter" sind.

Veganismus, auch wenn er sich gern anders verstanden haben will, hat oftmals mehr mit dem ihn aneignenden Individuum zu tun, als mit "den Tieren", den er in den meisten bestehenden institutionalisierten Formen wenig hilft. Der größte Antrieb ist eher die Aufrechterhaltung der Vorstellung eines moralisch integren Selbst gemäß des eigenen Wertesystems, dass sich jedoch in weiten Teilen immer noch innerhalb annerkannter Wertesysteme bewegt und eher das Selbst zum Ziel hat, als das in seinem moralischen Status neu bewertete "Opfer"-Individuum. In der praktischen Arbeit geht es entsprechend in der Regel nicht um das Leid der gegenwärtigen Tiere um ihrer Selbst willen. Vielmehr ist dieses Leid rhetorisches Mittel und theoretische Begründung, um das eigentlich in den Handlungen implizit oder explizit anvisierte Ziel zu befördern: das Verhindern der Produktion zukünftiger Generationen die Leid ertragen müssen. Dieses Ziel ist dabei keinesfalls gering zu schätzen, es missachtet als alleiniges jedoch die gegenwärtigen Opfer zugunsten des Schutzes des eigenen Selbst und der "Herrschaftsgruppe".
Nur wenige sind demgegenüber bereit, die nötigen Schritte zu denken, geschweige denn auszuführen, um auch gegenwärtiges Leid zu beenden. Die Masse ist dafür
"zu gut erzogen". Das Resultat dieser "Erziehung" ist die beständige Reproduktion von Sklaverei und Barbarei unter dem Schutz einer falsch verstandenen Zivilisiertheit. Die Reduktion von Handlungsoptionen in der Durchsetzung von Zielen hat uns von Barbareien befreit, ebenso wie sie uns in Barbarei verharren lässt und jede Veränderung in eine bessere Zukunft verdrängt und die Gegenwart und ihre Opfer gering schätzt. Was ist damit gemeint? Die Frage ist nicht, ob Gewalt schlecht ist, wie man heute gerne meint, sie ist einfach, wir treten ihr als einer Konstanten gegenüber. Wir haben einige Formen der Gewalt nur durch andere ersetzt, einige barbarisiert, andere kultiviert. Diese kultivierten Gewaltanwendungen sind nun dank der Barbarisierung anderer Formen kaum zu überwinden oder kurzfristig, mit Blick auf die Gegenwart der Opfer, zu beenden.
Der Schlachthof im Zusammenhang mit dem Schutz des Eigentums, wie auch jede Form bürokratisch-struktureller Gewalt sind die besten Beispiele hierfür.

Wenn der Veganismus mehr sein will und soll als ein weiteres, wenn auch moralischeres Weltdeutungsangebot und Handlungsschema, sondern sich zugleich als ethische Methode begreifen und damit wirklich ethischen Ansprüchen genügen, muss sein Kern im Hinterfragen von Konventionen liegen.
Dies muss sich nicht zuletzt, sondern vor allem auch auf seine eigenen Konventionen, sein eigenes Tun erstrecken. Er muss damit auch jeder aus ihm stammenden Regel mit Skepsis begegnen und sich beständig neu erfinden.

Kultur kennt maßgeblich zwei grundlegende Ebenen.
Als das Phänomen bezeichnet, wie Gesellschaften sich selbst und ihrer Umwelt Sinn und Bedeutung verleihen und tradieren und welche Bedeutungen das sind, kennt sie eine "primitive" oder erste Stufe und eine zweite.
Die erste besteht darin, Phänomenen maßgeblicher physikalischer Natur Funktionen und Bedeutungen zuzuschreiben, die Ihnen aufgrund ihrer wahrnehmbaren physikalischen Eigenschaften zukommen (so z.B. bei Werkzeugen wie Stöcken, die gebraucht werden, um damit Nahrung zu erreichen). Die zweite Ebene ist komplexer, da hier Phänomenen Bedeutung und Funktionen zugeschrieben werden, die diese Funktionen überhaupt erst konstituieren. Geld in Form eines Geldscheins oder soziale Institutionen wären solche Phänomene, da ihre physikalischen Eigenschaften nicht die sind, aus denen sich grundsätzlich die Funktion speist. Erst durch die Zuschreibung sind diese Phänomene überhaupt fähig, diese Funktion erfüllen zu können in einem sehr rudimentären Sinn.
Das bringt uns dazu, dass wir nicht umhin kommen auch Tieren zumindest primitive Formen von Kultur zuzuschreiben, Formen, denen auch Menschen sich nachwievor bedienen. Als eine grundsätzliche Trennung von Mensch und Tier kann Kultur somit nicht mehr gelten, allenfalls ein gradueller Unterschied ist auszumachen. Damit muss eine weitere Grenze, ein weiterer Rettungsanker der Dichotomisierung fallen.

Eine der großen Schwierigkeiten der Anerkennung von Tierrechten liegt in der unsichtbaren Struktur gesellschaftlicher Wirklichkeit, die völlig unzureichend oder besser gar nicht, reflektiert wird. Die Wahrnehmung des Wesens des Seins der Tiere innerhalb unserer Lebenswelt ist erlernt als nur aus menschlichen Zwecken bestehend, die die immanenten Eigenschaften ihres Seins, also all jene, die nicht durch Zwecke für uns bestimmt sind, völlig aus der Vorstellung, die wir von ihnen haben entfernt. Diese Eigenschaften gehören scheinbar nicht einmal dem semantischen Gehalt der Begriffe an und zeigt sich besonders deutlich in perfiden Bezeichnungen wie "Nutztier". Diese sich in der Verteidigung gegen Tierrechte zur Ideologie verdichtende "Ontologie des Tieres" gilt es zu durchbrechen, nicht nur um den Tieren zu ihrem Recht in mehrfacher Bedeutung zu verhelfen, sondern auch als Beitrag zu einer mündigeren Gesellschaft.


Living History
Ein großes Problem, das sowohl klassische Museen aber auch Living History in seiner Fixierung auf Sach"kultur" aufweisen, ist, dass sie Artefakte fremder Kulturen losgelöst von ihrem sozialen Kontext präsentieren, der ihre Bedeutung (die in großen Teilen ihre Verwendung und ihre semantisches Feld ist) allererst erst konstituiert. Damit bleibt dem Betrachter nur der Rückschluss auf Reste ähnlicher Bedeutungen in der Gegenwart und führt dazu, dass nur ein kleiner Teil der Bedeutung letztlich erfasst wird. Dies wird verstärkt durch den Umstand, dass Teile der Bedeutung, ihrer Konstitution und des semantischen Gehalts auch gegenwärtiger Artefakte kaum bewusst werden und wo sie es sind, als unhinterfragter quasi-objektiver und quasi-natürlicher Betsandteil des Artefakts selbst gedacht werden. Die sozio-kulturell bedingte Konstruktion der Bedeutung des Artefakts, die den eigentlich Kern der Betrachtung darstellen sollte, da sie den eigentlichen Mehrwert darstellt, bleibt somit weithin verborgen. So wird ein großer Teil des Bildungspotentials verschenkt, Wissen wird zwar vermittelt aber Bildung kaum geleistet. Eine noch auszuarbeitende Didaktik des Living History als Vermittlungsmethode muss dies berücksichtigen.


Schule, Bildung und kritisches Denken
Wer intellektuell in diesem Land etwas wird, erreicht dies trotz der euphemistisch so bezeichneten Bildungsinstitutionen. Weder in der Schule, noch zunehmend in der Universität wird noch Bildungsarbeit geleistet, ein kritisches Bewusstsein aufgebaut. Vielmehr wird nur noch formales Wissen vermittelt und alles unter das Paradigma des Kapitalismus gestellt. Diese Fixierung auf formales Wissen wird begleitet von der fetischistischen Hofierung bestimmter Teile der Naturwissenschaften und des Ingenieurwesens. Auf diese Weise erhält sich das System stark. Das "Bildungssystem" gebiert so fortwährend Individuen mit mangelnder Bildung, ohne kritisches Potential, ohne die Fähigkeit der Infragestellung oder nur der Wahrnehmung der Konstruktionsmechanismen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es sorgt dabei jedoch für eine innovative, auf Technik fixierte Geldmaschinerie. Eine nötige Bildungskritik wird so notwendig immer auch Systemkritik.

Wissenschaft ist das fast blinde Herumstochern im lebendigen Körper der Welt, um zu wissen, was die Welt im innersten zusammenhält und dies mit Gedankeninstrumenten, die geschaffen wurden ohne wirklich zu wissen, was einen dort drin erwartet...

Philosophen und richtig verstanden könnte man dies auch auf fast alle Geistes- und Sozialwissenschaften erweitern, sind mit einem besonderen Privileg ausgestattet. Sie dürfen Konventionen, Gewissheiten, Identitäten und damit auch Legitimationen hinterfragen, kritisieren und zu Fall bringen. Dieses Privileg wird ihnen jedoch zum Preis allgemeiner Geringschätzung ihres Urteils und ihrer gesamten Disziplin durch die allermeisten Systeme und Systemebenen gewährt, in denen sie operieren. So erhält man die Illusion von Kritik und denkerischer Freiheit, zahnlos, ungefährlich, unbedeutend. Mit diesem Handel muss Schluss sein. Philosophie darf sich nicht im Denken erschöpfen, sondern muss auch Handeln sein, das seine Bedeutung einfordert.

Ob im Job, in der Schule oder allgemein in der sozialen Welt, der Verweis auf Konventionen als scheinbar nicht weiter zu begründende objektive Fakten und Handlungsanweisungen ist die Regel. Dabei haben Konventionen weder einen eigenen Wert außer eines instrumentellen, noch sind sie zwangsläufig. Sie sind vielmehr veränderbar, willkürlich und einer bestimmten historischen Entwicklung und psychischen und sozialen Bedürfnissen im Rahmen bestimmter Weltdeutungssysteme geschuldet.
Sie bieten Orientierung und Sicherheit, sie sind der quasi-religiöse Mantel, der das soziale Leben bestimmt. Sie sind der einfache Weg des Konservatismus, indem man sich blind treiben lassen kann, um den Preis jedwede Ungerechtigkeit beständig zu reproduzieren und jedweden Anspruch auf ein ethisches Leben aufgeben zu müssen, sich ihnen zu unterwerfen ist zugleich der Untergang in den Relativismus und moralischen Deskriptivismus.
Der andere Weg besteht darin, ihr wahres Sein zu erkennen und sie und ihren offen wie verborgenen Einfluss beständig zu hinterfragen.
Die Erkenntnis dieses eigentlichen Seins von Konventionen ist dabei die allererste Grundbedingung kritischen Denkens.

Je gebildeter ein Individuum wird, in einem Sinne, dass diesen Namen verdient, je mehr es Stufen kritischen Denkens erreicht und moralische Urteile losgelöst von Konventionen treffen kann, je mehr es das Handwerkzeugs erhält soziale und kulturelle Mechanismen zu analysieren und zu durschauen, desto größer werden der Nutzen und die Gefahr für Systeme jeder Größe.
Gib einem solchen Individuum Freiheit zur Entfaltung und es wird verändern, setz ihm konventionelle Grenzen und es wird zerstören, sich selbst oder das System.

Je mehr sich das Individuum mit Sozial- und Geisteswissenschaften, mit Psychologie und Neurobiologie beschäftig und darannicht zerbricht, nicht sein Selbst im Strudel der Komplexität der sozialen, kulturellen und biologischen Prozesse verliert, kurz, je mehr ein Individuum sich bildet in einem Sinn, der diesen Namen verdient, umso mehr schwinden liebgewonnene Dogmen, umso komplexer wird das Gewirr aus Prozessen und Mechanismen, die verändert und angeeignet werden, umso mehr öffnet sich das komplexe Gewebe der sozialen Welt und umso kleiner wird der Spielraum einer Anthropologie, die auf den freien Willen aufbaut und gleichzeitig öffnet sich ein neuer Spielraum von Handlungen und Entscheidungen. Umso mehr müssen liebgewonnen, Sicherheit und Orientierung versprechende Feindbilder weichen. Der Hass weicht Verständnis aus dem Mitleid erwächst, dass strafen aber nicht verurteilen kann.
Umso mehr müssen letztlich sich als Selbstzweck inszenierende, primitive Weltdeutungen und Lösungsvorschläge weichen. Solche Primitivität, wie sie nahezu allen existierenden politischen Systemen innewohnt muss überwunden werden. Um genauer zu sein, müssen solche Systeme und Lösungen als Selbstzweck überwunden werden. Allenfalls wo sie einem höheren Zweck dienen erhalten diese relativen und zeitlich begrenzten Wert. Sie müssen, wie jedes politische System die Grundlage ihrer eigenen Zerstörung in sich tragen lernen.
Dies sollte eine der Grundaxiome metapolitischer Überlegungen sein.

 
Welt und Wirklichkeit
Eine scheinbar triviale Aussage kann zu großer Einsicht führen..."Hasse nicht die Spinne, sie kann nich dafür, wer sie ist." Und so wie die Spinne können auch wir kaum mehr dafür, wer wir sind, auch wenn wir gern so tun, als wären wir so viel mehr als sie. Weit stärker als wir gemeinhin zu glauben bereit sind, formen uns die "natürlichen", sozialen, kulturellen und biographischen Umstände. Selbst die scheinbar freie Entscheidung basiert nicht zuletzt zu großen Teilen auf der durch diesen Rahmen geformten Interpretation. So können und vielleicht müssen wir vielleicht verhindern, verletzen, strafen, vielleicht sogar vernichten um zu verändern und zu verbessern aber niemals ohne bedauern und nie dürfen wir dabei hassen. In dieser Hinsicht muss der Mensch ein zutiefst gespaltenes Wesen sein.

Das wichtigste an einer Regel ist es, sie zu hinterfragen.

Das Ich ist ein Fluss. Urplötzlich entspringt unser Bewusstsein einer mysteriösen Quelle, die ihm verborgen bleibt. Fortan fliessen wir dahin ohne Rast, verlieren beständig hier und dort etwas Wasser und neues fließt hinzu bis zum ebenso plötzlichen Zurücksinken ins Mysterium. Die fließende Veränderung ist unser Wesen.

Jede Strukur, ganz gleich auf welcher Ebene, die sich in starren Konventionen verliert und kritisches Potential in sich aufnimmt, auf das sie angewiesen ist, will sie zukünftsfähig, reflektiert oder "gerecht" sein, wird entweder zerstört oder zerstört dieses Potential. Strukturen, ganz gleich ob Gruppen, Organisationen, Firmen oder Staatssysteme müssen wandlungsfähig und -willig sein. Nur so können sie überhaupt einen Sinn erfüllen oder auch nur ansatzweise einen Anspruch auf "Richtigkeit", "Wahrheit" oder "Moralität" erheben.

Der Glaube die Aufgabe von Gott als Lenker der Welt hätte uns "befreit" ist nichts als ein Irrglaube, ein selbstgerechtes, selbstverliebtes Statement. Die Verunsicherung, die der Wegbruch fester Werte und damit Sicherheit erzeugt hat, wurde durch das Dogma der Natur gefüllt.
Aus ihr selbst heraus sollten nun die Gesetze des Lebens und das Gute der Welt erkannt und legitimiert werden.
Dieser neue Irrglaube wirkt bis heute in erschreckender Weise nach. Das vermeintlich Natürliche der Welt und des Umgangs des Menschen mit sich und ihr, das letztlich nicht mehr ist als das alltäglich Sichtbare, dessen soziale und kulturelle Konstruktion geleugnet oder negiert wird, ist nun der Maßstab und der Grund der neuen Werte geworden. Eine solche Weltkonstruktion und ihre Werte leben von Naturalisierungen sozialer und kultureller Mechanismen und einer durch und durch positivistischen Sichtweise.
So wie die soziale Hierarchie in der Frühen Neuzeit durch das Beobachten scheinbar natürlicher, jedoch sozial eingeübter und unter bestimmten Vorstellungen gedeuteter Verhaltensweisen gerechtfertigt wurde, so wird auch heute noch die Superiorität des "Menschen" gegenüber dem "Tier" festgeschrieben.
Die Möglichkeit dessen ergibt sich nicht zuletzt aus einem Missverständnis, das darin besteht, alltägliche Beobachtungen als quasi naturwissenschaftliches Testsystem zu deuten.
Dabei handelt es sich jedoch nur um eine lebensweltliche und nicht wissenschaftliche Beobachtung, die ihre eigenen Vorannahmen übersieht und die das Bestehende somit nur bestätigen kann, bereits deutet statt beobachtet und antwortet statt fragt.
Dies ist möglich aufgrund des inszenierten alltagsmenschlichen Selbstverständnisses als vernünftiges und praktisch immer zum reflektierten Selbstdenken fähigen (und damit allezeit wissenschaftlich beobachtenden) Wesens, sowie der Verleugnung des Werts von Sozial- und Geisteswissenschaften und der Superiorität naturwissenschaftlicher Forschung oder in diesem Sinne einer abgespeckten, selbstkritikfreien Version dessen.

Privatheit – eine (tier)ethische Betrachtung

Privatheit – eine (tier)ethische Betrachtung


In diesem kurzen Essay möchte ich mich dem oder besser einem spezifischen Konzept von "Privatheit" widmen. Es ist nötig, da der Verweis auf eine solche, befördert durch Ideen des Individualismus und Liberalismus, immer mehr als Totschlagsargument gegen politische oder ethische Eingriffe in eigenes Handeln verwendet wird. Der Begriff bildet so eine Art Mauer vor der scheinbar jedes Argument zerschellen soll. Dabei ist das Konzept der Privatheit wie es heute gelebt wird noch nicht allzu alt. Es beginnt sich in der Frühen Neuzeit zu formen aber noch bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein existieren Formen der sozialen Überwachung der Einhaltung sozialer Normen und selbst heute noch, wenn auch nicht mehr mit Hilfe obrigkeitlicher Maßnahmen, wird auf die Einhaltung bestimmter Normen auch im Privaten geachtet.
Grund genug also, dieses Konzept einmal aus moralphilosophischer Sicht zu betrachten und sich im Zuge dessen einer sinnvollen Konzeption zu nähern.
Die Annäherung an ein neues Konzept ist nötig, da die Übernahme bestehender Konzepte von Privatheit selten bewusst oder gar reflektiert geschieht, sondern durch Sozialisation geprägt ist, gleichzeitig aber bewusst eingesetzt wird.

Wenn wir nun fragen was „privat“ ist, so gelangen wir zu einer Beschreibung dessen, was unsere Gesellschaft oder Teile von ihr, ihrem Selbstkonzept gemäß, als von außen nicht zu beeinträchtigen versteht. Diese Beschreibung, anders als in der lebensweltlichen Wirklichkeit in vielen Fragen oft praktiziert, stellt aber keine Rechtfertigung oder Erklärung der normativen Ebene dar, die mit dem Konzept verbunden ist. Dies zu behaupten würde sich dem sog. deskriptivistischen Fehlschluss schuldig machen, wie ihn Hare in seiner Abhandlung zum Universellen Präskriptivismus skizziert.1 Die Beschreibung eines Zustandes ist nicht seine Rechtfertigung.

Eine der Aufgaben philosophischer Überlegungen und zwar jene, der hier nachgegangen werden soll, müsste nun die Entwicklung eines tragfähigen und ethische Anforderungen berücksichtigendes Fundament sein, auf dem „Privatheit“ fußt.

Mein Vorschlag wäre erst einmal:

Alles was die Handlungsfolgen im Privaten lässt, kann als privat gelten. Somit sind alle Handlungen aus moralphilosophischer Sicht als privat einzustufen, die von mir ausgehende nur mich betreffen oder die von einem privaten Kreis ausgehend nur diesen betreffen, vorausgesetzt die Handlungen und deren Folgen sind von diesem auch gewollt oder zumindest toleriert.

Das Problem das sich nun ergibt ist, dass praktisch alle Handlungen irgendwelche Einflüsse auf andere, auf die soziale oder natürliche Umwelt haben.
Eine weitere Einschränkung könnte der Verweis sein, dass nur negative Folgen nach außen dringen dürfen, jedoch ist das was als negativ empfunden wird durchaus heterogen. Der Verweis auf die Negativität einer Handlung könnte somit den ganzen privaten Bereich konstrollieren und in gewünschter Sicht disziplinieren.
Die Handlungsfolgen müssen demnach genauer betrachtet, eine alternative Bewertungsrichtlinie muss gefunden werden.
Als solche schlage ich die Unterteilung in primäre Beeinträchtigungen und sekundäre Beeinträchtigungen vor.
Diese Unterteilung entspringt der Diskussion um das Dilemma der Leidvermeidung in ethischen Konzepten. Das Vermeiden von Leid in einer solch absoluten Form als oberstes Kriterium moralischen Handelns zu stellen, würde das Leben unmöglich machen, das hat bereits Alberst Schweitzer richtig erkannt. Leid ist jedoch relativ zu beurteilen und im Kontext des Lebens zu betrachten. Es kann nie völlig vermieden werden. Wo immer zu Sozialität und Emotionalität fähige Wesen Gemeinschaften bilden, erschaffen sie soziales Leid. Die Auslöser diesen Leides sind letztlich banal erscheinende und alltägliche Praktiken, wie das Beenden einer Beziehung. Solche Praktiken müssten vermieden werden, jedoch würde ein Aufrechterhalten vielleicht ebenso Leid bedeuten, ein Dilemma also. Grundsatz kann also nicht die absolute Vermeidung aller leidvollen Zustände sein. Stattdessen sollen bei weitestgehender Selbstverwirklichung die Anerkennung der gleichen Ansprüche und Bedürfnisse anderer gewahrt bleiben. Elementares Leid, also solches das sich maßgeblich auf die Integrität (sowohl in physischer als auch in psychischer und sozialer Hinsicht) richtet sollte trotz Selbstverwirklichung vermieden und möglichst ein insgesamt positives Leben anderer nicht behindert werden.
Primäre Folgen sind nun solche, die sich auf elementares Leid beziehen, sekundäre auf soziales Leid in dem hier skizzierten Sinne.
Vermieden werden soll primäres Leid, alles was elementare Bedürfnisse beeinträchtigt (physische, soziale, emotionale) und ein insgesamt positives Leben anderer nachhaltig, latent oder akut verhindert. Nicht vermieden werden kann sekundäres, aus dem gelebten Alltag sozial-emotionaler Bindung entstehendes Leid. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass zumindest die Tendenz zu weniger Leid als Telos aufrecht erhalten werden sollte.

Damit wäre eine Skizze von Privatheit möglich, die sich nicht schlicht auf die unbewusste Übernahme tradierter Konventionen verlässt und die ethische Richtlinien angeben kann, ab wann eine im privaten Kreis, also im Kreis individueller, familiärer oder teilkollektiver Selbstverwirklichung begangene Handlung Eingriffen von außen unterliegen kann und sollte und ab wann diese Handlung über das Prädikat „privat“ als vor aktiven (um nicht den latenten Eingriff der Sozialisation zu übersehen) äußeren Eingriffen geschützt zu verstehen sein sollte. Was als privat gilt, soll so vor den quantitativ am stärksten vertretenen gesellschaftlichen Konventionn geschützt sein.

Diese Skizze soll nun ebenso skizzenhaft in ihrer Anwendung auf eine Handlungsweise oder besser einen Kanon an Handlungsweisen angewendet werden, die bisher mit dem unkritischen Gebrauch des Begriff verteidigt wurde.
Es geht um ein Thema, dass gemäß gesellschaftlicher Konventionen als Privatangelegenheit gilt, um das der Ernährung mit tierlichen Überresten.

Eine der ersten von Gegner dieser Praktiken angeführte Handlungsfolgen betreffen die Gesundheit des Individuums. Diverse Studien haben gezeigt, dass zumindest der übermäßige, vielleicht aber auch der geringfügige Verzehr tierischer Produkte ernsthafte Erkrankungen begünstigt.2 Individuelle Gesundheit, unter der Annahme derjenige, um den es geht, ist sich der Folgen wirklich und nicht nur oberflächlich bewusst, gilt vornehmlich als privates Gut. Da die Handlungsfolgen vorerst auf das Individuum beschränkt sind, gilt auch weiterhin die Privatheit. Allerdings erfährt diese Einschränkungen. Zum Einen, so könnte angeführt werden, bedeutet Krankheit wirtschaftlichen Schaden für die Gemeinschaft. Da es sich aber eher um die Erhöhung eines Risikos handelt und neben Ernährung viele weitere Lebensweisen eine solche Erhöhung aufweisen, halte ich diesen Punkt bisher für kaum brauchbar. Was jedoch eine Einschränkung darstellt ist das Vorhandensein positiver Pflichten, insbesondere solcher der Fürsorge für Mitglieder der gleichen sozialen Einheit, der Familie oder passender des „Ganzen Hauses“3
Wo solche existieren, kann ein bewusst herbeigeführtes erhöhtes Risiko, im Falle der Möglichkeit der Selbstverwirklichung in ähnlicher Weise sanktionsfähig sein. Im Falle der Ernährung ist dies gegeben, da hier der kulturell geprägte ähnliche Geschmack auch mit Alternativen erzeugt werden kann (wobei die Geschmacksprägung als zu thematisierend hier erstmal ausgeklammert werden soll), während die soziale, emotionale und kulturelle Bedeutung des Essens davon gar nicht betroffen wäre. Bei anderen Praktiken kann dies jedoch anders aussehen.

Eine weitere Handlungsfolge ergibt sich aus der Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit und der Ökologie.
Auch hier haben unzählige Studien nachweisen können, dass zumindest der erhöhte Konsum massive Beeinträchtigungen für Menschen, Tiere, Pflanzen und die gesamten Biosphäre darstellt.4
Aus diesen Gründen heraus scheint eine fast-vegane (weniger tierische Produkte, tierische Produkte eher aus Insekten) Ernährung geboten (innerhalb dieser sind wieder private Praktiken möglich) und damit nicht mehr Teil privater Selbstverwirklichung.

Der letzte aber zugleich entscheidenste Punkt betrifft das Tierleid als Folge.
Dem kulturell geprägten und damit veränderlichem „Genuss“ (und nur diesem) steht primäres und sekundäres Leid bei den zu Nahrungszwecken verbrauchten tierlichen Lebewesen gegenüber.
Das tierliches Leid in verschiedenster Hinsicht vorhanden ist, das es sich ausreichend mit dem menschlichen vergleichen lässt, auf dem ja u.a die Berücksichtigung menschlicher Lebewesen beruht und das eine a priori auf Vorannahmen und Vorurteilen basierende und durch historisch gewachsene Praktiken tradierte, wurde intensiv belegt.5
Hinzu kommt noch, dass bei mit uns in der Gemeinschaft existierenden Tieren auch positive Pflichten, die sich aus diesem Verhältnis im Gegensatz zu den in „Wildnissen“ lebenden Tieren, ergeben, die verletzt werden. Die menschliche Gesellschaft bildet mit diesen Tieren eine Gemeinschaft, die durch asynchrone Abhängigkeiten geprägt ist, die von der Menschheit bewusst forciert und geschaffen worden sind. Diesen Tieren gegenüber besteht als einerseits eine historische Verpflichtung zu positiven Pflichten, andererseits ergibt sich diese zusätzlich aus der Gemeinschaft in der wir uns zusammen befinden und in der diese Wesen nicht allein existieren können. Damit erfüllen sie auch hier das Kriterium, das bei gleichen Eigenschaften dafür sorgt, das auch Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen oder bis zu einem gewissen Alter mit Fürsorge zu behandeln sind.
Das wir die mit uns lebenden Tiere bisher im schlimmsten Sklavenstand halten ist hierbei ein historischer Fakt (und nicht der einzige seiner Art), ändert dabei nichts daran, dass wir eine Gemeinschaft bilden, auch wenn diese für einige von uns noch eine schreckliche ist.

Damit konnte grundlegend gezeigt werden, dass das hier skizzierte Konstrukt „Privatheit“ anwendbar ist und zudem der geforderten Bedingung, ethische Erkenntnisse und Richtlinien einbeziehen zu können standgehalten hat.
Dabei bleibt das Konstrukt aufgrund seiner relativen Formalität flexibel genug, um neue Erkenntnisse direkt umsetzen zu können statt wie bisher dabei zu helfen veraltete Erkenntnisse und Anforderungen zu tradieren. Es ist somit ein weit mündigeres Konzept.

Das Beispiel betreffend konnte zudem gezeigt werden, dass Ernährungsformen die Produkte aus dem Verbrauch von Tieren einschließen, keine Privatangelegenheit sind, sondern sich aufgrund ihrer das Private transzendierenden Handlungsfolgen im ethischen Diskurs verhandeln lassen müssen, der die Perspektive der „Opfer“ einschließen muss. Die Ergebnisse dieses Diskurs, die hier nur angedeutet werden konnten, führen dazu, dass sich die Ernährung, die Gesellschaft ändern muss. Die Folge sind aufgrund unreflektiert und im Zuge der Sozialisation angeeigneter Privatheitsideale dabei nicht selten Abwehrhandlungen, die es jedoch kritisch zu thematisieren gilt. Die Eingriff in die vermeintliche Privatheit des Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts sind letztlich nichts anderes als die Eingriffe in die Privatheit des Menschen des 19. Jahrhunderts durch abolitionistische und pädagogische Forderungen, um nur zwei zu nennen.


1Siehe dazu Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.
2Vgl. u.a. http://www.eatright.org/ada/files/veg.pdf; Campbell, Colin T.: The China Study, Dallas 2006; Clements, Kath: Vegan, Göttingen 2008; http://www.uni-giessen.de/fbr09/nutr-ecol/veroe_dissgroe.php; Berger, Iris: Vitamin-B12-Mangel bei veganer Ernährung. Mythen und Realitäten, aufgezeigt anhand einer empirischen Studie, 2009; Kugler, Hans G./Schneider, Arno: Vegetarisch essen, Krankheit vergessen – Wer ist der Krankmacher? Ein ärztlicher Ratgeber, 2008.
3Ich verwende diesen Begriff hier bewusst in Anlehnung an das Konzept, dass die kleinste frühneuzeitliche soziale Einheit beschreibt. In Anlehnung an diese verstehe ich unter dem „Ganzen Haus“ neben der heutigen Kernfamilie auch alle in der Hausgemeinschaft lebenden weiteren Wesen, denen gegenüber folglich Fürsorgepflichten besteht. Zu diesem gehören auch Tiere, die mit uns in multispeziesaler Gemeinschaft, in Anlehnung an multikulturelle Gemeinschaft existieren. Das diese Verhältnis immer noch stark durch Speziesismus und das Ausspielen ungleicher Machtverhältnisse geprägt ist, ist dabei zu kritisieren und nicht gegen das Modell ins Feld zu führen.
4Vgl.: Livestock's long shadow: http://www.fao.org/docrep/010/a0701e/a0701e00.HTM und darüber hinaus http://ec.europa.eu/environment/climat/campaign/control/additional_de.htm und http://www.vebu.de/alt/nv/dv/dv_1993_1__Oekologie_der_Viehwirtschaft,_World_Watch_Institute.htm, http://www.worldwatch.org/files/pdf/Livestock%20and%20Climate%20Change.pdf, sowie die Sammlung an Studien zu diesem Thema unter http://www.vegetarismus.ch/klimaschutz/
5Vgl.: http://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/schweine-sind-ich-bewusst, Bekoff, Marc: Das Gefühlsleben der Tiere, Ein führender Wissenschaftler untersucht Freude, Kummer und Empathie bei Tieren, Bernau 2008, Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994, Wolf, Ursula: Das Tier in der Moral, Frankfurt am Main 2004, Wolf, Ursula (Hrsg.): Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008.
Dürfen wir Tiere essen?

Eine Frage wie diese zu beantworten, so einfach es auf den ersten Blick auch erscheinen mag, ist schwierig. Zu untersuchen warum sie so schwierig ist, bringt uns aber, so denke ich, ihrer Beantwortung oder besser der Möglichkeit dazu näher.
Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus der Nähe des Fragenden zur Frage. So wird kaum jemand je über die Todesstrafe konkreter Personen entscheiden müssen, während die vorliegenden Frage untrennbar mit eigenen Handlungen und der Frage nach eigener moralischer Schuld verbunden ist. Dies führt schnell zu affektiven, vor allem abwehrenden Reaktionen (Vgl. von Scheve 2009, insb. S. 313ff; Landweer 1999, S. 178). Verdrängen und Vergessen sind Überlebensstrategien des (positiven) Selbst(bildes).
Die nächste Schwierigkeit besteht in der vermeintlich natürlichen aber konstruierten und einer bestimmten historischen Entwicklung und Weltdeutung geschuldeten Ferne des Fragenden zum fraglichen „Objekt“. Bereits die Frage impliziert eine Kluft, ein „Wir“, dem ein „Anderes“ gegenüber steht, ein Trennendes wird vorausgesetzt und auf dieses fokussiert. Dabei werden zunächst rein deskriptive Eigenschaften (meist Äußerlichkeiten, der Körper, die Form) über die die Zuteilung in entsprechende Kategorien ausgeführt wird, als „anders“ und in diesem Sinne eben nicht „besonders“ konzeptionalisiert, verallgemeinert und normativ aufgeladen. Zu einer bestimmten, einer anderen Kategorie zu gehören reicht aus, um auf bestimmte Weise behandelt zu werden. Solche Kategorien werden zur zirkulären Begründung des moralischen Status, sie strukturieren die Wahrnehmung, bestimmen den Diskurs und bestätigen die Vorannahmen, indem sie den zu beweisenden Unterschied (sprachlich) produzieren. Sie werden durch Denken und Handeln weiter tradiert und durch ihre fortwährende Erzählung zum legitimierenden Mythos, der aufgrund der Undurchsichtigkeit seiner Entstehung, seiner sozialen Teilung und folglich emotionalen Bindung als natürlich gegebene Autorität im Alltagsverständnis missverstanden wird (Lyotard 1990).
Folglich findet die Debatte nicht in einem „leeren Raum“ der Kontemplation statt, sondern in einer Welt, in der die Frage praktisch beantwortet scheint. Die Handlungsaufforderungen sind bereits formuliert.
Dies kritisch zu hinterfragen bedeutet damit auch ein Austreten aus der sozialen (und emotionalen) Sicherheit des Konformismus. Die Gewissheiten der sozialen Gruppe, ihre kollektive Identität und die Anerkennung durch diese sind gefährdet und dies wird nicht selten sanktioniert.

Allerdings sind solche Routinen nicht allein negativ zu verstehen. Sie reduzieren Komplexität, bedeuten Stabilität und ermöglichen Handlungsfähigkeit in der alltäglichen Lebenswelt. Aber sie müssen beständig hinterfragt und neuen Erkenntnissen angepasst werden. So sinnvoll ihre Einfachheit ist, so gefährlich ist sie.
Die Frage zu beantworten, sich bereits mit ihr zu beschäftigen, ist damit auch ein Stück des Weges zum mündigen Selbst, im Zuge dessen Wahrnehmungsschemata hinterfragt, das Seiende auf sein Gewordensein hin untersucht und seine Normativität in Frage gestellt wird. In diesem Sinne kann zumindest die leicht umformulierte Frage: Sollten wir Tiere essen, ohne die Frage kritisch betrachtet zu haben, mit „nein“ beantwortet werden.

Eine Analyse der Frage, ihrer Vorbedingungen, sowie der eigenen muss am Anfang philosophischer Betrachtung stehen. Es gilt den Blick zu klären, die Wahrnehmung (und den Diskurs) von der Einengung durch vorangehende Vorstellungen und Machtkonstellationen zu befreien, denn nur mit einem ungetrübtem Blick kann der Frage schließlich vor-urteilsfrei nachgegangen werden.1

Ein großer Schritt Richtung Beantwortung besteht damit darin zu schauen, ob die intuitiven Urteile des Alltagshandelns auf solchen Vorurteilen beruhen, bzw., ob sie eine zentrale Eigenart moralischer Urteile besitzen. Diese ist nach Hare, die Universalisierbarkeit moralischer Urteile, also die Verbindlichkeit des Urteils in allen ausreichend ähnlichen Sachverhalten. Unterschiede im Urteil müssen moralisch relevante(!) Unterschiede in der Situation sein, also solche, denen eine Relevanz für die Situation nachgewiesen wird, die nicht von vornherein zugeschrieben ist, bzw. nicht auf einer Voreingenommenheit beruhen (Hare, Präskriptivismus, 1992). Anders formuliert handelt es sich hierbei um den Gerechtigkeitsanspruch der Ethik.2

Damit ist zu fragen, ob die postulierten Unterschiede überhaupt existieren oder für die Frage relevant sein können.
So ist auch die Hautfarbe, die eine Zeit lang als Unterschied galt, bzw. verallgemeinernd auf einen solchen verwies, grundsätzlich kein moralisch relevantes Merkmal, wenn es um die Frage nach Verteilungsgerechtigkeit geht. Die Hautfarbe als deskriptives Merkmal macht eben keinen begründbaren Unterschied im Gegensatz zum Reichtum einer Person, da sich dieser z.B. direkt auf die Folgen auswirkt.

Philosophische Annäherungen benutzen nicht selten Vergleiche oder Analogien zur Annäherung und Verdeutlichung. In diesem Fall ist dies besonders heikel, da die häufig benutzten Analogien die erwähnten Schutzmechanismen und Entrüstung hervorrufen und somit oberflächlich allzu leicht das zu Verdeutlichende ablehnen lassen. Nichtsdestotrotz soll auch hier derart vorgegangen werden, da man sich nun, gewappnet mit dem Wissen um die angesprochenen Prozesse, gefahrloser eines solchen bedienen kann.

Die Frage, die ich stellen möchte ist: Würden Sie einen Menschen essen? Ich hoffe die Antwort lautet „nein“, um meine Betrachtung zu Ende führen zu können. Zumindest wäre das zu erwarten. Soweit, so deskriptiv. Wichtiger ist nun die Frage, warum nicht?
Was könnte der moralische Grund sein, keine Menschen zu essen, der aber mit Blick auf die eigentliche Frage, auf Tiere nicht anwendbar ist und dabei nicht zirkulär auf die konstruierten Kategorien als Begründung verweist?
Für einen von vornherein möglichst großen Unterschied könnte (moralische) Reziprozität angeführt werden. Da nur Menschen fähig seien moralische Rechte anderer zu berücksichtigen, besteht auch nur diesen gegenüber eine Verpflichtung. Aufgrund des impliziten Konsens, das Menschen zu essen (moralisch) falsch sei, wird es unterlassen. Solche Begründungen entspringen vertragstheoretischen oder diskursethischen Überlegungen, von denen letztere hier betrachtet werden sollen.3 Erstere hingegen wurden jüngst durch Nussbaum deklassiert (Nussbaum 2010).

Die Grundlage diskursiver Ethik, die Teilnahme aller betroffenen und sprach- und handlungsfähigen Subjekte (meist als Personen kategorisiert), führt nun zu einigen Problemen. Diese ergeben sich aus zwei oberflächlichen Gleichsetzungen. Die erste umfasst die Begriffe „Mensch“ und „diskursfähig“. Dabei ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen, je nachdem, was als Grundlage der Diskursfähigkeit vorhanden sein muss. Ist dies Sprachfähigkeit im Sinne der Fähigkeit sich mittels menschlicher Zeichensysteme auszudrücken (was bereits zu kritisieren wäre) müsste eine Erweiterung vorgenommen werden, die auch Affen, die sich mit Zeichensprache verständigen können, in den Diskurs aufnimmt und Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen ausschließt.
Einige Menschen sind genauso wenig sprach- und handlungsfähig wie viele Tiere, bzw. einige Tiere sind genauso sprach- und handlungsfähig wie viele Menschen.
Allerdings bemerkt selbst Habermas, dass Kommunikation mehr als Sprache umfasst (Habermas 1991, S. 223). Für abstrakte Diskussionen um moralische Normen ist eine abstrakte Sprache zwar unablässig, für die im Diskurs zu äußernde Forderung nach Anerkennung und der „Formulierung“ von Interessen jedoch nicht. Nonverbale Kommunikation ist weitaus umfangreicher und universaler (man denke nur an den Bereich der Emotionsexpressionen, die wichtiger Teil der Bedürfniskommunikation sind).

Weiterhin wird der Diskurs auch nicht von allen im engeren Sinne „Sprachfähigen“ geführt. Der Zwang des besten Arguments diskursiver Ethik führt dazu, dass die moralischen Regeln von Wenigen bestimmt werden, da mehr als Sprache für „vernünftige“ Argumente nötig ist (Habermas 1991, S. 154). Ein Mindestmaß an Reflektions- und Abstraktionsvermögen, sowie Intelligenzformen sind nötig, um sinnvoll am Begründungsdiskurs teilzunehmen. Oder anders: nur Wesen, die innerhalb der moralischen und kognitiven Entwicklung weit genug sind, (hier sei auf die Diskussion zur stufenweise Ontogenese der Moral verwiesen), nehmen aktiv am Diskurs teil.4
Nicht alle Menschen sind also Teil des Diskurses und noch weniger nehmen über die bloße Formulierung ihrer Interessen hinaus Anteil.

Die zweite Gleichsetzung besteht nun darin, auch die Menge der Diskursteilnehmer mit jener der Betroffenen gleichzusetzen. Dies ist offensichtlich falsch, da nicht alle Betroffenen am Diskurs teilnehmen. Habermas selbst schreibt: „Der praktische Diskurs erfordert die Einbeziehung aller jeweils berührten Interessen [...]“ (Habermas, 1991, S. 25) Wenn nun aber alle betroffenen Interessen einbezogen werden sollen, dann auch die Interessen und Bedürfnisse von Nichtdiskursteilnehmern. (Vgl. Habermas 1991, S. 42f) Eine Variante dies zu beheben ist die Übernahme der Verantwortung durch Vertreter (moralische Advokaten) wie sie Weisshaupt vorsieht (Vgl. Weisshaupt 1991, S. 81) Allerdings ist eine Ausdehnung auch auf Tiere möglich, denn auch diese haben den Status von Betroffenen.

Es ist also nicht möglich Reziprozität als moralisch relevantes Merkmal aufzufassen, dass als Grund gelten kann, das Nichtessensollen von Menschen und das Essendürfen von Tieren zu begründen. Ein weiteres Kriterium muss her.
Als solches könnte Potentialität oder aber das, was als normale Eigenschaften der Spezies bezeichnet werden kann, gelten.
Auch ersteres hilft aber wieder nicht weiter, denn einige Menschen sind auch nicht potentiell zur Reziprozität fähig, z.B. bei bestimmten geistigen Beeinträchtigungen.
Zudem wird bei beidem übersehen, dass bei der Beurteilung gerade die gegenwärtige Lage entscheidend ist. Einem Rollstuhlfahrer ist wenig mit dem Verweis geholfen, er wäre potentiell fähig zu laufen oder es gehöre zur normalen Ausstattung seiner Spezies laufen zu können. Er kann es nicht und dies ist der Grund warum die Gesellschaft den Bau von Rollstühlen und Rampen befürwortet, weil seine momentane Situation ihm anders eine Teilhabe nicht gestattet, weil sie nicht durch „Normalität“ (ohnehin zu kritisieren) im erwähnten Sinne geprägt ist.5
Es funktioniert also nicht Berücksichtigung der Interessen und des Wohls für Säuglinge einzufordern, weil sie einmal Erwachsene sein werden, für Demente, weil sie dies einmal waren und für schwer geistig Behinderte, weil sie es in einem Paralleluniversum nicht sein müssten. Ihre Beachtung wird aus ihrer gegenwärtigen Perspektive heraus mit Blick auf ihre jeweiligen Bedürfnisse gefordert.

Ein anderer Grund Menschen nicht zu essen (Tiere aber schon) könnte nun der Verweis auf die Nähe sein, bzw. eine innerspeziesale Verbundenheit.
So nimmt beispielsweise Norbert Hoerster eine natürliche Mindestverbundenheit der menschlichen Spezies zueinander an, die stärker als zu Tieren ist (Vgl. Hoerster 2004, S. 53f).
Allerdings ist diese empirisch nicht umfassend nachweisbar, um als quasi natürliche Autorität herhalten zu können.
So ist empfindet ein Rassist oder Sklavenhalter beispielsweise nicht unbedingt ein stärkeres Mitleid zu einer andersrassigen Frau denn zu einem Tier. Die „Natur“ des Rassismus kann bewirken, dass dem Rassisten das Leben und Wohlergehen seines Hundes wertvoller ist, als das von Andersrassigen. Grundlage für eine solche Verbundenheit wäre eine positive emotionale Bindung, bei der es sich jedoch um je spezifische, (sub-)kulturell konstruierte Emotionsnormen statt um natürliche Gegebenheiten handelt.
Sozialität und emotionale Bindungen kommen empirisch inklusiver und exklusiver vor. Eine Verbundenheit kann sich auf Einzelne, auf Gruppen, schlicht auf alles beziehen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass alle zur Sozialität fähigen Tiere auch über Speziesgrenzen hinaus instinktive und/oder emotionale Bindungen eingehen können.
Eine natürliche Verbundenheit gegenüber der eigenen Spezies ist grundsätzlich also nicht gegeben. Ganz im Gegenteil können emotionale Bindungen statt an Speziesgrenzen gebunden zu sein, diese sogar auflösen. Eine Einschränkung bedarf ob ihrer Konstruiertheit selbst Begründung statt eine zu sein (Vgl. Wolf 2004, S. 114).

Natürlich hat Hoerster insofern Recht, als es empirisch in der Tat so ist, dass es eine (in gewissem Maße auch angeeignete) Norm gibt, nach der Menschen eine besondere (emotionale) Bindung zu sich als Gruppe aufgrund dieser Zugehörigkeit, die auf bestimmten zugeschriebenen verallgemeinerten Eigenschaften basiert, haben, die sich der Spezifika des Einzelnen gegenüber verstellt, bzw. verstellen soll (zu Gruppen mit ihrer spezifischen Wirklichkeitskonstruktion durch Emotionen siehe Gerhards 1988, S. 103-110). Gruppen arbeiten mit Inklusion und Exklusion, es muss ein Außen geben, das sich auch normativ absetzt. Diese Gruppenidentität und ihre Legitimität muss allerdings in Frage gestellt werden, um ihre routinierte Bildung zu verändern und so auch die Normativität neuer Erkenntnis anzupassen. Diese Erkenntnis und dies ist ein Verdienst Singers Argumentation, besteht darin, dass die zur Gruppenidentität verallgemeinerten Fähigkeiten und Eigenschaften (wie die der Empfindungsfähigkeit), die die Legitimation bilden eben nicht exklusiv sind, wie im Sinne der Absetzung der Gruppe behaupten wird.
Das Postulieren einer Verbundenheit der Spezies Mensch untereinander, die noch dazu ihre Historizität und Entwicklung verschleiert und fälschlicherweise naturalisiert, zur anthropologischen Konstante erklärt wird, ist schlicht falsch. Nimmt man Verbundenheit, emotionale Nähe als Grundlage das Essen von Menschen zu verhindern, kann dies zur Norm geronnen das zwar leisten, jedoch fehlen moralisch relevante Kriterien, die dies für alle Menschen gewähren, Tiere jedoch ausgrenzen. Aufgrund des Vorkommens spezifischer Vorstellungen von emotionalen Beziehungen in verschiedenen Gesellschaften kann zudem eine Vielzahl an Ausgrenzungen gerechtfertigt werden.

Allerdings kommt die emotionale Nähe dem eigentlichen Kern sehr nah. Sie kann dazu führen, das Gegenüber als Individuum wahrzunehmen, bzw. anzuerkennen und es als mit Würde ausgestattet zu verstehen.
Im Zentrum steht die Anerkennung eines Wesens als Subjekt seiner Selbst, als Subjekt mit eigenem Wohl, als Individuum das in der Welt existiert, diese empfindet und mit Empfindungen auf sie reagiert. Die Fähigkeiten zu Empfindungen, zu Emotionen verschiedener Komplexität, zu Interessen und Bedürfnissen, nach einem aus der Perspektive des jeweiligen Wesens guten Leben, sowie das dies bei Missachtung subjektiv empfundenes Leid verursacht, stellt im Zusammenhang mit dem Zufügen von Leid und der Tötung als prima facie schlecht6 die Grundlage der Berücksichtigung dar. Es ist weder die Zuneigung, noch die soziale oder kulturelle Nähe, noch das persönliche Zugestehen oder Zusprechen von Intelligenzidealen. Dies sind nur Konstrukte, die oberflächlich gesehen den Menschen oder Teile der Menschheit in traditionellen Deutungsrahmen ihren Platz sichern.

Wenn nun aber die Eigenschaft – ein individuelles Wohl zu haben, das auf Empfindungs- bzw. Emotionsfähigkeit basiert und das es zu Achten gilt – den eigentlichen Grund darstellt, Menschen nicht zu essen und es ist in der Tat das Kriterium das als moralisch relevant gelten muss, da es die Grundbedingung darstellt, unter deren Annahme die Frage überhaupt Sinn ergibt, dann können wir auch hier letzten Endes nicht beim Menschen stehen bleiben.
Denn das auch eine Reihe nichtmenschlicher Wesen, vor allem jene, die zu Nahrungszwecken verbraucht werden, als empfindungsfähige, bzw. emotionsfähige Wesen anzusehen sind, die über komplexe Fähigkeiten verfügen, die zu Empfindungen von Freude und Leid und somit zu entsprechenden Dispositionen führen, hat eine Vielzahl an Studien gezeigt (Vgl. Balcombe 2010, Balluch 2005, Bekoff 2008). Dabei ist nicht nur die absolute Sicherheit (sofern es eine solche geben kann) über die Fähigkeiten dieser Tiere entscheidend, sondern bereits ausreichende Hinweise, wie der Verhaltensforscher Marc Berkoff treffend begründet:
„Wenn ich davon ausgehe, dass Tiere subjektive Gefühle von Schmerz, Angst, Hunger, usw. verspüren und ich damit falsch liege, dann habe ich niemandem geschadet; doch wenn ich vom Gegenteil ausgehe, Tiere jedoch tatsächlich solche Gefühle haben, dann öffne ich grenzenlosen Grausamkeiten damit Tür und Tor...Es muss heißen: Im Zweifel für die Tiere – wenn denn überhaupt noch irgendwelche Zweifel bestehen.“ (Bekoff 2008, S. 44)
Diese Haltung, die in der menschlichen Interaktion bestimmend ist, wird hiermit lediglich auch auf Tiere ausgedehnt, um eine vorgängige Ungleichbehandlung auszuschließen.

Nun können zwar auch emotionale Bindungen und die Zugehörigkeit zu kategorischen sozialen Verbänden wie Familie oder Gesellschaft moralisch relevant sein7, schließlich erfüllen sie gewisse Funktionen. Allerdings betrifft dies eher positive Pflichten, solche der Fürsorge. So kann ich weit stärker meinem Kind verpflichtet sein als einem fremden. Ein Mangel an positiven Pflichten bedeutet keine Aufhebung negativer. Der moralisch relevante Grund der elementaren negativen Pflichten (des Unterlassens) kann nur an das Vorhandensein elementarer Bedürfnisse gekoppelt mit der Fähigkeit der Empfindung sein. Einem Wesen das leiden kann, darf ich also prima facie kein Leid zufügen. Ob ein Wesen leiden kann oder nicht, ist demnach das Schlüsselkriterium bei Fragen, ob ich leidverursachende Praktiken anwenden darf.

Nun sind zwar (nur theoretisch) Praktiken denkbar, die ohne direktes Leid töten, ein gern angeführter Einwand, jedoch greifen hier die bisher ausgeklammerten Einwände im Bereich Gesundheit, Ökologie und Verteilungsgerechtigkeit. Ebenso muss die Begründung des menschlichen Entwurfs seiner Selbst in die Zukunft aufgrund der Empirie fallen. So ist Zukunftsfähigkeit auch bei diversen Tieren anzunehmen. Weiterhin sind viele der zu Nahrungsmitteln verbrauchten Tiere soziale Wesen, so dass Leid Dritter entsteht.
Auch ist zu fragen, welchen Sinn diese Grenze macht. Letztlich ist der Entwurf des Selbst in der Zukunft ursächlich durch den Wunsch das Unvermeidbare zu vermeiden geprägt und von einer Betonung der Gegenwart.
Wenn von einem säkularen, allein im Diesseits gelegenen Leben auszugehen ist, so sind sowohl das Selbst, das maßgeblich eine Ansammlung von Erlebnissen, deren Verarbeitung und entsprechenden Dispositionen ist (um es sehr zu vereinfachen), als auch dessen Entwurf in der Zukunft insofern unsinnig, als die Löschung dieser Erinnerung unvermeidbar ist. Der hinter der Idee stehende Wunsch ist auf die Gegenwart gerichtet und entspringt einem „Weiterleben-wollen“, das notwendig die Gegenwart betonen muss, da, um sinngemäß Alatriste im gleichnamigen Film wiederzugeben, wir in der Zukunft alle tot sind.
Es ist nun also so, dass die auf das Subjekt bezogene Konzeption des Zeitbewusstseins wenig Sinn macht, vielmehr ist ihr Kern die aktuelle Wollensfähigkeit8, das akute Weiterleben wollen, das auch bei vielen Tieren vorhanden ist. Dies gilt umso mehr, als das auch völlig in der Gegenwart existierende, bewusste Lebewesen ein Stück in die Zukunft weisen. Dieser Umstand wird durch ein falsches Verständnis des Terminus Gegenwart verschleiert, denn auch diese bezeichnet einen sich in der Zeit sowohl in Zukunft, als auch Vergangenheit erstreckenden Bereich, der nicht auf einen Moment reduzierbar ist.

Dürfen wir nun also Tiere essen? Ein Teil der Antwort muss lauten, dass die Frage falsch gestellt ist. Sie droht die Antwort durch die implizite Vorannahme einer anders seienden und zugleich homogenen Gruppe, die einer weiteren, „besonderen“ Gruppe gegenübersteht zu lenken.
Dies, sowie das bis hierher Gedachte berücksichtigend, muss der zweite Teil der Antwort lauten: Viele von Ihnen und dieses „Viele“ schließt vor allem jene ein, die zur Zeit davon betroffen sind, nicht, sofern wir moralisches Handeln als Grundlage anerkennen.









Literatur:

Balcombe, Jonathan: Second nature. The inner lives of animals, New York 2010.

Balluch, Martin: Die Kontinuität von Bewusstsein, Wien 2005.

Bekoff, Marc: Das Gefühlsleben der Tiere, Ein führender Wissenschaftler untersucht Freude, Kummer und Empathie bei Tieren, Bernau 2008.

Gerhards, Jürgen: Soziologie der Emotionen, Weinheim und München, 1988.

Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991.

Hare, Richard Mervyn: Moralisches Denken: seine Ebene, seine Methode, sein Witz, Frankfurt am Main 1992.

Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.

Hoerster, Norbert: Haben Tiere eine Würde? Grundfragen der Tierethik, München 2004.

Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchung zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999.

Lyotard, Jean-Francois: Memorandum über die Legitimität, in: Engelmann, Peter (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart 1990, S. 54-75.

Nussbaum, Martha C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010.

Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen, Frankfurt/Main 2009.

Schwickert, Eva-Maria: Feminismus und Gerechtigkeit: über eine Ethik von Verantwortung und
Diskurs, Berlin 2000.

Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994.
Weisshaupt, Brigitte: Ethik und die Technologie am Lebendigen, in: Konnertz, Ursula: Grenzen der Moral. Ansätze feministischer Vernunftkritik, Tübingen 1991, S. 75-92.

Wolf, Ursula: Das Tier in der Moral, Frankfurt am Main 2004.

Wolf, Ursula (Hrsg.): Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008.


1Dabei sollen vorerst Argumente aus den Bereichen Ökologie und Verteilungsgerechtigkeit ausgeklammert werden, zumal diese sich vornehmlich auf Quantität des Verbrauchs tierlicher Lebewesen auswirken.
2Also der fundamentalen Grundlage vieler Ethiken, die sicherlich eine Erweiterung um Ebenen der Fürsorge enthalten sollten um sie zu komplettieren, die diese erste Ebene jedoch unterstützen statt zu negieren.
3Die Betrachtung bezieht sich im Folgenden insbesondere auf Habermas.
4Eine Übersicht und Bearbeitung dazu bietet Schwickert.
5Das deckt sich auch mit Nussbaums Orientierung an aktuellen Bedürfnissen.
6Insoweit Leid von Dritten (moralischen Akteuren) zugefügt wird. Dabei sind Leid und Tod im Kontext des Lebens zu betrachten, also nie völlig vermeidbar. Stattdessen sollen bei weitestgehender Selbstverwirklichung die Anerkennung der gleichen Ansprüche und Bedürfnisse anderer gewahrt bleiben. Elementares Leid soll trotz Selbstverwirklichung vermieden werden und möglichst ein insgesamt positives Leben anderer nicht behindert.
7Dabei wird hier ausgeklammert, dass dies auch relevant für das Verhältnis zu Tieren ist. So ergeben sich Unterschiede in der Behandlung zu Wildtieren (eher negative Pflichten) und zu Tieren in der menschlichen Gesellschaft (auch positive Pflichten). Menschen und Tiere bilden letztlich eine multispeziesale Gemeinschaft, die bisher noch auf Unterdrückung basiert, dies aber nicht länger sollte.
8Die auch Ursula Wolf als ein Grundbedingung moralischer Berücksichtigung konzeptionalisiert.