Privatheit – eine (tier)ethische Betrachtung
In diesem kurzen Essay möchte ich mich
dem oder besser einem spezifischen Konzept von "Privatheit" widmen. Es ist nötig, da der Verweis
auf eine solche, befördert durch Ideen des Individualismus und
Liberalismus, immer mehr als Totschlagsargument gegen politische oder
ethische Eingriffe in eigenes Handeln verwendet wird. Der Begriff
bildet so eine Art Mauer vor der scheinbar jedes Argument
zerschellen soll. Dabei ist das Konzept der Privatheit wie es heute gelebt
wird noch nicht allzu alt. Es beginnt sich in der Frühen Neuzeit zu
formen aber noch bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein existieren
Formen der sozialen Überwachung der Einhaltung sozialer Normen und
selbst heute noch, wenn auch nicht mehr mit Hilfe obrigkeitlicher
Maßnahmen, wird auf die Einhaltung bestimmter Normen auch im Privaten
geachtet.
Grund genug also, dieses Konzept einmal
aus moralphilosophischer Sicht zu betrachten und sich im Zuge dessen
einer sinnvollen Konzeption zu nähern.
Die Annäherung an ein neues Konzept
ist nötig, da die Übernahme bestehender Konzepte von Privatheit
selten bewusst oder gar reflektiert geschieht, sondern durch
Sozialisation geprägt ist, gleichzeitig aber bewusst eingesetzt
wird.
Wenn wir nun fragen was „privat“
ist, so gelangen wir zu einer Beschreibung dessen, was unsere
Gesellschaft oder Teile von ihr, ihrem Selbstkonzept gemäß, als von
außen nicht zu beeinträchtigen versteht. Diese Beschreibung, anders
als in der lebensweltlichen Wirklichkeit in vielen Fragen oft
praktiziert, stellt aber keine Rechtfertigung oder Erklärung der
normativen Ebene dar, die mit dem Konzept verbunden ist. Dies zu
behaupten würde sich dem sog. deskriptivistischen Fehlschluss
schuldig machen, wie ihn Hare in seiner Abhandlung zum Universellen
Präskriptivismus skizziert.1
Die Beschreibung eines Zustandes ist nicht seine Rechtfertigung.
Eine der Aufgaben philosophischer
Überlegungen und zwar jene, der hier nachgegangen werden soll,
müsste nun die Entwicklung eines tragfähigen und ethische
Anforderungen berücksichtigendes Fundament sein, auf dem
„Privatheit“ fußt.
Mein Vorschlag wäre erst einmal:
Alles was die Handlungsfolgen im
Privaten lässt, kann als privat gelten. Somit sind alle Handlungen
aus moralphilosophischer Sicht als privat einzustufen, die von mir
ausgehende nur mich betreffen oder die von einem privaten Kreis
ausgehend nur diesen betreffen, vorausgesetzt die Handlungen und
deren Folgen sind von diesem auch gewollt oder zumindest toleriert.
Das Problem das sich nun ergibt ist,
dass praktisch alle Handlungen irgendwelche Einflüsse auf andere,
auf die soziale oder natürliche Umwelt haben.
Eine weitere Einschränkung könnte der
Verweis sein, dass nur negative Folgen nach außen dringen dürfen,
jedoch ist das was als negativ empfunden wird durchaus heterogen. Der
Verweis auf die Negativität einer Handlung könnte somit den ganzen
privaten Bereich konstrollieren und in gewünschter Sicht
disziplinieren.
Die Handlungsfolgen müssen demnach
genauer betrachtet, eine alternative Bewertungsrichtlinie muss
gefunden werden.
Als solche schlage ich die Unterteilung
in primäre Beeinträchtigungen und sekundäre Beeinträchtigungen
vor.
Diese Unterteilung entspringt der
Diskussion um das Dilemma der Leidvermeidung in ethischen Konzepten.
Das Vermeiden von Leid in einer solch absoluten Form als oberstes
Kriterium moralischen Handelns zu stellen, würde das Leben unmöglich
machen, das hat bereits Alberst Schweitzer richtig erkannt. Leid ist
jedoch relativ zu beurteilen und im Kontext des Lebens zu betrachten.
Es kann nie völlig vermieden werden. Wo immer zu Sozialität und
Emotionalität fähige Wesen Gemeinschaften bilden, erschaffen sie
soziales Leid. Die Auslöser diesen Leides sind letztlich banal
erscheinende und alltägliche Praktiken, wie das Beenden einer
Beziehung. Solche Praktiken müssten vermieden werden, jedoch würde
ein Aufrechterhalten vielleicht ebenso Leid bedeuten, ein Dilemma
also. Grundsatz kann also nicht die absolute Vermeidung aller
leidvollen Zustände sein. Stattdessen sollen bei weitestgehender
Selbstverwirklichung die Anerkennung der gleichen Ansprüche und
Bedürfnisse anderer gewahrt bleiben. Elementares Leid, also solches
das sich maßgeblich auf die Integrität (sowohl in physischer als
auch in psychischer und sozialer Hinsicht) richtet sollte trotz
Selbstverwirklichung vermieden und möglichst ein insgesamt positives
Leben anderer nicht behindert werden.
Primäre Folgen sind nun solche, die
sich auf elementares Leid beziehen, sekundäre auf soziales Leid in
dem hier skizzierten Sinne.
Vermieden werden soll primäres Leid,
alles was elementare Bedürfnisse beeinträchtigt (physische,
soziale, emotionale) und ein insgesamt positives Leben anderer
nachhaltig, latent oder akut verhindert. Nicht vermieden werden kann
sekundäres, aus dem gelebten Alltag sozial-emotionaler Bindung
entstehendes Leid. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass
zumindest die Tendenz zu weniger Leid als Telos aufrecht erhalten
werden sollte.
Damit wäre eine Skizze von Privatheit
möglich, die sich nicht schlicht auf die unbewusste Übernahme
tradierter Konventionen verlässt und die ethische Richtlinien
angeben kann, ab wann eine im privaten Kreis, also im Kreis
individueller, familiärer oder teilkollektiver Selbstverwirklichung
begangene Handlung Eingriffen von außen unterliegen kann und sollte
und ab wann diese Handlung über das Prädikat „privat“ als vor
aktiven (um nicht den latenten Eingriff der Sozialisation zu
übersehen) äußeren Eingriffen geschützt zu verstehen sein sollte.
Was als privat gilt, soll so vor den quantitativ am stärksten
vertretenen gesellschaftlichen Konventionn geschützt sein.
Diese Skizze soll nun ebenso
skizzenhaft in ihrer Anwendung auf eine Handlungsweise oder besser
einen Kanon an Handlungsweisen angewendet werden, die bisher mit dem
unkritischen Gebrauch des Begriff verteidigt wurde.
Es geht um ein Thema, dass gemäß
gesellschaftlicher Konventionen als Privatangelegenheit gilt, um das
der Ernährung mit tierlichen Überresten.
Eine der ersten von Gegner dieser
Praktiken angeführte Handlungsfolgen betreffen die Gesundheit des
Individuums. Diverse Studien haben gezeigt, dass zumindest der
übermäßige, vielleicht aber auch der geringfügige Verzehr
tierischer Produkte ernsthafte Erkrankungen begünstigt.2
Individuelle Gesundheit, unter der Annahme derjenige, um den es geht,
ist sich der Folgen wirklich und nicht nur oberflächlich bewusst,
gilt vornehmlich als privates Gut. Da die Handlungsfolgen vorerst auf
das Individuum beschränkt sind, gilt auch weiterhin die Privatheit.
Allerdings erfährt diese Einschränkungen. Zum Einen, so könnte
angeführt werden, bedeutet Krankheit wirtschaftlichen Schaden für
die Gemeinschaft. Da es sich aber eher um die Erhöhung eines Risikos
handelt und neben Ernährung viele weitere Lebensweisen eine solche
Erhöhung aufweisen, halte ich diesen Punkt bisher für kaum
brauchbar. Was jedoch eine Einschränkung darstellt ist das
Vorhandensein positiver Pflichten, insbesondere solcher der Fürsorge
für Mitglieder der gleichen sozialen Einheit, der Familie oder
passender des „Ganzen Hauses“3
Wo solche existieren, kann ein bewusst
herbeigeführtes erhöhtes Risiko, im Falle der Möglichkeit der
Selbstverwirklichung in ähnlicher Weise sanktionsfähig sein. Im
Falle der Ernährung ist dies gegeben, da hier der kulturell geprägte
ähnliche Geschmack auch mit Alternativen erzeugt werden kann (wobei
die Geschmacksprägung als zu thematisierend hier erstmal
ausgeklammert werden soll), während die soziale, emotionale und
kulturelle Bedeutung des Essens davon gar nicht betroffen wäre. Bei
anderen Praktiken kann dies jedoch anders aussehen.
Eine weitere Handlungsfolge ergibt sich
aus der Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit und der Ökologie.
Auch hier haben unzählige Studien
nachweisen können, dass zumindest der erhöhte Konsum massive
Beeinträchtigungen für Menschen, Tiere, Pflanzen und die gesamten
Biosphäre darstellt.4
Aus diesen Gründen heraus scheint eine
fast-vegane (weniger tierische Produkte, tierische Produkte eher aus
Insekten) Ernährung geboten (innerhalb dieser sind wieder private
Praktiken möglich) und damit nicht mehr Teil privater
Selbstverwirklichung.
Der letzte aber zugleich entscheidenste
Punkt betrifft das Tierleid als Folge.
Dem kulturell geprägten und damit
veränderlichem „Genuss“ (und nur diesem) steht primäres und
sekundäres Leid bei den zu Nahrungszwecken verbrauchten tierlichen
Lebewesen gegenüber.
Das tierliches Leid in verschiedenster
Hinsicht vorhanden ist, das es sich ausreichend mit dem menschlichen
vergleichen lässt, auf dem ja u.a die Berücksichtigung menschlicher
Lebewesen beruht und das eine a priori auf Vorannahmen und
Vorurteilen basierende und durch historisch gewachsene Praktiken
tradierte, wurde intensiv belegt.5
Hinzu kommt noch, dass bei mit uns in
der Gemeinschaft existierenden Tieren auch positive Pflichten, die
sich aus diesem Verhältnis im Gegensatz zu den in „Wildnissen“
lebenden Tieren, ergeben, die verletzt werden. Die menschliche
Gesellschaft bildet mit diesen Tieren eine Gemeinschaft, die durch
asynchrone Abhängigkeiten geprägt ist, die von der Menschheit
bewusst forciert und geschaffen worden sind. Diesen Tieren gegenüber
besteht als einerseits eine historische Verpflichtung zu positiven
Pflichten, andererseits ergibt sich diese zusätzlich aus der
Gemeinschaft in der wir uns zusammen befinden und in der diese Wesen
nicht allein existieren können. Damit erfüllen sie auch hier das
Kriterium, das bei gleichen Eigenschaften dafür sorgt, das auch
Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen oder bis zu einem
gewissen Alter mit Fürsorge zu behandeln sind.
Das wir die mit uns lebenden Tiere
bisher im schlimmsten Sklavenstand halten ist hierbei ein
historischer Fakt (und nicht der einzige seiner Art), ändert dabei
nichts daran, dass wir eine Gemeinschaft bilden, auch wenn diese für
einige von uns noch eine schreckliche ist.
Damit konnte grundlegend gezeigt
werden, dass das hier skizzierte Konstrukt „Privatheit“ anwendbar
ist und zudem der geforderten Bedingung, ethische Erkenntnisse und
Richtlinien einbeziehen zu können standgehalten hat.
Dabei bleibt das Konstrukt aufgrund
seiner relativen Formalität flexibel genug, um neue Erkenntnisse
direkt umsetzen zu können statt wie bisher dabei zu helfen veraltete
Erkenntnisse und Anforderungen zu tradieren. Es ist somit ein weit
mündigeres Konzept.
Das Beispiel betreffend konnte zudem
gezeigt werden, dass Ernährungsformen die Produkte aus dem Verbrauch
von Tieren einschließen, keine Privatangelegenheit sind, sondern
sich aufgrund ihrer das Private transzendierenden Handlungsfolgen im
ethischen Diskurs verhandeln lassen müssen, der die Perspektive der
„Opfer“ einschließen muss. Die Ergebnisse dieses Diskurs, die
hier nur angedeutet werden konnten, führen dazu, dass sich die
Ernährung, die Gesellschaft ändern muss. Die Folge sind aufgrund
unreflektiert und im Zuge der Sozialisation angeeigneter
Privatheitsideale dabei nicht selten Abwehrhandlungen, die es jedoch
kritisch zu thematisieren gilt. Die Eingriff in die vermeintliche
Privatheit des Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts sind
letztlich nichts anderes als die Eingriffe in die Privatheit des
Menschen des 19. Jahrhunderts durch abolitionistische und
pädagogische Forderungen, um nur zwei zu nennen.
1Siehe
dazu Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller
Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen
Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.
2Vgl.
u.a. http://www.eatright.org/ada/files/veg.pdf;
Campbell, Colin T.: The China Study, Dallas 2006; Clements,
Kath: Vegan, Göttingen 2008;
http://www.uni-giessen.de/fbr09/nutr-ecol/veroe_dissgroe.php;
Berger, Iris: Vitamin-B12-Mangel bei veganer Ernährung. Mythen und
Realitäten, aufgezeigt anhand einer empirischen Studie, 2009;
Kugler, Hans G./Schneider, Arno: Vegetarisch essen, Krankheit
vergessen – Wer ist der Krankmacher? Ein ärztlicher Ratgeber,
2008.
3Ich
verwende diesen Begriff hier bewusst in Anlehnung an das Konzept,
dass die kleinste frühneuzeitliche soziale Einheit beschreibt. In
Anlehnung an diese verstehe ich unter dem „Ganzen Haus“ neben
der heutigen Kernfamilie auch alle in der Hausgemeinschaft lebenden
weiteren Wesen, denen gegenüber folglich Fürsorgepflichten
besteht. Zu diesem gehören auch Tiere, die mit uns in
multispeziesaler Gemeinschaft, in Anlehnung an multikulturelle
Gemeinschaft existieren. Das diese Verhältnis immer noch stark
durch Speziesismus und das Ausspielen ungleicher Machtverhältnisse
geprägt ist, ist dabei zu kritisieren und nicht gegen das Modell
ins Feld zu führen.
4Vgl.:
Livestock's long shadow:
http://www.fao.org/docrep/010/a0701e/a0701e00.HTM und darüber
hinaus
http://ec.europa.eu/environment/climat/campaign/control/additional_de.htm
und
http://www.vebu.de/alt/nv/dv/dv_1993_1__Oekologie_der_Viehwirtschaft,_World_Watch_Institute.htm,
http://www.worldwatch.org/files/pdf/Livestock%20and%20Climate%20Change.pdf,
sowie die Sammlung an Studien zu diesem Thema unter
http://www.vegetarismus.ch/klimaschutz/
5Vgl.:
http://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/schweine-sind-ich-bewusst,
Bekoff, Marc: Das Gefühlsleben der Tiere, Ein führender
Wissenschaftler untersucht Freude, Kummer und Empathie bei Tieren,
Bernau 2008, Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994, Wolf,
Ursula: Das Tier in der Moral, Frankfurt am Main 2004, Wolf, Ursula
(Hrsg.): Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008.
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