Freitag, 21. November 2014

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele VII

Die Frage ist nicht, ob Gott existiert, sondern welchen ontologischen Status er hat. Gott ist. Aber ist er "nur" eine der wirkmächtigsten Handlungsmotive und Ziele entsprungen aus der Suche nach Sinn oder ist er etwas, dass auch außerhalb der menschlichen Vorstellungswelt existiert...

Einer der Gründe, warum sich die meisten Menschen nicht den großen Problemen zuwenden, dem langfristig zu Lösenden, dem Globalen, dem Kosmischen, wie auch dem Ethischen jenseits der Konventionen, liegt in der Nähe all dieses Großen, Umfassenden, Erhabenen und Kosmischen zum Chaos. Je größer etwas wird oder erscheint, umso mehr entzieht es sich scheinbar unserer individuellen Kontrolle und es entzieht uns damit unserer Sicherheit, die eines der fundamentalsten Bedürfnisse unserer Spezies ist. Statt dem Chaos konstruktiv zu begegnen, ziehen wir uns daher angstvoll zurück in den Schoss der Mutter, in die wärmenden Umarmung der Gesellschaft, um im Kleinen der Illusion fortbestehen zu können.

Entgegen der Unkenrufe konservativer Kräfte stürzt kritisches Denken als Kern wirklicher Bildung, die zur Dekontruktion von Gewissheiten, zur Offenlegung des konstruierten Charakters der Wirklichkeit treibt, die Welt nicht ins Chaos, sondern hat vielmehr die Kraft kreative Energien freizusetzen, Energien der Entfaltung und Gestaltung hin zu einem Anderen, vielleicht einem Besseren und zu mehr Freiheit. Kritisches Denken ist der Todfeind jedweden Systems und muss es sein, um den letztlich immer konservativen Totalitarismus jeder Wirklichkeit zu überwinden.

Die einseitige und verallgemeinernde "Schuldzuweisung", im eigentlichen Sinne eine "Sündenbockstrategie", die eine Übertragungsleistung von Minderwertigkeitskomplexen, Hilflosigkeit, Verzweiflung und Wut ist, an "die" "Juden", "die" "Ausländer", "die" "Flüchtlinge", usw., zeigt erneut eine doppelte Problematik als ihren Kern, nämlich einerseits der eklatante Mangel an Bildung (als kritisches, selbst- und weltreflexives Denken) und andererseits die geringe Beachtung die dieses Bildungsdefizit erhält. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus der Geringschätzung sozial- und geisteswissenschaftlicher (Aus)Bildung als eben jene, die an erster Stelle das Potential hat kritisches Denken zu verankern, zugleich aber in ihrem Kern immer auch systemkritisch ist. Die Hilflosigkeit der Politik ergibt sich zu einem großen Teil genau aus diesem Dilemma. Es benötigt die Geringschätzung kritischen Denkens (auch um Herrschaft nicht an Fähigkeiten binden zu müssen), bleibt aber dabei unfähig breitenwirksam die Gründe für diese Auswüchse zu behandeln. Was bliebe ist nur das gewaltsame Einschreiten oder die derzeit favorisierte Hoffnung auf ein baldiges Abebben. Letzteres macht die Prozesse allerdings nicht unwirksam, es reduziert das zerstörerische Feuer nur wieder auf seinen vorherigen Zustand, auf den Schwelbrand aus Unzufriedenheit, mangelnder Beachtung und Anerkennung und deren stärkstem Motor, der Abwesenheit von Bildung als kritischem Denken.

Es ist eine der vielen Paradoxien unserer Wirklichkeit, dass wir behende Mitbestimmung und Engagement anmahnen, auf der anderen Seite, im Job, im Privaten und selbst in der Wissenschaft all dies als negativ behandeln, es unterdrücken und uns stattdessen auf strukturelles Machtgehabe stützen, um unsere vermeintlich selbst erarbeiteten vermeintlichen Autoritäten nicht zu gefährden, auf ein Laufen fokussieren statt auf ein Funktionieren. Die gleichzeitige Anmahnung von Engagement und der Ruf nach "mündiger" Mit- und Selbstbestimmung und dessen Bestrafung kann zu nichts anderem führen als individueller "Geisteskrankheit", Wahn oder Zynismus. Die Selbstgefangennahme, nicht zuletzt resultierend aus mangelnder Bildung des Denkens (Analyse) und Fühlens (Mut), ist unser zum Gott erhobenes Leitbild, die (An)Teilnahme, der Diskurs und das Aufbegehren sind die gelebten Todfeinde dieses Totalitarismus.

Ich glaube an sie, ja, ich glaube ganz fest an sie. Ich habe mich entschieden zu glauben, dass sie irgendwo dort draussen ist, die "Realität". Und dies ist alles was ich kann und nichts unterscheidet mich dabei von anderen Gläubigen. Ich kann an sie glauben, nicht mehr. Die Realität und unsere Welten sind nichts anderes als Glaubenssätze, Gebote. Erfahren kann ich sie außerhalb dieses Glaubens nie. Alles was mit bleibt sind die Wirklichkeiten die ich schaffe...
(aus: Konstruktivistische Reflektionen eines Lebens)

Auch die zu den s.g. "Naturwissenschaften" konstruierten Forschungsbereiche bilden keine "Realität" ab, sondern erzählen uns von einer Wirklichkeit, die sie selbst mitschaffen. Realität abzubilden würde voraussetzen sie außerhalb von Wahrnehmung zu erfassen, da jede Wahrnehmung, gleich durch welche "Brille" oder durch welche "Instrumente" sie erfolgt bereits eine Konstruktionsleistung ist, die von der jeweiligen vorhergehenden Wirklichkeit abhängig ist. Da uns nur die Wahrnehmung bleibt, durch die wir Welt erfahren können, bieten uns auch die Naturwissenschaften nur Konstrukte an, die sie mit Bedeutung ausstatten, zu Narrativen machen. Nur wenn wir den Glauben an die Wahrheit der Naturwissenschaften endlich auch allgemein aufbrechen, haben wir eine Chance die Geisteswissenschaften wieder aufzuwerten, die in ihrer Selbstreflektion bereits weiter vorangeschritten zu sein scheinen...Was dabei entsteht muss keine Verunsicherung sein, sondern eine Wissenschaft, die das Mögliche außerhalb ihrer bisherigen Narrative zu denken imstande ist. Auch entsteht daraus kein Chaos, sondern die Möglichkeit des Schaffens, wenn wir uns nicht mehr auf je spezifische Wahrheiten als Natürlichkeiten berufen können, mit denen wir mit dem Schwert des Zeitgeistes gegen das "Andere" zu Felde ziehen.