"Du verstehst mich nicht" ist eine Anklage und zugleich das grundlegende Wesen des Sprechens. Es ist zugleich ein (affektbezogener) Gewaltakt hegemonialer Wirklichkeit.
Es gibt kein Verstehen im absoluten Sinne, sondern nur Grade abnehmenden Missverstehens. Unser Sprechen strukturiert unser Sein und ist strukturiert durch dieses, durch kulturelle, soziale und biographische Bestände, aus denen das "Ich" sich und sein Sprechen bildet.
Wir sprechen daher nicht eine Sprache, sondern unendliche viele quasi-individuelle. Das Verstehen als relationales Verstehen hängt damit davon ab, wie kongruent unsere jeweilige Wirklichkeitskonstruktionen sind. Das Verstehen als Forderung setzt eine hegemoniale Wirklichkeit voraus und durch.
Mit anderen Worten, das Verstehen hängt nicht vom Sprechen ab, sondern vom bereits vorher existenten Verstehen, welches anzugleichen versucht wird. Auf diese Weise schafft das Sprechen in seinen Diskursen Konformität.
Dies täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass jede Kommunikation als Kommunikation einer Wirklichkeit in eine andere hinein einer Bedeutungsverschiebung in sich trägt, die jedes System bis zu ein em gewissen Grad gemäß seiner Vorstellungen auszugleichen wünscht.
Gut zu beobachten ist dieses Phänomen im Bereich der Wissenschaftssprache und der Forderung an diese, verständlich sein zu müssen, sich herab zu begeben, sich zu vereinfachen, sich aufzugeben.
Dies setzt voraus, dass zu Begriffen geronnene Vorstellungen/Vorstellungsketten, ganz Diskurse, Singularitäten des Wissens und der Erkenntnis entsponnen werden müssen, mit der damit einhergehenden Reduktion und Verschiebung ihres Inhalts und so kaum mehr als "einfache", "vereinfachende" Grundüinzipien übrig bleiben, die sich der Logik des "leichten Konsums" des Kapitalismus unterwerfen.
Diese Logik wird durch Diskursregeln aufrecht erhalten, wie jenen der Zuschreibung von Arroganz als Bewältigungsmittel "sprachlicher Superiorität".
Der Weg darf jedoch nicht jener der Vereinfachung sein, wo diese sich selbst genügt und nicht das Komplexe vorbereitet. Nicht die Vereinfachung der Erkenntnis, die der Komplexität des Seins widerspricht und die Massen kontrollierbar macht, sondern die Verkomplizierung der Massen ist das Mittel der Heilung. Das Moment der Angleichung des Verstehens soll nicht auf Vereinfachung zielen, sondern auf tieferer Durchdringung dessen, was die Welt im innersten Zusammenhält.
Damit verbunden ist eine Aufwertung des Denkens, der Kontemplation vor dem Handeln und als Handeln, entgegen kapitalistischer Produktionslogik, entgegen reduktionistischem Funktionieren als Systembaustein und entgegen der Logik des schnellen und einfachen Konsums. Das Denken des Alltags muss Raum zur Komplexität bekommen und das Denken der Reflektion darf Vereinfachung nur da zulassen, wo es der Komplexität, der Bildung dient. Statt eines kapitalistischen Verstehensbegriffs soll und muss ein deliberativ-epistokratischer entstehen, nur so ist ein Hauch von Freiheit vor und von uns möglich.
Sein und Sinn...das ist der thematische Rahmen dieses Blogs. Er handelt von verschiedenen Lebenswelten und -wirklichkeiten und der Auseinandersetzung mit diesen, von Philosophie, Geschichte(n) und Geschichtswissenschaft, von Kunst, von Sinn und Sein oder anders ausgedrückt, dem Leben selbst in seinen Spielarten. Es finden sich kurze, flüchtige Momentaufnahmen, wie auch längere Auseinandersetzungen und Auszüge meines (wissenschaftlichen) Schaffens.
Dienstag, 25. Februar 2014
Dienstag, 18. Februar 2014
Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele II
hier einige weitere kurze Gedankenspiele, Provokationen, Sprüche, Polemiken, usw.
Welt und Wirklichkeit(en)
Eine gewaltlose Gesellschaft ist ein Irrglaube, eine intellektuelle Pathologie. Die Postulierung einer solchen basiert immer auf einem reduktionistischen, verschleiernden, infantilen und konstruiertem Gewaltbegriff, der bestimmte Formen herauskategorisiert und andere positiv gewendet kultiviert. Selbst das Ideal einer gewaltlosen Gesellschaft, selbst eine Ethik der Gewaltfreiheit bleibt im Grunde gewalttätig. Durch Erziehung, deren umfassendere Form die Sozialisation und sanktionierende und sanktionierbare Hierarchisierungen der Welt zu Wirklichkeit setzt sie sich als Grundstein eine solche Wirklichkeit als hegemoniale, die andere Wirklichkeiten vernichten wird. Jeder Wirklichkeit wohnt das Moment der Gewalt inne, eine Exklusivität, eine Reduktion, die nahezu immer zur wahren Natur erhoben wird. Gewalt ist dem Leben letztlich inhärent. Die Frage ist demnach nicht, ob Gewalt schlecht ist, sondern wie und in welcher Form sie gebraucht werden sollte und zu welchem Ziel. Letzteres sollte die Schaffung einer für alle emotionale Wesen erträglichen Wirklichkeit sein und auch diese wird ihre Grenzen mit Worten und Waffen, mit Erziehung, Bildung, Sozialisation, kukturellen Sinnstiftungen, Therapien, rechtlichen und sozialen Sanktionen, kurz mit einer ganzen Reihe an gewalttätigen und durch Gewaltmomente gestützten Prozessen verteidigen.
Die Wahrnehmung einer Person hängt maßgeblich von unseren Begriffen und Kategorien ab. Diese verändern sich spätestens wenn wir der Person einen neuen emotionalen Wert zuschreiben, sie also kennen und in Bezug auf sie fühlen lernen. Dies zeigt den Wert den Gefühle und Emotionen zur Veränderung von Selbst und Welt haben, der diese noch vor die Kognition stellt. Denn erst die Gefühle schaffen den Unterschied der Kategorien und Begriffe entstehen lässt. Ob wohlwollende oder feindliche kann dabei zumindest begrenzt von uns selbst entschieden werden.
Jedes Wort wählt aus. Jedes Wort schafft im Auswählen Wirklichkeit. In der Schaffung dieser Wirklichkeit tötet es letztlich all jenes, das ausgegrenzt, abgewählt wird. Jedes Sprechen erschafft die Welt. Die Wiederholung heisst Macht, Struktur, Formung. Wir sollten mit Bedacht sprechen.
Es gibt keinen Vorzug der Tat vor dem Wort. Worte sind Taten, Worte sind Waffen, Worte sind Gift und Medizin, Worte schaffen, verändern und zerstören Welt und Wirklichkeit. Worte erschaffen, Worte zerstören und Worte tun dies immer zugleich.
Wir müssen eine Welt schaffen in der das Denken wieder Wert hat. Eine Welt in der das denkende Individuum eine Wertigkeit abseits seines verkollektivierten Seins zum Ziele kapitalistischer Produktion als höchstem gesellschaftlichem und politischem Gut mit seiner eingeschränkten Produktivitätsbegrifflichkeit bekommen kann. Nur so überwinden wir die anmaßenden Obszönitäten von Kapitalismus und quantitativer Demokratie. Dass ein solcher Wert für jene eine Gefahr darstellt, zeigt sich in der wissensbulimischen Verschulung der Universität, die diese als letzten Hort der Wertschätzung des Denkens zu vernichten trachtet und die somit die kaputalistische Produktionsethik in die universitäre Bildung im letzten Gefecht einschreiben will. Unser Denken, Fühlen und Handeln, unser ganzer Wille und unsere ganze Kraft sollte dies zu verhindern trachten.
Warum werden Menschen verrückt? Weil die Welt den Wahsinn kultiviert. Das wir überhaupt so etwas wie "geistige Gesundheit" bei der Masse an täglich gesellschaftlich produzierten Paradoxien konstruieren können, ist wohl eines der größten Wunder die der bewußte Geist hervorgebracht hat.
Eine Gesellschaft, die materiellen Besitz als eine der wichtigsten Grundlagen für Anerkennung und Status konstruiert, das Bedürfnis nach diesem mittels Werbung körperlich durch Emotionen verankert, indem sie nicht das Produkt anpreist, sondern dessen als wertig erachteten Verheißungen (Glück, Frauen, Zugehörigkeit), eine Gesellschaft, deren Wirtschaftssystem letztlich nicht ohne dieses permanente Bestreben existieren kann, provoziert zwangsläufig den Diebstahl als Aneignungsform, die sie freilich kriminalisieren muss. Eine solche Gesellschaft schafft Individuen, die emotional zur Erreichung von Anerkennung, Status und Zugehörigkeit, ja selbst von Glück an diese Produkte und deren Verheißung gebunden sind. Sie erhält dieses Streben aufrecht, indem sie Ressourcen ungleich verteilt und durch ihr soziales System Chancen verwehrt. Nicht zuletzt sichert die Kriminalisierung das System und spricht allein dem "Täter" die Schuld zu.
Doch selbst wenn der Täter "schuldig" ist, so ist doch die Gesellschaft verantwortlich. Dies gilt umso mehr, als dass jede konkurrierende Wirklichkeit, jede "Subkultur" zur Bedrohung wird, da sie das Wertesystem auf dem alles fußt, in Frage stellt.
Dass wir alle die gleichen Chancen hätten und mit Arbeit jeder zu Reichtum gelangen könne, sind zwei der größten und fundamentalsten Lügen des Systems. Mit diesen wird sowohl das Wertesystem, in welchem materieller Besitz Wohlstand, Anerkennung, Glück und Status bedeuten, reproduziert, die kapitalistische Maschinerie am Leben erhalten und das System legitimiert, als auch in Verbindung mit der Idee des objektivierenden Struktufunktionalismus die Schuld die wir an dieser Reproduktion haben, negiert. Weder sind diese materiellen Bedürfnis der Kultur vorgängig, noch gibt es annähernd gleiche Chancen. Ohne Armut die wir alle stützen gibt es keinen Reichtum...
Natur ist ein kulturelles Konstrukt. So wenig wie wir Zugang zu einer Realität außerhalb unserer Erfahrungen haben, so wenig haben wir Zugang zu einer Natur die außerhalb unserer kulturellen Deutungssysteme liegt. Jedoch ist Natur zur höchsten Instanz der Rechtfertigung geworden, die ihre soziale Konstruktion mahezu völlig verschleiert. Das macht sie so mächtig wie gefährlich.
Ein Unternehmen, welches bereits in seiner Stellenausschreibung Loayalität einfordert, sollte mit Argusaugen und Argwohn betrachtet werden. Loyalität kann verdient werden aber nicht bereits a priori eingefordert sein. Wird es das, so sollte Misstrauen die Antwort sein. Nur Religionen, Dogmen und die alltägliche Lebenswelt als Quasi-Religion fordern ein solches A priori. Dem kritischen Denken muss dies supekt sein.
Kultur ist das Geflecht des Bedeutungsnetzwerks unserer Lebenswelt und dessen (Re)Produktion, das unhinterfragt Gegebene, wie das Halbbewusste, dass leiblich verankert, Sinn, Bedeutung und Handlungsgründe bereit stellt. Die Reduktion des Begriffs auf "Kunst" zeigt die gewünschte Haltung gegenüber Kultur an, sie soll als "Hochkultur" rezipiert, in der "Allgemeinkultur" aber unbeachtet und einstudiert bleiben. Kultur ist weit mehr als Kunst. Das Treffen einer Gruppe Bauarbeiter zur Mittagspause am Pommesstand ist ein hoch komplexer kultureller Vorgang, den es nicht nur zu rezipieren oder als fraglos Gegebenes lebensweltlich zu verstehen gelten muss, sondern zu erklären, zu hinterfragen, um uns so selbst besser zu verstehen und verändern zu können.
Wirkliche Bildung, verstanden als die Befähigung und Herausbildung zum (selbst)kritischen Denken, ist der Todfeind unseres Systems, welches wir beständig in unserem Denken und Handeln bis hinein in die rudimentärsten und alltäglichsten Routinen reproduzieren. Im offiziellen Bildungsbegriff, der in einer öbszönen Reduktion und Fetichisierung auf instrumentell-technisches Wissen, besteht, zeigt sich dies deutlich. Demgegenüber müssen die Worte John Stuart Mills zum Bollwerk der Universität gegen die Vereinnahmung durch systemreproduzierende Reformen werden: „Sie glauben, daß die Universität die Jugend für eine erfolgreiche Laufbahn in der Gesellschaft vorzubereiten hat; ich glaube, daß ihre einzige Aufgabe die ist, ihr den männlichen Charakter zu geben, der es ihr möglich machen soll, den Einflüssen der Gesellschaft zu widerstehen.“
Realität im Sinne einer "objektiven und uns zugänglichen Wahrheit" existiert nicht. Alles was wir stattdessen haben, ist ein milchiger Schleier gleich einem unbeschriebenen Blatt, auf dem wir etwas zu entdecken glauben, das uns bedeutungsvoll erscheint. Hieraus bauen wir uns in wechselseitiger Versicherung unsere Wirklichkeiten an die wir uns klammern um dem Chaos der Welt ohne Sinn und Orientierung zu entkommen. Realität als eben jene "erfassbare Wahrheit" ist eine Erfindung, die unsere Wirklichkeit vor Willkür und Chaos schützen soll, indem sie die Illusion errichtet, unsere Wirklichkeit, unsere Konstruktionen, unsere Perspektiven könnten in Übereinstimmung zur "Wahrheit" eine "natürliche" normative Kraft entfalten. Nur dadurch meinen wir, um unsere Wirklichkeit bis aufs Blut kämpfen zu können und zu müssen. Wie die Realität selbst, ist auch dies nur ein trügerischer Schein, es ist nicht mehr als das agressiv-angstvolle und nach Sicherheit strebende Zurückkriechen in den mütterlichen Schoß der Gemeinschaft, die uns immer wieder im Glauben an die "Wahrheit" wieg.
Kunst
Zerschlagt die Wirklichkeit; mit Worten, Bildern, Taten vernichtet Sie!" Das muss das oberste Credo revolutionärer Kunst sein. In der herrschenden Wirklichkeit, die sich als fraglos Gegebens zeigt und ihren willkürlichen Charakter verschweigt, sind wir in endloser Reproduktion gefangen, in all ihren Ordnungen, Werten und Hierarchien. Die sich als Norm setzende Wirklichkeitskonstruktion ist damit die Grundlage des leidproduzierenden Systems, dass es zu überwinden gilt. Zerschlagt die Wirklichkeit und setzt ihr eine andere entgegen. Dies ist die überfällige Psychotherapie der Welt. Philosophie und Kunst sind die bittere Medizin und der Vorschlaghammer.
Ich fordere eine wieder-neue Kunst, entsprungen aus einer "negativen Ästhetik", die der hegemonialen Wirklichkeit, welche geprägt ist durch der aus der protestantischen Arbeitsethik entstandenen kapitalistischen Denkweise des produktiven Strebens-Ideals und der darin eingebetteten Glücksethik, der in den als negativ assoziierten Gefühlen Pathologien sieht, die das Individuum zum Ziele des produktiven Strebens bezwingen müssen soll, über eine Ästhetik des Schwermütigen eine andere entgegenstellt. Die Melancholie als kontemplatives, nicht produktiv-strebendes Gefühl muss wieder aufgewertet werden. Diese Ästhetik sieht das Heil nicht in einer Reduktion hin auf eine Konstruktion des Glücklichen als Schönem und Gutem, sondern in der Komplettierung des (Er)Lebens. Ich fordere eine Kunst, die sich dem Kunstgenuss als passivem Erleben verweigert, die prozesshaft, auszugshaft bleibt und die Rezeption als ihr komplettierendes Moment denkt.
Wissenschaft und Welt
Wenn wir die Erkenntnisse der Emotionsforschung ernst nehmen und ich denke, dass sollten wir, wenn wir also bereit sind, zu glauben, dass Emotionen das Denken in bisher kaum geahntem Maße beeinflussen, sollten wir dann nicht vergleichend in verschiedenen emotionalen Zuständen arbeiten? Gehört dann nicht zumindest die Hervorhebung, die Explizierung des zu erforschenden eigenen emotionalen Zustands, freilich mit kritischer Betrachtung der zu dieser Erforschung gebrauchten "Begriffe", zur Grundlage wissenschaftlich-relfexiven Schreibens und Denkens? Ist dies nicht ein weiteres Argument gegen die falsch verstandene Eliminierung des Selbst aus dem Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens zur Generierung vermeintlicher Objektivität, die letztlich nur eine Ignorierung des Selbst darstellt, die das Tor ist, die eigentlich zu vermeidende Subjektivität unereflektiert mit offenen Armen hineinzulassen und damit die ihr eigenen Vorannahmen, Schemata und Begriffe? Was könnte uns demgegenüber der emotionale Zustand des Forschenden und Schreibenden sagen? Ich glaube, die Zeit des Dogmas der "Objektivität" muss vorbei sein. Das Selbst soll nicht ignoriert, sondern, entgegen der immer noch vorherrschenden Ignorierung, in den Schreibprozess offen integriert und verhandelt werden.
Sonstiges
Und vor ihm offenbarte sich die Welt in all ihren Facetten. Als der hässlich-schöne Misthaufen mit den Mistkäfern, die unentwegt den Kot ihrer Zivilisation von einem Ende zum anderen rollen, mit den Blumen, die sich lieblich duftend der stinkenden Ödnis die sie ernährt und erstickt emporankend widersetzen. Er wollte lachen und weinen über das immer gleiche Spiel des Gewimmels Ordnung in das Chaos zu bringen, die doch nur neues Chaos gebiert. Das ewig währende blinde Streben faszinierte ihn. Er wollte lachen und weinen aber alles was er konnte war das Spiel stumm und reglos betrachten. Nach Äonen der Betrachtung wandte er sich schließlich ab...
Das Bewahren der Kindlichkeit ist das einzige Bollwerk, zumindest aber ein Refugium gegen die kindische, dunkle und enge Obszönität die der Kerker der Erwachsenenwelt darstellt. Wir sollten sie alle hüten und uns nicht allzu willfährig der hegemonialen Wirklichkeit der Erwartungen jener Welt unterwerfen.
Unsicherheit, auch wenn sie auf der anderen Seite zu übersteigerter Klammerung an vermeintliche Sicherheiten führen kann, ist, entgegen der Geringschätzung als Schwäche in unserer durch Leistungethos geprägten Kultur, das Fundament von Weisheit. Nur aus Unsicherheit kann ein Hinterfragen hegemonialer Wirklichkeiten entstehen. In dieser Kraft liegt auch die Ursache der Geringschätzung. Unsicherheit verweigert die fraglose Reproduktion von Gewissheiten, von fraglos Gegebenem und schafft so Verunsicherung, gegen die das Sicherheitsbedürfnis, das Bedürfnis nach Verbindlichkeiten, wie es sich in der sozial geteilten und verteidigten hegemonialen Wirklichkeit zeigt und erfüllt, aufbegehrt. In der Unsicherheit liegt Gefahr aber sie ist zugleich der Weg zu wahrer Bildung. Unsicherheit fragt, Sicherheit verteidigt.
Welt und Wirklichkeit(en)
Eine gewaltlose Gesellschaft ist ein Irrglaube, eine intellektuelle Pathologie. Die Postulierung einer solchen basiert immer auf einem reduktionistischen, verschleiernden, infantilen und konstruiertem Gewaltbegriff, der bestimmte Formen herauskategorisiert und andere positiv gewendet kultiviert. Selbst das Ideal einer gewaltlosen Gesellschaft, selbst eine Ethik der Gewaltfreiheit bleibt im Grunde gewalttätig. Durch Erziehung, deren umfassendere Form die Sozialisation und sanktionierende und sanktionierbare Hierarchisierungen der Welt zu Wirklichkeit setzt sie sich als Grundstein eine solche Wirklichkeit als hegemoniale, die andere Wirklichkeiten vernichten wird. Jeder Wirklichkeit wohnt das Moment der Gewalt inne, eine Exklusivität, eine Reduktion, die nahezu immer zur wahren Natur erhoben wird. Gewalt ist dem Leben letztlich inhärent. Die Frage ist demnach nicht, ob Gewalt schlecht ist, sondern wie und in welcher Form sie gebraucht werden sollte und zu welchem Ziel. Letzteres sollte die Schaffung einer für alle emotionale Wesen erträglichen Wirklichkeit sein und auch diese wird ihre Grenzen mit Worten und Waffen, mit Erziehung, Bildung, Sozialisation, kukturellen Sinnstiftungen, Therapien, rechtlichen und sozialen Sanktionen, kurz mit einer ganzen Reihe an gewalttätigen und durch Gewaltmomente gestützten Prozessen verteidigen.
Die Wahrnehmung einer Person hängt maßgeblich von unseren Begriffen und Kategorien ab. Diese verändern sich spätestens wenn wir der Person einen neuen emotionalen Wert zuschreiben, sie also kennen und in Bezug auf sie fühlen lernen. Dies zeigt den Wert den Gefühle und Emotionen zur Veränderung von Selbst und Welt haben, der diese noch vor die Kognition stellt. Denn erst die Gefühle schaffen den Unterschied der Kategorien und Begriffe entstehen lässt. Ob wohlwollende oder feindliche kann dabei zumindest begrenzt von uns selbst entschieden werden.
Jedes Wort wählt aus. Jedes Wort schafft im Auswählen Wirklichkeit. In der Schaffung dieser Wirklichkeit tötet es letztlich all jenes, das ausgegrenzt, abgewählt wird. Jedes Sprechen erschafft die Welt. Die Wiederholung heisst Macht, Struktur, Formung. Wir sollten mit Bedacht sprechen.
Es gibt keinen Vorzug der Tat vor dem Wort. Worte sind Taten, Worte sind Waffen, Worte sind Gift und Medizin, Worte schaffen, verändern und zerstören Welt und Wirklichkeit. Worte erschaffen, Worte zerstören und Worte tun dies immer zugleich.
Wir müssen eine Welt schaffen in der das Denken wieder Wert hat. Eine Welt in der das denkende Individuum eine Wertigkeit abseits seines verkollektivierten Seins zum Ziele kapitalistischer Produktion als höchstem gesellschaftlichem und politischem Gut mit seiner eingeschränkten Produktivitätsbegrifflichkeit bekommen kann. Nur so überwinden wir die anmaßenden Obszönitäten von Kapitalismus und quantitativer Demokratie. Dass ein solcher Wert für jene eine Gefahr darstellt, zeigt sich in der wissensbulimischen Verschulung der Universität, die diese als letzten Hort der Wertschätzung des Denkens zu vernichten trachtet und die somit die kaputalistische Produktionsethik in die universitäre Bildung im letzten Gefecht einschreiben will. Unser Denken, Fühlen und Handeln, unser ganzer Wille und unsere ganze Kraft sollte dies zu verhindern trachten.
Warum werden Menschen verrückt? Weil die Welt den Wahsinn kultiviert. Das wir überhaupt so etwas wie "geistige Gesundheit" bei der Masse an täglich gesellschaftlich produzierten Paradoxien konstruieren können, ist wohl eines der größten Wunder die der bewußte Geist hervorgebracht hat.
Eine Gesellschaft, die materiellen Besitz als eine der wichtigsten Grundlagen für Anerkennung und Status konstruiert, das Bedürfnis nach diesem mittels Werbung körperlich durch Emotionen verankert, indem sie nicht das Produkt anpreist, sondern dessen als wertig erachteten Verheißungen (Glück, Frauen, Zugehörigkeit), eine Gesellschaft, deren Wirtschaftssystem letztlich nicht ohne dieses permanente Bestreben existieren kann, provoziert zwangsläufig den Diebstahl als Aneignungsform, die sie freilich kriminalisieren muss. Eine solche Gesellschaft schafft Individuen, die emotional zur Erreichung von Anerkennung, Status und Zugehörigkeit, ja selbst von Glück an diese Produkte und deren Verheißung gebunden sind. Sie erhält dieses Streben aufrecht, indem sie Ressourcen ungleich verteilt und durch ihr soziales System Chancen verwehrt. Nicht zuletzt sichert die Kriminalisierung das System und spricht allein dem "Täter" die Schuld zu.
Doch selbst wenn der Täter "schuldig" ist, so ist doch die Gesellschaft verantwortlich. Dies gilt umso mehr, als dass jede konkurrierende Wirklichkeit, jede "Subkultur" zur Bedrohung wird, da sie das Wertesystem auf dem alles fußt, in Frage stellt.
Dass wir alle die gleichen Chancen hätten und mit Arbeit jeder zu Reichtum gelangen könne, sind zwei der größten und fundamentalsten Lügen des Systems. Mit diesen wird sowohl das Wertesystem, in welchem materieller Besitz Wohlstand, Anerkennung, Glück und Status bedeuten, reproduziert, die kapitalistische Maschinerie am Leben erhalten und das System legitimiert, als auch in Verbindung mit der Idee des objektivierenden Struktufunktionalismus die Schuld die wir an dieser Reproduktion haben, negiert. Weder sind diese materiellen Bedürfnis der Kultur vorgängig, noch gibt es annähernd gleiche Chancen. Ohne Armut die wir alle stützen gibt es keinen Reichtum...
Natur ist ein kulturelles Konstrukt. So wenig wie wir Zugang zu einer Realität außerhalb unserer Erfahrungen haben, so wenig haben wir Zugang zu einer Natur die außerhalb unserer kulturellen Deutungssysteme liegt. Jedoch ist Natur zur höchsten Instanz der Rechtfertigung geworden, die ihre soziale Konstruktion mahezu völlig verschleiert. Das macht sie so mächtig wie gefährlich.
Ein Unternehmen, welches bereits in seiner Stellenausschreibung Loayalität einfordert, sollte mit Argusaugen und Argwohn betrachtet werden. Loyalität kann verdient werden aber nicht bereits a priori eingefordert sein. Wird es das, so sollte Misstrauen die Antwort sein. Nur Religionen, Dogmen und die alltägliche Lebenswelt als Quasi-Religion fordern ein solches A priori. Dem kritischen Denken muss dies supekt sein.
Kultur ist das Geflecht des Bedeutungsnetzwerks unserer Lebenswelt und dessen (Re)Produktion, das unhinterfragt Gegebene, wie das Halbbewusste, dass leiblich verankert, Sinn, Bedeutung und Handlungsgründe bereit stellt. Die Reduktion des Begriffs auf "Kunst" zeigt die gewünschte Haltung gegenüber Kultur an, sie soll als "Hochkultur" rezipiert, in der "Allgemeinkultur" aber unbeachtet und einstudiert bleiben. Kultur ist weit mehr als Kunst. Das Treffen einer Gruppe Bauarbeiter zur Mittagspause am Pommesstand ist ein hoch komplexer kultureller Vorgang, den es nicht nur zu rezipieren oder als fraglos Gegebenes lebensweltlich zu verstehen gelten muss, sondern zu erklären, zu hinterfragen, um uns so selbst besser zu verstehen und verändern zu können.
Wirkliche Bildung, verstanden als die Befähigung und Herausbildung zum (selbst)kritischen Denken, ist der Todfeind unseres Systems, welches wir beständig in unserem Denken und Handeln bis hinein in die rudimentärsten und alltäglichsten Routinen reproduzieren. Im offiziellen Bildungsbegriff, der in einer öbszönen Reduktion und Fetichisierung auf instrumentell-technisches Wissen, besteht, zeigt sich dies deutlich. Demgegenüber müssen die Worte John Stuart Mills zum Bollwerk der Universität gegen die Vereinnahmung durch systemreproduzierende Reformen werden: „Sie glauben, daß die Universität die Jugend für eine erfolgreiche Laufbahn in der Gesellschaft vorzubereiten hat; ich glaube, daß ihre einzige Aufgabe die ist, ihr den männlichen Charakter zu geben, der es ihr möglich machen soll, den Einflüssen der Gesellschaft zu widerstehen.“
Realität im Sinne einer "objektiven und uns zugänglichen Wahrheit" existiert nicht. Alles was wir stattdessen haben, ist ein milchiger Schleier gleich einem unbeschriebenen Blatt, auf dem wir etwas zu entdecken glauben, das uns bedeutungsvoll erscheint. Hieraus bauen wir uns in wechselseitiger Versicherung unsere Wirklichkeiten an die wir uns klammern um dem Chaos der Welt ohne Sinn und Orientierung zu entkommen. Realität als eben jene "erfassbare Wahrheit" ist eine Erfindung, die unsere Wirklichkeit vor Willkür und Chaos schützen soll, indem sie die Illusion errichtet, unsere Wirklichkeit, unsere Konstruktionen, unsere Perspektiven könnten in Übereinstimmung zur "Wahrheit" eine "natürliche" normative Kraft entfalten. Nur dadurch meinen wir, um unsere Wirklichkeit bis aufs Blut kämpfen zu können und zu müssen. Wie die Realität selbst, ist auch dies nur ein trügerischer Schein, es ist nicht mehr als das agressiv-angstvolle und nach Sicherheit strebende Zurückkriechen in den mütterlichen Schoß der Gemeinschaft, die uns immer wieder im Glauben an die "Wahrheit" wieg.
Kunst
Zerschlagt die Wirklichkeit; mit Worten, Bildern, Taten vernichtet Sie!" Das muss das oberste Credo revolutionärer Kunst sein. In der herrschenden Wirklichkeit, die sich als fraglos Gegebens zeigt und ihren willkürlichen Charakter verschweigt, sind wir in endloser Reproduktion gefangen, in all ihren Ordnungen, Werten und Hierarchien. Die sich als Norm setzende Wirklichkeitskonstruktion ist damit die Grundlage des leidproduzierenden Systems, dass es zu überwinden gilt. Zerschlagt die Wirklichkeit und setzt ihr eine andere entgegen. Dies ist die überfällige Psychotherapie der Welt. Philosophie und Kunst sind die bittere Medizin und der Vorschlaghammer.
Ich fordere eine wieder-neue Kunst, entsprungen aus einer "negativen Ästhetik", die der hegemonialen Wirklichkeit, welche geprägt ist durch der aus der protestantischen Arbeitsethik entstandenen kapitalistischen Denkweise des produktiven Strebens-Ideals und der darin eingebetteten Glücksethik, der in den als negativ assoziierten Gefühlen Pathologien sieht, die das Individuum zum Ziele des produktiven Strebens bezwingen müssen soll, über eine Ästhetik des Schwermütigen eine andere entgegenstellt. Die Melancholie als kontemplatives, nicht produktiv-strebendes Gefühl muss wieder aufgewertet werden. Diese Ästhetik sieht das Heil nicht in einer Reduktion hin auf eine Konstruktion des Glücklichen als Schönem und Gutem, sondern in der Komplettierung des (Er)Lebens. Ich fordere eine Kunst, die sich dem Kunstgenuss als passivem Erleben verweigert, die prozesshaft, auszugshaft bleibt und die Rezeption als ihr komplettierendes Moment denkt.
Wissenschaft und Welt
Wenn wir die Erkenntnisse der Emotionsforschung ernst nehmen und ich denke, dass sollten wir, wenn wir also bereit sind, zu glauben, dass Emotionen das Denken in bisher kaum geahntem Maße beeinflussen, sollten wir dann nicht vergleichend in verschiedenen emotionalen Zuständen arbeiten? Gehört dann nicht zumindest die Hervorhebung, die Explizierung des zu erforschenden eigenen emotionalen Zustands, freilich mit kritischer Betrachtung der zu dieser Erforschung gebrauchten "Begriffe", zur Grundlage wissenschaftlich-relfexiven Schreibens und Denkens? Ist dies nicht ein weiteres Argument gegen die falsch verstandene Eliminierung des Selbst aus dem Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens zur Generierung vermeintlicher Objektivität, die letztlich nur eine Ignorierung des Selbst darstellt, die das Tor ist, die eigentlich zu vermeidende Subjektivität unereflektiert mit offenen Armen hineinzulassen und damit die ihr eigenen Vorannahmen, Schemata und Begriffe? Was könnte uns demgegenüber der emotionale Zustand des Forschenden und Schreibenden sagen? Ich glaube, die Zeit des Dogmas der "Objektivität" muss vorbei sein. Das Selbst soll nicht ignoriert, sondern, entgegen der immer noch vorherrschenden Ignorierung, in den Schreibprozess offen integriert und verhandelt werden.
Sonstiges
Und vor ihm offenbarte sich die Welt in all ihren Facetten. Als der hässlich-schöne Misthaufen mit den Mistkäfern, die unentwegt den Kot ihrer Zivilisation von einem Ende zum anderen rollen, mit den Blumen, die sich lieblich duftend der stinkenden Ödnis die sie ernährt und erstickt emporankend widersetzen. Er wollte lachen und weinen über das immer gleiche Spiel des Gewimmels Ordnung in das Chaos zu bringen, die doch nur neues Chaos gebiert. Das ewig währende blinde Streben faszinierte ihn. Er wollte lachen und weinen aber alles was er konnte war das Spiel stumm und reglos betrachten. Nach Äonen der Betrachtung wandte er sich schließlich ab...
Das Bewahren der Kindlichkeit ist das einzige Bollwerk, zumindest aber ein Refugium gegen die kindische, dunkle und enge Obszönität die der Kerker der Erwachsenenwelt darstellt. Wir sollten sie alle hüten und uns nicht allzu willfährig der hegemonialen Wirklichkeit der Erwartungen jener Welt unterwerfen.
Unsicherheit, auch wenn sie auf der anderen Seite zu übersteigerter Klammerung an vermeintliche Sicherheiten führen kann, ist, entgegen der Geringschätzung als Schwäche in unserer durch Leistungethos geprägten Kultur, das Fundament von Weisheit. Nur aus Unsicherheit kann ein Hinterfragen hegemonialer Wirklichkeiten entstehen. In dieser Kraft liegt auch die Ursache der Geringschätzung. Unsicherheit verweigert die fraglose Reproduktion von Gewissheiten, von fraglos Gegebenem und schafft so Verunsicherung, gegen die das Sicherheitsbedürfnis, das Bedürfnis nach Verbindlichkeiten, wie es sich in der sozial geteilten und verteidigten hegemonialen Wirklichkeit zeigt und erfüllt, aufbegehrt. In der Unsicherheit liegt Gefahr aber sie ist zugleich der Weg zu wahrer Bildung. Unsicherheit fragt, Sicherheit verteidigt.
Mittwoch, 11. Dezember 2013
Gefühlsräume und gefühlte Räume – räumlich strukturiertes Fühlen und seine Funktion in der Frühen Neuzeit
Dier kurze Text, stellt eine einführende Skizze meiner momentan Forschung dar und ist als solche zu lesen. Weder beanspruche ich hier Vollständigkeit, noch ist das als endgültiges Ergebnis anzusehen. Es ist vielmehr ein prozesshafter Ausschnitt, eine erste, einführende Bestandsaufnahme. Zitieren ist wie immer erlaubt, alles andere Bedarf meiner ausdrücklichen Zustimmung.
Gefühlsräume und
gefühlte Räume – räumlich strukturiertes Fühlen und seine
Funktion in der Frühen Neuzeit
Emotionen
und Räume sind in der Geschichtswissenschaft als Themen mittlerweile
akzeptiert und etabliert. Zunehmend geraten diese aber nicht nur als
Einzelthemen, sondern als Wechselbeziehung, in ihrer gemeinsamen
Bedingt- und Verbundenheit und in ihrem konstruierten und
wirklichkeitskonstruierenden Charakter in den Blick. Dies soll auch
den Rahmen dieser Arbeit vorgeben.
Fühlen
wird sozial erlernt und sozial abgesichert.1
Im gemeinsamen Fühlen bestätigt sich eine Gesellschaft als solche,
wie auch ihre Werte und Weltkonstruktion. Fühlen schafft und erhält
die je spezifische Wirklichkeit. Der Lern- und Kontrollprozess von
Gefühlen findet zugleich nicht im „leeren Raum“ statt, sondern
ist auch räumlich strukturiert. In und zu unterschiedlichen Räumen2
wird unterschiedlich Fühlen und dies kommunizieren erlernt, um die
Räume in ihrer Bedeutung und Handlungsanweisung zu schaffen und zu
bestätigen. Die Lebenswelt ist somit emotional kartografiert. Die
Kontrolle dieser Prozesse ist dabei zugleich Machtinstrument und
Ordnungsinstanz.
Wie
das Fühlen sind auch Räume sozial erlernt. Diese sollen verstanden
werden als Wahrnehmungs-, Handlungs- und damit Ordnungsstrukturen,
die im engen Zusammenhang zu Emotionen, bzw. mit zu Gefühlen
konzeptionalisierten Emotionen stehen. Der Raum ist hierbei sowohl
raumanalytisch im Sinne Löws zu betrachten, also als relationale
(An)Ordnung verschiedenster zentraler und peripherer Elemente, die
einzeln und als Gesamtensemble mit Bedeutung versehen sind, als auch
als Herum des Selbst, als „Container“ innerhalb der
lebensweltlichen Wahrnehmung, die Denk-, Handlungs- aber auch
Fühlmuster anzeigen. Sowohl die unbewusste Konstruktion, als auch
der als bedeutungshaftes Ganzes wahrgenommene Raum müssen betrachtet
werden, um das Gesamtphänomen erfassen zu können.
Emotionen
und Gefühle sind räumlich bezogen und bedingt. Ebenso sind Räume
durch Emotionen und Gefühle bedingt. Diese sind Teil des Raumes, an
dessen Entstehung und Reproduktion beteiligt und Teil seiner
Bedeutung innerhalb einer Gesellschaft und ihrer Teile, die sie
anzeigen. Aus dieser Bedingtheit ergibt sich nach ersten Überlegungen
ein gegenseitig bezogenes Erlernen von Räumen und Gefühlen. Diese
können somit als eine gemeinsame Struktur der Lebenswelt, der
jeweiligen Wirklichkeit gedacht werden. Inwieweit dies zutreffend ist
und es sich an konkreten Beispielen zeigt, gilt es im Zuge dieser
Arbeit herauszufinden.
Ausgehend
von der theoretischen Erarbeitung des Zusammenhangs von Raum und
Emotion, nicht nur als jeweils eigenständige Strukturen der
Wirklichkeit(en), sondern als gemeinsame, bezügliche Struktur, soll
im Anschluss der Zusammenhang exemplarisch in seiner Funktion und
Bedingtheit (und damit auch Nutzung) untersucht werden. Dafür sollen
ausgewählte Räume, „alltägliche“, wie „außeralltägliche“
in ihrer Konstitution und Wahrnehmung, sowie vor allem in Bezug auf
ihre emotionale Strukturierung, Schaffung und Bereitstellung von
emotionalen Mustern, wie auch ihre Rolle in Bezug auf den Lernprozess
von Gefühlen betrachtet werden. Ziel ist es, die Lebenswelt als
emotional kartografiert, den gegenseitig bedingten Aneignungsprozess
und die Funktion dieser Verbindung, vor allem im Sinne der
Sozialdisziplinierung (in einem weiten Sinne) aber auch Devianz,
spezifisch zu beleuchten. Zentrale Räume, bzw. Raumkomplexe sind
dabei beispielhaft „die“ Schule, „der“ Kerker, „die“
Straße, zu denen im Laufe der Untersuchung weitere hinzukommen
können.
Welche
Modelle des Fühlens werden zur Bewältigung alltäglicher und
außeralltäglicher räumlicher Situationen bereit gestellt,
kultiviert und in Bezug auf diese erlernt und wie schaffen diese die
Räume mit? Gibt es dabei situations-, milieu- oder
schichtspezifische, konkurrierende Konzepte und Normen und damit
eventuell zusammenhängende Identitäten. Mit anderen Worten, folgt
aus der spezifischen emotionalen Bewältigung und Aneignung
räumlicher Situationen, bzw. dem Erlernen unterschiedlicher
emotionaler Konzepte in und zu Räumen eine spezifische Rolle oder
gar Wirklichkeit, die nicht nur unterschiedliche Räume und Gefühle,
sondern auch unterschiedliche Zusammenhänge produziert? Oder
umgekehrt, bieten spezifische Rollen spezifische (emotionale)
Wirklichkeiten und emotionale Muster an, die zur Bewältigung
angeeignet werden können? Was bedeutet das raumbezogene Erlernen von
Gefühlen für beide Strukturen? Wird und wenn ja, wie, dieser
Zusammenhang aktiv genutzt?
Erste
Anzeichen für eine aktive Aneignung von Rollen in Form und durch
spezifische räumlich-emotionale Muster liefert die Betrachtung „des“
Kerkers, in welchem mit zugeschriebener, bzw. normativ verlangter
Gefühle verbundene Wirklichkeiten mit anderen, aus der räumlichen
Situation sich ergebenen, vor allem auch emotionalen Rollen
konterkariert werden (können), die in Bezug auf den Raum normiert
und erlernt und in seinem Erleben angewendet und je unterschiedlich
spezifisch angeeignet werden. Auf diese Weise existiert nicht eine
emotional kartografierte Welt, sondern spezifische Welten in und mit
Hilfe verschiedener Identitäten.
Um
diesen Zusammenhang und seine Funktionen, bzw. Wirkungen zu
untersuchen, ist es nötig, die Räume in ihrer Konstitution und
ihrem Erleben zu untersuchen. Ebenso müssen die jeweiligen Gefühle,
ihrer Norm nach aber auch in ihrem kommunizierten Erleben betrachtet
werden. Welche Gefühle tauchen in und zu den jeweiligen Räumen auf,
wie werden diese (raumbezüglich) erlernt, angeeignet, eingeübt und
kommuniziert. Hängen diese mit spezifischen Rollen zusammen? Es gilt
also sowohl normative Quellen im weitesten Sinne, also
wissenschaftliche Literatur, Policeygesetzgebung, Ratgeber usw. zu
analysieren, wie vor allem auch Selbstzeugnisse, die das Erleben in
erlernten Bahnen spiegeln. Dabei sind in letzterem jedoch die
kommunizierten Gefühle nicht (automatisch) als tatsächlich
empfunden zu denken, sondern vor allem als Kommunikationsmittel zu
betrachten, als Begründungen und Erklärungen für konformes oder
nonkonformes Handeln oder als Mittel der Bedeutungsübertragung, bzw.
Wirklichkeitsanpassung, sowie als Mittel der Durchsetzung der eigenen
Sichtweise (so kann Mitleid erweckt werden, um die eigene Position
bei den Lesern zu verändern, bzw. Eigen- und Fremdbild anzupassen
oder den Wahrheitsanspruch zu unterstreichen).
Wichtig
ist in diesem Zusammenhang, die Gefühle vor allem in ihrer Wirkung
auf das Denken und Handeln zu betrachten. Wo es nötig wird, ist
zudem eine metasprachliche Untersuchung der Gefühle nötig, um
besonders in Fällen gleicher oder ähnlicher Vokabeln nicht
gegenwärtige Bedeutungen, Inhalte und Handlungskonsequenzen in diese
hinein zu transportieren und so das Ergebnis zu verfälschen, bzw. zu
„verunzeitigen“. Gleiches gilt für die jeweiligen Räume, die
trotz gleichem oder ähnlichem Namen anders konstituiert sein können.
Dies gilt in beiden Fällen auch für zeitgenössisch verschiedene
Ausprägungen, die durch verschiedene Milieus bestimmt sind.
Zur
Beschränkung des Umfangs soll die Arbeit auf schriftliche Zeugnisse
fokussieren und allenfalls ergänzend bildliche Quellen hinzu ziehen.
Eine dezidierte Analyse von Bildquellen muss zum jetzigen Standpunkt
weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
Auf
diese Weise soll sich ein freilich unvollständiges Bild der
emotional kartografierten Lebenswelt ergeben, der historischen
Zusammenhänge von Raum und Gefühl in der gemeinsamen Aneignung und
der diesem Prozess zugewiesenen Funktion und lebensweltlichen
Wirkung, basierend auf den theoretischen Vorüberlegungen, die
selbstredend aktuelle Forschungen rezipieren müssen.
Die
Arbeit geht damit einen doppelten Weg. Zum Einen soll anhand neuester
Forschung der Zusammenhang von Emotion und Raum als gemeinsames
strukturbildendes Merkmal untersucht werden und zum Anderen soll
anhand der sich daraus ergebenden Frage, dem sich ergebenden
„Brennglas“, die frühneuzeitliche Welt in Bezug auf die konkrete
Ausprägung und konkrete Zusammenhänge betrachtet werden.
Die
Arbeit will einen Beitrag zum Verstehen des Zusammenhangs von Emotion
und Raum beitragen, sowie die emotionale Kartografierung, so und wie
sie sich fassen lässt, in ersten Zügen beispielhaft erfassen.
1Vgl.
dazu u.a. Jutta Stalfort, Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie
über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität
(1750-1850) (Bielefeld: transcript, 2013), insbesondere 106f, sowie
generell Christian von Scheve, Emotionen und soziale Strukturen. Die
affektiven Grundlagen sozialer Ordnung (Frankfurt am Main/New York:
Campus 2009). Beide Arbeiten sind für diese Untersuchung von großem
Wert.
2Das
hier vertretene Raumkonzept basiert zum großen Teil aus
Weiterführungen von raumsoziologischen Ansätzen wie jenen Martina
Löws, als auch phänomenologischen. In dieser Hinsicht ist die
Ebene der Konstruktion von Räumen, die weitgehend unbewusst
abläuft, von jenen der Raumerfahrung in der alltäglichen
Lebenswelt zu unterscheiden und muss für die Untersuchung
grundsätzlich beachtet werden. Prinzipiell sind Räume als soziale
Ordnungssysteme und Handlungsmuster zu verstehen, die nur in der
Wahrnehmung als Ganzes und Gegebenes (bzw. fraglos Gegebenes)
erscheinen, in der Konstitution aber aus verschiedenen Elemente
zusammengesetzt sind und die jeweils einzeln als auch als Ganzes mit
Sinn und Handlungsanweisungen belegt sind. Vgl. dazu Martina Löw,
Raumsoziologie (Franfurt am Main: Suhrkamp, 2001), sowie Sebastian
Ernst, „Inueni portam spes et fortuna valete!“. Der Hafen als
kulturelles Konstrukt in der Frühen Neuzeit (Potsdam:
unveröffentlichte Magisterarbeit an der Universität Potsdam),
11ff.
Montag, 2. Dezember 2013
Gibt es gestalterisches Forschen? Eine Annäherung
Diese Frage geht zurück
auf eine Ringvorlesung an der BTK in Berlin, die mich zugleich
inspirierte, selbst dieser Frage in einer Verdeutlichung nachzugehen.
Es geht dabei nicht darum, sie zu beantworten, zumindest nicht zur
Gänze, sondern sich der Antwort fragend zu nähern und einige, aus
meiner Sicht zu beachtende Aspekte zu verdeutlichen.
Bei näherem Hinsehen
zerfällt diese Frage in mehrere, die sich nach unterschiedlichen
Begriffen ausrichten, so ist von „Kunst“, „Gestaltung“, wie
auch „Design“ die Rede, die jeweils nicht bedeutungsgleich
gelesen werden können, ein Problem, dass später noch zum Tragen
kommen wird.
Ich will mich dieser
Frage, ohne eine umfangreiche vergleichende Begriffsklärung
anzustrengen, in ihrer jeweiligen durch die Begriffe bestimmten
Eigenheiten nähern.
1. Gibt es
gestalterisches Forschen?
Diese Frage ist von allen
die am einfachsten zu beantwortende. Mit dem Begriff der Gestaltung
wird ein „kreativer Schaffensprozess, bei
welchem durch die Arbeit des Gestaltenden eine Sache [...] verändert
wird, d. h. erstellt, modifiziert oder entwickelt wird und dadurch
eine bestimmte Form oder ein bestimmtes Erscheinungsbild verliehen
bekommt oder annimmt“ gemeint. Bei wikipedia wird dabei zwischen
zwei Bedeutungen unterschieden. Zum Einen bezeichnet Gestaltung
„einen bewussten Eingriff in die Umwelt mit dem Ziel, diese in eine
bestimmte Richtung zu verändern.“ Zum Anderen ist Gestaltung die
„bewusste, verändernde Einflussnahme auf die ästhetische
Erscheinung von Dingen oder Zusammenhängen, also auf unmittelbar
sinnlich wahrnehmbare Phänomene (wie Räumen, Objekten, Handlungen,
Bewegung usw.). Beispiele sind die Bereiche der Musik,
sowie die verschiedenen Designbereiche als Gestaltung von Produkten, Grafik, Mode, Architektur usw. oder die individuelle Körpergestaltung oder Umfeldgestaltung.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Gestaltung, letzter Zugriff 02.12.2013, 12:03.)
So
klar diese Trennung scheint, so wenig ist sie praktisch gegeben, denn
jede, nennen wir sie „ästhetische Gestaltung“, ist zugleich
Gestaltung in eine bestimmte Richtung innerhalb des Rahmens aus
Selbst- und Weltkonstruktion von Akteuren und Gesellschaften. Die
„angemessene Formfindung“ als Inhalt des Begriffs innerhalb der
zweiten Ebene, wie er scheinbar im Kontext des Designs gebraucht wird
ist zwar oberflächlich betrachtet ein bewusster Prozesse aber auch
er folgt Phänomenen, die man mit „Zeitgeist“, „Kultur“,
„Identität“ bezeichnen könnte.
Um
sich der Frage nun weiter zu nähern, ist zwischen weiteren
Bedeutungen zu unterscheiden. So kann „gestalterisches Forschen“
den Begriff der Forschung fokussieren, als auch den Begriff des
Gestaltens. Zu erst soll die erste Bedeutung betrachtet werden, da
diese erneut einfacher zu beantworten ist. Die zweite Bedeutung soll
entsprechend umformuliert werden im Sinne des „Forschens mit
gestalterischen Mitteln“ oder anders „Design als Wissenschaft“.
Die
erste Frage kann nun leicht beantwortet werden, denn Forschen ist
immer gestalterisch. Erforschen wir Vergangenheit, gestalten wir sie
zu Geschichte, die ihrerseits bestimmten Rahmenbedingungen und
Deutungen unterliegt. Aus Vergangenheit wird Geschichte gemacht. Das
jeweils Denk- und Interpretationspotential, dass zur Gestaltung
genutzt werden kann, ist durch kulturelle, institutionelle und
soziale Determinanten vorgegeben.
Was für die
Geschichtswissenschaft gilt, gilt jedoch für alle Wissenschaften und
ist wechselseitig zu denken. Wissenschaftlicher Erkenntnisse werden
gestaltet, durch Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, durch
institutionelle Besonder- und Gegebenheiten aber sie gestalten auch
diese um. Bereits die Übersetzung in eine Sprache, das Denken in
Sprache, ja selbst der Blick auf die Untersuchung und ihre
Ergebnisse, die Themenauswahl und Methodenwahl sind Mittel der
Gestaltung und daher auch in jedem wissenschaftlichen Arbeiten, neben
weiteren Aspekten wie der kulturellen Rahmung, Identität und
Motivation als verändernde oder in diesem Sinne gestaltende Momente
zu beachten. Gibt es also in diesem Sinne „gestalterisches
Forschen“? Die Antwort muss „ja“ lauten.
Im Zusammenhang mit
dieser Bedeutungsebene steht ein weiterer Aspekt, der nicht zuletzt
durch das Ringen um eigenständige Bedeutung in bestehenden
Hierarchisierungen und Anerkennungsmechanismen steht: der Kampf des
Designs um einen eigenständigen Wert, der sich in der später zu
klärenden Frage nach Design als eigener Wissenschaft spiegelt, in
der sich das Design von der Marginalisierung als bloße „Hilfsarbeit“
der Wissenschaften zu lösen wünscht. Das Aufwertungsbestreben
bezieht sich dabei auch gleichzeitig auf diese „Hilfstätigkeit“
im Ringen um Anerkennung. Dabei birgt eine solche Verwendung
(weiterer!) gestalterischer Mittel sowohl Gefahren, als auch
Potential zur eigenen Neuverortung und Anerkennung.
In einer Welt der
stärkeren „Demokratisierung von Wissen“ (ausdrücklich ist hier
auf den Unterschied zwischen „Wissen“ und „Bildung“ zu
verweisen, auf den hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann)
und des Kampfes auch um monetäre Anerkennung und damit Fortbestehen
ganzer Wissenschaftszweige verstärkt sich der Druck nach
breitenwirksamer Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dabei
ist diese Streben insofern positiv, als dass es die
Instrumentalisierung des Wissens durch Interessengruppen verringern
kann, da die Vermittlung zugleich durch die Forscher selbst
„überwacht“ werden kann und insofern es, so das Wissen im Rahmen
einer Bildung verwendet wird, einem wichtigen Ziel folgen kann.
Aufgrund dessen kann hier
für das Design Anerkennung generiert werden, die jedoch mit Vorsicht
und mit eigener starker Theoriearbeit und Reflektion seitens des
Designs versehen sein sollte. Die in diesem Sinne „massentaugliche“
Gestaltung der Ergebnisse ist dabei als Übersetzung zu
konzeptionalisieren. Viel wenig beachtet scheint mir dabei die
Problematik einer Übersetzung. Bei jeder Übersetzung (selbst
innerhalb der Kommunikation zwei scheinbar die gleiche Sprache
Sprechender) kommt es zu Bedeutungsverschiebungen, die in diesem
Falle durch eine geforderte Komplexitätsreduktion begleitet werden.
Was bei einer Übersetzung geschieht ist eben nicht eine 1:1
Umwandlung, sondern eine Umwandlung, die zugleich eine Verwandlung
ist, neue Bedeutungen vermittelt, manche fokussiert, manche nicht.
Dies zu beachten und kritisch aufzuarbeiten könnte ein wirklich
wichtiger theoretischer Beitrag des Designs für Wissenschaft und
Bildung sein. Freilich kann und muss das Design dabei auf
Erkenntnisse der Kulturwissenschaften, Psychologie,
(Wissens)Soziologie, Philosophie und der Neurowissenschaften
zurückgreifen, kann sie jedoch speziell auf ihr Aufgabengebiet hin
ausrichten und erweitern.
Zum Abschluss dieses
Bereichs sei noch kurz auf einen weiteren Aspekt hingewiesen. Die
Übersetzbarkeit gilt nicht nur in Richtung der Massentauglichkeit,
sondern auch in Richtung des Verstehens seitens der Wissenschaftler
selbst. So kann die gestalterische, vor allem grafische Übersetzung
neue Perspektiven eröffnen und über ihre Bedeutungsverschiebung und
Fokussierung zugleich den Erkenntnisgewinn positiv beeinflussen.
Sowohl Gefahren als auch
Wert liegen hier also eng beieinander und das Bedürfnis nach
Anerkennung sollte vor allem ersteres nicht überblenden.
Der nächste Abschnitt
wird der Frage nach künstlerischem Forschen und Design als
Wissenschaft gewidmet sein.
Sonntag, 1. Dezember 2013
Erlebbare Geschichte - erste Gedanken zu Hintergründen und zentralen Kategorien
Vergangenheit hat Konjunktur. Freilich gilt dies nachwievor nicht für den Geschichtsunterricht, der eher mit Kürzungen von staatlicher Seite und der Langeweile, die er bei den Schülern immer nochhervorruft, zu kämpfen hat. Das Interesse an Geschichte zeigt sich an anderen Stellen. So erfreut
sich eine bestimmte Form (oder eigentlich genauer bestimmte Formen) der Beschäftigung mit Geschichte als Hobby seit den 1970er Jahren eines bemerkenswerten Aufschwungs. Die Rede ist von Living History (im Deutschen oft als "Erlebbare Geschichte" übersetzt), Reeactment und Reenlarpment und ihren verschiedenen Ausprägungen und Interpretationen, die wohl die wichtigsten Spielarten der Beschäftigung, Aneignung und Vermittlung von Geschichte in darstellender Form durch Laien beschreiben. Trotz ihrer Verschiedenheit, sowohl untereinander, als auch innerhalb ihrer Definitionen, handelt es sich dabei um Formen der erlebnisorientierten, sinnlichen, affektorientierten und performativen Aneignung und Vermittlung. Die so entstehende Geschichtskultur beansprucht zudem von ihren Akteuren eine spezifische, jedoch ernsthafte und quellenorientierte Beschäftigung und Aufarbeitung historischer Sachverhalte. Dabei existiert allerdings eine große Bandbreite an qualitativ unterschiedlichen Ausprägungen, basierend vor allem auf gegenseitigen Bewertungen aufgrund unterschiedlicher Wertmaßstäbe und Definitionen von "Authentizität", sowohl des Dargestellten, als auch zum Teil des Erlebten, des direkten Erfahrens bestimmter Kulturtechniken und Anwendungen, dem historischer Erkenntniswert zugesprochen wird.Ein wichtiges, gemeinsames Merkmal dieser Formen ist, dass es sich dabei um eine Beschäftigung außerhalb "klassischer" institutionalisierter Bildungseinrichtung handelt. Allerdings bedienen sich auch diese "klassischen", anerkannten Institutionen historischer Forschung und Vermittlung zunehmend dieser Formen, um einem anscheinend recht breiten Interesse an erlebnisorientierter Vermittlung von Geschichte gerecht zu werden. Je nach Fokus der einzelnen darstellenden Akteure ergibt sich daraus eine mehr oder weniger starke Wechselwirkung, die sich jedoch vor allem auf einen bestimmten Teil der "Szene" beschränkt, der sich nach eigenen Maßstäben als besonders engagiert und wissenschaftlich arbeitend definiert.
Auf all diese Unterschiede müssen Untersuchungen zwingend achten, denn genau genommen handelt es sich um mehrere Hobbys und nicht um eins. Dies zu ignorieren würde zwangsläufig zu falschen Einschätzungen führen.
Das wachsende Interesse sowohl von Seiten der Darsteller, als auch von Seiten der Rezipienten an diesen spezifischen Formen ist nun Grund genug, sich eingehender mit diesem Phänomen zu befassen.
Nicht zuletzt aufgrund meines eigenen Engagements und meiner "Zwischenrolle" als Living History-Akteur und Historiker, gilt mein Interesse diesem Phänomenbereich. Mein Interesse richtet sich dabei vor allem auf die Hintergründen, Grundlagen, Geschlechter- und Rollenkonstruktionen, den Motivationen und der Ausarbeitung einer geeigneten Didaktik "Erlebbarer Geschichte" unter der Neuen Kulturgeschichte als Leitdisziplin.
Im Laufe der Zeit werde ich einige Auszüge meiner Beschäftigung mit diesen Themen hier veröffentlichen. Den Anfang macht eine kurze Auseinandersetzung mit den Hintergründen dieses "Hobbys", sowie mit einer der Kernkategorien dieser Vermittlungs- und Beschäftigungsform mit zu Geschichte(n) verdichteter Vergangenheit.
Erlebbare Geschichte als bedürfnisorientierte Aneignung von Vergangenheit
Aneignung von Vergangenheit als Geschichte oder besser, als sinnlich erlebbarer Geschichte bedient und über ein Sendungsbewusstsein die Ergebnisse dieser Aneignung weitergeben wollen.
Diese Formen der Aneignung sollen als "subkulturelle Kolonialisierung (scheinbar) brachliegender Sinnprovinzen" verstanden werden.* Sie erfüllen damit ein Bedürfnis nach Deutung von Vergangenheit, die auf anderem Wege scheinbar nicht oder unzureichend vorgenommen und oder vermittelt wird, sowie den Bedürfnissen, Sehnsüchten und Vorstellungen der sich dieser Formen Bedienenden und deren Rezipienten nicht gerecht zu werden scheint.
Was ist damit gemeint? Wie kommt es zu dieser Form der Aneignung, was sind deren Bedingungen und Triebkräfte? Im Folgenden sollen einiger erste Thesen vorgestellt werden.
Allen kulturellen Wesen zu eigen, ist das Bedürfnis, die Welt und ihre Erscheinungen mittels Symbolsystemen sinnhaft zu deuten und damit zugleich der Sinnlosigkeit und des Chaos zu entgehen. Diese Deutungen sind zudem Ressourcen für das Selbst- und Weltbild, für Identitäten, Gewissheiten und damit Sicherheit, sie machen überhaupt erst handlungsfähig, in dem sie oftmals schwer fassbare Kausalketten begreifbar machen oder jene imaginär erschaffen. Deutungen sorgen zudem dafür, Sehnsüchte und Bedürfnisse in die scheinbar natürliche Welt zu integrieren und damit legitimieren zu können.
Die Deutung von Vergangenheit ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Vergangenheit wird immer in Form von sinnhaften Erzählungen vermittelt und erst so zur Geschichte. Diese wiederum is sowohl Quelle für Identitäten, politische, religiöse und soziale Legitimation, Philosophien und kann selbst Entwürfe der Zukunft in sich tragen.
Nach dieser Sichtweise sagt uns Geschichte wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen (sollen).
Zumindest sind dies scheinbar Ansprüche, die besonders außerhalb akademischer Beschäftigung (nicht zuletzt auch seitens der Politik) an diese gestellt werden und die besonders in älteren Geschichtsphilosophien und ihren Großen Erzählungen zu Tage treten.
Der Reiz dieser Erzählungen in der Rezeption liegt vor allem darin, dass sie leicht anzueignen sind und eine einfache (Ein)Ordnung in und von der Welt erlauben. In zunehmenden Maße wurden diese doch besonders in der akademischen Welt verdrängt und durch komplexere Kontruktionen von Geschichte ersetzt.
Diese einfacher zu rezipierenden Erzählungen als Geschichte sind für viele heutige Darsteller auch die erste Erfahrung im intensiveren Umgang mit Geschichte (die über die eigene hinaus geht), da diese oftmals immer noch in der Schule gelehrt werden. Auf diesem Wege werden bestimmte Formen der Strukturierung von Geschichte und deren Aneignung erlernt die außerhalb akademischer Geschichtswissenschaft selten überwunden werden.
Zwar werden gerade die Bereiche, mit denen sich die hier untersuchte Kategorie darstellender Geschichtsinterpretation beschäftigt noch immer in der Schule vernachlässigt, jedoch besteht die sehr reale Gefahr, auch an neue Themen und deren Erarbeitung die erlernten Strukturierungen und Interpretationen anzuwenden.
Die starke persönliche Identifikation bietende Alltagsgeschichte, in denen sich die meisten Darstellungen abspielen (wollen) werden so unter genau diesem Aspekt angeeignet, als sinnhafte, große Erzählung, die auf bestimmte, noch zu untersuchende Punkte fokussiert und die Aneignung von Geschichte als Möglichkeit der Identitätsfindung nutzt, bei gleichzeitiger Offenheit für Sehnsüchte und Bedürfnisse. Dieser Raum ergibt sich dabei aus der Vernachlässigung dieser Themenbereiche und so weitaus offener für Deutungen außerhalb der Fachwissenschaft scheinen. Die wenig spannende Geschichte, die lange auf Politik- und Wirtschafts-, teils auf Ideen- und wenig auf Sozialgeschichte setzte, jedoch durch große sinnhafte Erzählungen die Identitätsstiftung beförderte und so Geschichte nicht selten auch vereinfachte (wohl auch zu sehr vereinfachte oder besser vereinheitlichte), konnte sich so einerseits als erlerntes Ideal wie Geschichten zu konstruieren seien setzen, als auch Raum lassen, um sich brachliegenden Bereichen zu widmen, die ungleich spannender erschienen.
Zwar bricht die Neue Kulturgeschichte, die auch langsam Einzug in den Unterricht an Schulen hält, mit vielen dieser Erzählungen alten Typs, sie verkompliziert Geschichte jedoch scheinbar und tatsächlich und stattet sie mit einer größeren deuterischen Vielheit aus, die in der wissenschaftsfremden Rezeption bis zur Willkür erscheint. Damit verliert sie nicht nur scheinbar an Legitimität und ihres Deutungsmonopols, sondern sie öffnet aufgrund ihrer schweren Verständlichkeit alternativen Deutungen die Möglichkeit, sich festzusetzen. Besonders letztere vermögen Sehnsüchte, wie auch Bedürfnisse nach Einfachheit, Sicherheit und Identität besser zu erfüllen. Gerade der Wegfall “großer, einheitlicher, sinnvoller Erzählungen”, die relativ leicht Identitäten erlauben, Sinn und Ziel geben und nicht zuletzt vergleichbar “leicht” anzueignen sind, hat eine große Lücke hinterlassen. Die fortwährende Dekonstruktion der Sicherheit und Gewissheit versprechenden Erzählungen in der postmodernen Wissenschaft ohne die Vermittlung neuer Identitätsschablonen, hat für große Verunsicherungen gesorgt, für eben jenes scheinbare Chaos, dem zu entgehen kulturelle Wesen bestrebt sind.
Die Ablehnung der Fachwissenschaft ist jedoch ebenso bei den Akteuren zu sehen, die für sich einen hohen Grad an Quellenorientierung, Authentizität und wissenschaftliche Methodik beanspruchen. Dabei geht diese Ablehnung jedoch über jene weniger auf diese Werte setzende Akteure hinaus. Dies gilt jedoch vor allem für die Geschichtswissenschaft, die einen anderen Status als die Archäologie einzunehmen scheint. Letztere ist dabei eher als die Leitwissenschaft vieler Living History Ansätze zu betrachten. Die Geschichtswissenschaft wir hierbei nicht nur aufgrund ihrer Komplexität und Dekonstruktionsleistung abgelehnt, sondern auch, um die eigene Expertise zu legitimieren. Dazu trägt die oft latente bis offene Fixierung auf Sachkultur (im Gegensatz zur Materiellen Kultur, die die sozio-kulturelle Ebene der Gegenstände weit stärker in den Fokus nimmt) und/oder vor allem Arbeitsabläufe als Kulturtechniken (die jedoch oftmals ihrem Kontext und damit ihrem Bedeutungsnetzwerk enthoben und verzerrt sind) bei, die scheinbar besser konkret verwertbare und vermittelbare Ergebnisse liefern. Besonders in dem Bereich der handwerklichen und konkret physischen Eigenschaften der Sachkultur ist erstaunliches Fachwissen vorhanden, was jedoch dazu zu führen scheint, andere Bereiche Materieller Kultur zu vernachlässigen, so dass sich das Erleben der Geschichte auf wenige Ausschnitte modernen Erlebens historischer Gegenstände und Handwerkstechniken reduziert, was gewisse nicht gegenstandsbezogene Bedürfnisse zu befriedigen scheint und woraus sich spezielle Geschichtsbilder zu einer spezifischen Geschichtskultur verdichten, die im Gegensatz zur Fachwissenschaft vor allem erkenntnistheoretische Probleme gänzlich zu vernachlässigen scheint.
Bis hierher bedeutet dies zusammengefasst, dass in der Schule nachwievor weitgehend bestimmte Formen der Geschichtsinterpretation erlernt werden, die auf Identitätsstiftung und große Erzählungen hinauslaufen. Da die Themen immer noch eher fern der Interessen sind, eröffnen sich Räume für die eigene Beschäftigung mit Geschichte, von denen eine Form die der darstellenden Geschichtsinterpretation ist, die auf Alltagsgeschichte fokussiert und das Erleben als eine quasi ahistorische zentrale Kategorien setzt. Die Neue Kulturgeschichte kann ihre Interpretationen der Alltagsgeschichte nur schwer vermitteln, was nicht zuletzt an ihrer tatsächlichen Komplexität liegt. Die Vielheit der Deutungen wird nicht zuletzt als Legitimation eigener Interpretationen genutzt, um so eigene Refugien des oftmals sehr speziellen Wissens zu schaffen.
Das Erleben in "Erlebbarer Geschichte" als erkenntnistheoretisches und praktisches Problem – ein Problemaufriss
Eines der grundsätzlich zu thematisierenden Probleme im Living History als Vermittlungsweg vergangener Lebenswelten kann die unreflektierte oder gar zum Zwecke des Erkenntnisgewinns genutzte Kategorie der Erfahrung, bzw. des Erlebens sein. Das Problem ist dabei zweierlei Art und besteht zum Einen in einer Mangelerfahrung und zum Anderen in einer Übererfahrung.
Die Mangelerfahrung besteht darin, dass nur wenige Bereiche der Lebenswelt durch Erfahrung zugänglich gemacht werden und wird verstärkt dadurch, dass auch diese letztlich modern erfahren werden, also durch moderne Vorerfahrungen, Deutungsmuster, Interpretationsschemata, Seh- und Empfindungsmöglichkeiten geprägt sind damit nur die Erfahrung eines konkreten Ausschnitts, losgerissen von seinem weiteren semantischen Gehalt und Erfahrungshorizont mit modern sozialisierten (neben den modern-biographischen) Seh- und Deutungsgewohnheiten wiedergeben.
Zum Anderen herrscht ein Erfahrungsüberhang vor, der darin besteht, dass in dem Erfahren der verschiedenen Situationen keine historisch bedingte Unterscheidung der Lebenswelten vorgenommen wird, also grundlegend verschiedene Lebenswelten erfahren werden, die den Zeitgenossen bestimmter sozialer Schichten, usw. Versperrt geblieben sind. Freilich sind auch diese letztlich modern erlebt.
Damit führt die Kategorie der Erfahrung als vermeintliches Erkenntnisinstrument über falsche Projektionen und einer scheinbaren Ahistorizität dieser Kategorie zu problematischen Geschichtsbildern und sollte daher zugunsten einer reflektierten Beschäftigung mit der Konstitution und Konstruktion von Wahrnehmung und einer Betrachtung von außen weichen, die nicht das Erleben in der Vordergrund stellt, sondern das verdeutlichende Anschauen und das Problematisieren des Gesehenen, wie des Sehens (und aller weiteren, beteiligten Wahrnehmungsapparate) fördert.
Die Ausklammerung des Erlebens als historisches Erkenntnismittel gehört somit ebenso zu den Grundlagen, die eine Didaktik der (auch zwangsweise unter anderem Namen zu etablierenden) "Erlebbaren Geschichte" als Vermittlungsinstrument, beachten muss.
*Der Begriff geht auf Jüdt und seine Untersuchung der Paläoastronautik zurück. Vgl. Jüdt, Ingbert: Aliens im kulturellen Gedächtnis? Die projektive Rekonstruktion der Vergangenheit im Diskurs der Präastronautik, S. 97ff, in: Engelbrecht, Martin; Schetsche, Michael (Hrsg.): Von Menschen und Außerirdischen, Bielefeld 2008, S. 81-104.
Mündigkeit als Problem – eine Annäherung
In
diesem kurzen Aufriss soll das Konzept von Mündigkeit, sowie dieses
als philosophisches Problem genauer betrachtet werden. Dabei ist das
hier gemeinte Konzept, da sich der Begriff der Mündigkeit in
verschiedenen Bereichen findet, zuerst von jenen Bedeutungen zu
trennen, die dabei außen vor bleiben sollen. Zu diesen gehört der
rechtliche Inhalt im Sinne des Erreichens juristischer
Volljährigkeit. Fokussiert wird damit auf den philosophischen
Begriff, nicht zuletzt auch mit dem Anspruch, dass dieser es ist, der
den anderen voraus gehen muss. Ebenso im Blick ist der politische, da
er sich eng an den philosophischen Anlehnen muss.
Mündigkeit
als philosophischer und politisierter Begriff dient dabei als
Legitimationsgrundlage und Kampfbegriff. Das hinter diesem verborgene
Konzept, seine Bedeutung ist maßgeblich für das Verständnis von
Demokratie. Umso problematischer ist es, dass eine Beschäftigung mit
dem Konzept recht dürftig stattfindet.
An
einer ersten Annäherung und vor allem einem Problemaufriss ist
dieser Arbeit gelegen. Dabei gestaltet sich eine freie Diskussion
schwierig, ist das Konzept von Mündigkeit und die Postulierung
selbiger doch für die meisten Individuen etwas selbstverständliches,
so dass sich eine Relativierung, die sich aus der kritischen
Betrachtung ergeben kann, fast notwendig Widerstand ausgesetzt sehen
muss. Eine Annäherung muss sich damit auch auf das Selbstbild
menschlicher Personen auswirken.
Ebenso
muss eine kritische Beleuchtung auch Konsequenzen auf die politische
Theorie haben, stellt doch Mündigkeit eine der grundlegenden
Voraussetzungen für den Großteil gegenwärtiger Demokratiekonzepte
dar, so dass sich bereits aus diesem Umstand ein Interesse der
Philosophie, in diesem Fall der Politischen, zwangsweise ergibt.
Im
Zuge der Skizzierung bisheriger Definitionen und der sich
anschließenden Probleme wird und soll auch die Relevanz für weitere
Bereiche der Philosophie herausgestrichen werden, die dazu führen
muss, sich diesem Thema von mehreren Bereichen aus zu nähern. Zu
diesen gehören die Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie,
Ethik, als auch Handlungstheorie. Weiterhin kann sich eine intensive
und ausführliche Beschäftigung nicht in der Philosophie allein
erschöpfen, sondern muss ebenso auf soziologische und psychologische
Zugänge ausgerichtet sein.
Um
sich dem Begriff und damit dem Inhalt zu nähern soll als erstes
dessen Ursprung betrachtet werden. Ausgehend von diesem soll der
Begriff skizzenhaft erweitert werden. In einem weiteren Teil werden
dann einige Probleme zur Sprache kommen, die als offene Fragen
zugleich auf eine Notwendigkeit einer eingehende Untersuchung
verweisen sollen.
1.
Klärung des Begriffs
1.1.
Kant
Kant
ist einer der ersten, der Mündigkeit zu definieren versucht und
stellt den Grundbezug nahezu aller Beschäftigungen mit dem Konzept
dar. Dabei spricht Kant nicht über Mündigkeit, sondern über
Unmündigkeit und definiert so den Begriff ex negativo.1
Um das
Vielzitierte erneut zu wiederholen, ist Unmündigkeit „das
Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu
bedienen“. Dementsprechend ist Mündigkeit das Vermögen, sich
seines Verstandes zu bedienen, ohne auf die Leitung eines anderen
angewiesen zu sein.
Selbstverschuldet
ist diese Unmündigkeit dann, wenn der Mangel dieses Vermögens nicht
auf den Mangel des Verstandes zurückzuführen ist. Implizit
erscheint hier bereits die Möglichkeit, aufgrund mangelnden
Verstandes, ohne den Begriff hier genauer zu bestimmen, unmündig zu
sein. Diesen Punkt gilt es dabei im Auge zu behalten.
Für
Kant ist nun der Entschluss maßgeblich, den Verstand zu gebrauchen,
wenn auch offen bleibt, ob jede Person dies kann und inwieweit es
graduelle Unterschiede gibt. Die Kantische Konzeption von Vernunft
und Personalität legt jedoch nahe, dass Mündigkeit potentiell allen
Menschen zukommen kann.
Verstanden
wird Mündigkeit auch als Prozess, als etwas erst Herzustellendes,
wodurch sich mehrere Problemen ergeben, die in späteren Abschnitten
zum Tragen kommen werden.
Kants
Schrift „Was ist Aufklärung?“ gibt damit ein sehr
oberflächliches, kurzes und problematisches Konzept von Mündigkeit
wieder. Es stellt trotz seiner Kürze einen ersten Anhaltspunkt dar,
während es zugleich wichtige Probleme benennt. Vieles bleibt
ungeklärt, so dass im Folgenden das Konzept Adornos, das ebenfalls
grundsätzlich auf Kant referiert, jedoch das Konzept graduell
stärker ausformuliert in den Blick genommen werden soll.
1.2.
Adorno – Erziehung zur Mündigkeit
In
„Erziehung zur Mündigkeit“ schreibt Adorno in Bezug zur
kulturellen Ungeformtheit des Agraischen folgendes über das Konzept
der Mündigkeit:
„Das
Individuum wird mündig überhaupt nur dann, wenn es aus der
Unmittelbarkeit von Verhältnissen sich löst, die keineswegs
naturwüchsig sind, sondern bloß noch Rückstand überholter
historischer Entwicklung, eines Toten, das nicht einmal von sich
selbst weiß, daß es tot ist.“2
Kern
der Mündigkeit bildet dabei einerseits die Überwindung der
vermeintlichen Urwüchsigkeit der Verhältnisse, der Konventionen
oder anders ausgedrückt, die Überwindung des verdinglichten
Bewusstseins, dass das Gewordensein seiner selbst nicht gewahr wird.3
Andererseits ist es die Abkehr von Autoritäten, wie dies auch schon
bei Kant beschrieben wird, jedoch soll damit keine Scheinmündigkeit
gemeint sein, die nichts weiter als ein primitiver
Anti-Autoritarismus ist.
Zentrale
Begriffe bei Adorno sind damit Selbstreflektion und Autorität.
Die
Selbstreflektion bedeutet dabei das Hinterfragen gesellschaftlicher
Konventionen und damit der Gesellschaft und ihrer Regeln selbst, als
auch des Einflusses dieser auf das eigene Denken und den eigenen
Willen4,
ihr Feind ist die Anpassung, wobei in Bezug auf diese von einem
dialektischen Verhältnis ausgegangen wird. So ist zur Bewusstmachung
der determinierenden Mechanismen eine Realitätsprüfung und damit
ein Moment der Anpassung nötig, dass wiederum die realen
Verhältnisse reproduziert.5
Das Ziel scheint dabei zu sein, in der Anpassung letztlich durch die
Reflektion über sie hinaus zu gehen und die Realität zu verändern.
Bewusstwerdung der Verhältnisse innerhalb dieser, dann Reflektion,
Hinterfragen und durch das eigene Handeln ein Zurückwirken auf die
Verhältnisse und eine Änderung.
Allerdings
darf Mündigkeit und Selbstreflektion nicht nur als auf äußere
Einflüsse bezogen verstanden werden. Auch das eigene Selbst schafft
sich Grenzen, Determinanten und Vorherbestimmung aus sich selbst
heraus, wobei auch dabei die Gesellschaft indirekt beteiligt ist.6
Die zu hinterfragende Fremdbestimmung muss zumindest nicht
vordergründig mit „Anderen“ zu tun haben, es kann sich bei ihr
auch um eine Fremdbestimmung durch das eigene, gegenwärtige oder
frühere Selbst handeln.
Die
Autorität betreffend ist Vorsicht geboten.7
Wie erwähnt geht es nicht um einen Anti-Autoritarismus, wie er gern
von bestimmten Gruppen praktiziert und als Mündigkeit missverstanden
wird. Weder ist blindes Ablehnen sinnvoll, noch soll Sachautorität
negiert werden.
Auch
weißt Adorno mit Blick auf Freud darauf hin, dass vor Mündigkeit,
also der Abnabelung von Autorität, diese erst bestehen muss.8
So
muss auch, um es auf die Bildung zu beziehen, dem Lehrer Autorität
zugestanden werden, seinen Anweisungen gefolgt werden, die freilich
in ihrer letzten Instanz auf die Negierung oder Relativierung dieser
Autorität hinauslaufen sollen.
Dies
findet ihre Evidenz auch in der Moralerziehung, wie sie u.a. von
Piaget9
und Kohlberg10
über Habermas11
bis zu Schwickert12
verstanden wird. Die moralische Orientierung bewegt sich dabei, je
nach Entwicklungsstufe, von dem autoritären Charakter der
Bezugspersonen, hedonistischen Handlungsgründen über autoritäre
Grundregeln der Gesellschaft bis hin zu reflektiert und kontextuell
gebrauchten und begründeten, universellen Prinzipien. Dabei ist auch
hier das Moment der Anpassung und des Realitätsbezugs vorhanden. In
der Moralentwicklung stellt dies auf der 8. Stufe nach Schwickert
eine besondere Herausforderung dar, da hier, nachdem das universell
richtige in der konkreten Situation erkannt wurde, die Gesellschaft
erneut betrachtet und beides versucht wird in Einklang zu bringen.
Ziel ist nicht nur die konkrete Handlung, sondern zugleich die
Veränderung der gesamten Verhältnisse bei gleichzeitiger Wahrung
der eigenen Person in dieser Gesellschaft. Die 8. Stufe ist somit
erneut eine strategische, ähnlich der niederen,
egoistisch-hedonistischen, nur ist sie hier eine
idealistisch-strategische.
Auf
den Punkt gebracht bedeutet das bisherige also: „Mündig ist der,
der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat
und nicht bloß nachredet […]. Das erweist sich aber an der Kraft
zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch
gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß
Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher
Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des
bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist
eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino,
Entscheiden, herrührt.“13
Mündigkeit
ist damit eine Fähigkeit zur Kenntnis der eigenen Determinanten und
des gesellschaftlichen Spiels, wobei es zwar ein notwendiges
Existieren in diesem Spiel gibt, zugleich aber ein unerläßliches
Außenstehen, ein Beobachten, Erklären und notfalls Eingreifen.
Damit einher geht ein Erkennen der Welt als eine gemachte, eine
Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, so dass die vorgegebene
Gesellschaft und damit auch der Mehrheitswillen nicht zugleich zum
Sollen erklärt wird. Eine solche Interpretation würde sich des
„deskriptivistischen Fehlschlusses“ schuldig machen, wie Hare es
bezeichnet.14
Dabei
bleibt Mündigkeit auch bei Adorno etwas Herzustellendes und nicht
Gegebenes.15
2.
Der holprige Weg zur Mündigkeit
Die
beiden Positionen zusammengefasst ergeben ein Skizze von Mündigkeit,
wie sie auch gegenwärtig gebraucht wird. Mündigkeit soll die
Fähigkeit einer Person zur Selbstbestimmung sein und damit die
Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln selbstbestimmt und frei von
äußerer Einflussnahme gestalten zu können. Prägnant formuliert
findet sich dies folglich auch bei Peter Massing im Lexikon der
politischen Bildung: „Mündig ist der Mensch, wenn er zu eigenem
Denken gelangt ist, wenn er von Vorurteilen und Verblendungen frei
[…] gelernt hat, Vorgefundenes kritisch zu reflektieren […], um
auf dieser Basis zu entscheiden“16
Wie
bei allen Autoren klar geworden sein sollte, ist Mündigkeit dabei
etwas herzustellendes, prozesshaftes, so dass sich die Frage ergibt,
wie und mit welchen Mitteln dies zu erreichen sein soll.
Als
solche Mittel nennt Adorno Medienkompetenz, Bildung und Erziehung zur
kritischen Selbstreflektion, wie auch generell zu einer Kritik an
Gegebenem, anders ausgedrückt, zu einer kritischen Differenz
zwischen Sein und Sollen, die, wenn sie vernachlässigt wird, mit der
entsprechenden Sozialisation den Grundstein für eine lebenslange
Unmündigkeit legt.
Besonders
der bereits erwähnten Moralerziehung muss dabei eine Schlüsselrolle
zukommen, da es Ziel dieser ist, Konventionen zu hinterfragen.
Weiterhin
spielen Informationen, spielt Wissen eine wichtige Rolle bei der
Abkehr von Autoritäten. Damit erreicht auch der Begriff der
Medienkompetenz eine Schlüsselfunktion.
Besonders
das Fernsehen als Ideologie mit seiner Vorwegnahme von Surrogaten17,
Adorno spricht hier die Liebe an, gegenwärtig wird eher von
„sexueller Verrohung“ gesprochen, spielt als zugleich Autorität
eine wichtige Rolle. Dabei ist dieses Problem bei allen Massenmedien
vorhanden. So spricht Mill dieses Problem bei den Zeitungen an,
Adorno in Bezug auf das Fernsehen und jüngst wird auch die
Problematik des Internets angesprochen. Eine der Kernfragen, die sich
dabei stellt ist jene, ob Fernsehen oder irgendein anderes
Massenmedium besser sein kann, als die Gesellschaft, die es
produziert oder ob es gezwungenermaßen diese nur spiegelt und
Vorurteile notwendig reproduziert. Unabhängig von der Antwort ist
aber eine Ausbildung der Medienkompetenz als besonders wichtig
anzusehen. Auch und insbesondere Massenmedien müssen ihren
autoritären Charakter verlieren. Die Massenmedien sind dabei nichts
zwangsläufig abzuschaffendes. Sie dienen zwar oftmals als
Reproduktionsmechanismen gesellschaftlicher Konventionen und müssen
kritisch „gelesen“ werden können, um sie von vorgefertigten
Deutungen und Sinnstiftungen zu trennen. Jedoch sind diese Medien
auch nötig, um in breiten Massen Informationen erlangen, bzw.
verteilen zu können, ohne die Unabhängigkeit nicht vorangetrieben
werden kann.
Neben
der individuellen darf dabei nicht die politische Ebene vergessen
werden, nicht allein das Individuum muss zur Reflektion gezwungen
sein, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes, die Politik muss
Entartungen, die unreflektierte „Zementierung der Barbarei des
Bestehenden“ verhindern helfen.18
Bildung
steht nun mit all diesem in Zusammenhang, so dass hier nur wenige,
grundlegende Gedanken geäußert werden sollen. So liegt im Begriff
der Bildung eine Mehrdeutigkeit.19
Es kann unter ihr formale Bildung verstanden werden. Diese zu fördern
ist zweifelsohne wichtig, als das sie die nötigen
Hintergrundinformationen, das nötige Fachwissen und den aktuellen
Stand der Forschung liefern muss, um in konkreten Fragen Antworten zu
können. Sie liefert dem Verstand sozusagen das Arbeitsmaterial, mit
dem er sich beschäftigen kann, bzw. damit er sich überhaupt mit
einer Sache beschäftigen kann. Formale Bildung reproduziert aber
ebenso gesellschaftliche, vermeintliche Gewissheiten und Konventionen
und ist somit ebenso gefährlich und letztlich immer konservativ.
Dieser Bildung, welche Allgemeinwissen, wie auch Fachwissen
generiert, muss notwendig eine reflektierte Intellektualität
gegenüber gestellt werden. Bildung und deren Inhalte müssen durch
das Individuum kritisch geprüft, in größeren Zusammenhängen
gedacht und kontextualisiert angewendet werden können. Gleichzeitig
bezeichnet diese kritische Intellektualität die Ebene der
(Selbst-)Reflektion, die auch schon in der Erziehung ihren Ursprung
finden muss.
„Erziehung
wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zur kritischen
Selbstreflektion“, schreibt Adorno dazu.20
Damit ist deren Ziel festgelegt. Es ist eine Erziehung zum
Widerspruch und Widerstand, die auch dem Lehrer nicht blind vertraut.
Es ist die Erziehung zu einem „richtigen Bewusstsein“.21
3.
Mündigkeit als Problem
Aus
dieser an einem Ideal ausgebildeten Vorstellung von Mündigkeit und
der Sichtweise ihrer Erreichbarkeit, ergeben sich eine Vielzahl an
Problemen, die zugleich philosophisch aber auch politisch relevant
sind und die entweder die bisherigen Definitionen verändern müssen
oder aber die Vorstellung von der Zugänglichkeit zur Mündigkeit
infrage stellen muss.
Eines
der Kernprobleme bildet dabei der Bereich der Determiniertheit und
die Frage ob und inwieweit es möglich ist, dieser zu entfliehen.
Diese Frage gilt umso mehr, als das es verschiedene Subkategorien
dieses Bereichs gibt und für jede einzeln untersucht werden müsste,
inwiefern der Einfluss dieser Mechanismen abstellbar ist. Es handelt
sich dabei um die Bereiche und entsprechende Fragen der
neurologischen Determiniertheit, die zwischen Neurobiologie und
Philosophie des Geistes diskutiert werden, um Fragen der
Sozialisation, des Habitus und der lebensweltlichen Wahrnehmung in
Anlehnung an Husserl oder Schütz, um die bereits angesprochenen
Fragen nach der kulturelle Prägung und den Stufen der
Moralentwicklung, sowie der dafür nötigen kognitiven und empathiven
Entwicklung, wie sie bei Piaget, Kohlberg, Habermas, Schwickert und
Hare diskutiert werden. Ohne ein zumindest partielles Entkommen
dieser determinierenden Mechanismen, die unentwegt Konventionen und
vermeintliche Gewissheiten produzieren und die Wahrnehmung formen,
kann Mündigkeit nicht existieren.
Im
Falle der neurologischen Determiniertheit stellt sich gar die Frage,
ob Mündigkeit, ebenso wie der freie Wille, der zwingend dafür nötig
ist, nicht als Illusion betrachtet werden müssen. In den anderen
Bereichen scheint die Frage feinere Abstufungen zuzulassen. Der Grad
der Mündigkeit hängt dabei maßgeblich vom Grad der angenommenen
Determiniertheit ab und von der Möglichkeit, diese zu überwinden.
Weiterhin
ist nach der Rolle des Wissens zu fragen, bzw. nach der Rolle
formaler Bildung. Da davon auszugehen ist, das nie in allen Bereichen
vollständiges Wissen vorliegen kann, ergibt sich zwangsweise eine
Abhängigkeit von Experten, bzw. Fachleuten, die zu bewerten wäre.
Die Komplexität der Zusammenhänge, die gekannt werden müssen, um
ihnen zu entfliehen macht in vielerlei Hinsichten zu Recht ein
Studium nötig. Wie sollte unter dieser Vorgabe eine Mündigkeit
erreicht werden können, auf welche Kompetenzen müsste seitens der
Allgemeinbildung fokussiert werden um Experten im Sinne Adornos
anerkennen zu können, jedoch nicht blind Folge zu leisten?
Dabei
stellt sich nicht zuletzt besonders die Frage nach dem Problem der
Halbbildung, die besonders gefährlich ist, da sie vermeintlich
begründete Gewissheiten produziert, die lediglich Scheinautorität
besitzen und damit subjektiv Sicherheit generiert, die objektiv nicht
gegeben ist. Dabei ist noch über Adorno hinauszugehen, denn jedes
Wissen über eine Situation bleibt unvollständig, selektiv, wird
gefiltert.
Ebenso
verweist der Charakter des erst Herzustellenden der Mündigkeit
darauf, dass es Unmündigkeit gibt. Dabei wäre zu fragen, ob es
Minimalforderungen gibt, auf deren Grundlage das Prädikat „mündig“
zu- oder abgesprochen werden kann und ob diese hinreichend oder
lediglich notwendig sind, so dass die Frage entsteht, ob es darüber
hinaus weitere Abstufungen geben können muss, so dass sich ein
relationaler Begriff von Mündigkeit ergeben könnte, der sich nicht
zuletzt auf politische Konzepte auswirken muss.
Dabei
sind auch die impliziten Begriffe, bzw. Konzepte von Personalität
und Vernunft zu hinterfragen, die als Grundbedingung, nicht zuletzt
auch bei Kant, gelten. Inwiefern sind diese berechtigt
Grundbedingungen zu sein und wie gestaltet sich das Spannungsfeld
zwischen metaphysischer Grundlegung und empirischer? Besonders der
Begriff der Vernunft und seine Absolutheit oder Relativität sind
dabei zentral.
Im
Zuge einer graduellen Abstufung, die sich aus dem Vernunftbegriff
ergeben könnten aber auch generell die Problematik von Bedingungen
betreffend, stellt sich zudem zwangsläufig die Frage nach der
epistemischen Gewichtung von Meinungen, die besonders in politischer
Hinsicht noch einmal als Frage auftauchen wird.
Auch
die neuere Emotionsforschung muss berücksichtigt werden. Folgt man
deren Ergebnissen, so sind Emotionen wichtiger Bestandteil praktisch
aller kognitiven Prozesse, so dass es nicht wie in rationalen
Handlungstheorien um ein Unterdrücken und Kontrollieren von
Emotionen gehen kann, um „vernünftiges“ und reflektiertes Denken
zu ermöglichen. Vielmehr müssen Emotionen als unentbehrlich gedacht
werden und als solches anerkannt werden. Dabei stellt sich das
Problem, dass auch diese gesellschaftlichen Regeln unterliegen und so
unbewusst das Denken beeinflussen.22
Als wichtiger Bestandteil müssen also die „richtigen“ Emotionen
ausgewählt werden und der Prozess des Denkens und der Filterung von
Informationen müsste selbst ständig überwacht werden, hält man am
bisherigen Konzept fest.
Nicht
zuletzt ergibt sich aus der Mündigkeit als Haltung, bzw.
Meinungsbildungs- oder Erkenntnisprozess noch nichts in Bezug auf das
praktische Handeln. Mündiges Handeln, also ein Handeln aufgrund
geprüfter, universeller, in dieser Hinsicht vernünftiger und nicht
bloß lebensweltlich relevanter Gründe23,
stellt das mündige Individuum vor weitere Aufgaben. Der Mündigkeit
als epistemischem Konzept muss also eine Handlungskonzept zur Seite
gestellt werden. Dieses muss auf das von Adorno genannte Problem,
denn ein solches stellt es dar, der Lösung aus der Lebenswelt und
deren Wiedereintritt einzugehen imstande sein. Wie kann also ein
mündiges Handeln, dass ein unabhängiges sein soll, mit den faktisch
vorhanden zum Teil asymmetrischen Abhängigkeiten in der Lebenswelt
in Einklang gebracht werden? Dabei stellt sich ebenso die Frage nach
der Einlösung von Geltungsansprüche mündiger Personen gegenüber
nichtmündiger und der Gesellschaft insgesamt.
Damit
ebenso im Zusammenhang, jedoch auch unabhängig davon stellt sich das
Problem der Willensschwäche und ihr Einfluss auf mündiges Handeln.
Dies
sind nur einige der Fragen, die sich aus dem Konzept ergeben.
Anhand
dieser vornehmlich theoretischen Fragen ergeben sich eine Reihe
praktischer, die sich besonders im Bereich der Politischen
Philosophie und Politischen Theorie bewegen.
Es ist
davon auszugehen, dass eine kritische Beschäftigung mit dem Konzept
der Mündigkeit dazu führen kann, dass die bisherige Handhabung
nicht den Erfordernissen entspricht. Nicht zuletzt die
real-politische Bindung des Mündigkeitsstatus an den Eintritt ins
18. Lebensjahr, dass die Grundlage für bestimmte Formen politischer
Partizipation darstellt, wäre auf die Sinnhaftigkeit zu
hinterfragen. Im Zuge dessen wären politische Konzepte zu
betrachten, die implizit mit stärker relationalen statt postulierten
Mündigkeitbegriffen arbeiten. Eine kurze Skizzierung auch dieser
Problematik soll nun folgen.
3.
Politische Implikationen
Demokratie,
wie sie allgemein verstanden wird, basiert auf Vertragstheorien,
deren Kern ein Zusammenschluss aus in ihren Fähigkeiten gleichen und
unabhängigen Personen ist, die somit in einem groben Sinne mündig
genannt werden könnten. Das derartige Theorien allerdings Probleme
haben den realen Asymmetrien und Abhängigkeiten, beispielsweise
bezüglich Kinder, geistig Beeinträchtigten und nichtmenschlichen
Tieren, Rechnung zu tragen, darauf hat jüngst Martha Nussbaum in
ihrer Auseinandersetzung mit Rawls hingewiesen und dessen Theorie
entsprechend um ihren Fähigkeitenansatz erweitert.24
Eine kritische Betrachtung des Konzepts der Mündigkeit könnte
jedoch notwendig darüber hinaus führen, besonders, wenn diese
Betrachtung zu einer relationalen Neuformulierung führt. Selbst auch
bei der Annahme von Grundbedingungen der Mündigkeit wäre zu fragen,
inwieweit einem möglichen epistemischen Mehrwert, der sich aus einer
stärkeren Lösung aus der eigenen Lebenswelt, bzw. einer stärker
unperspektivischen Betrachtung der jeweiligen Probleme durch das
entsprechende Individuum ergibt, politisch Rechnung getragen werden
soll und muss. Wie gewichtet sich politisch also eine graduell höhere
Form von Mündigkeit, eine in diesem Sinne „freiere“ Meinung?
Diese
Frage stellt sich sowohl wenn sich die Sollgeltung politischer Normen
aus dem Mehrheitswillen generiert, in diesem Fall kommt ein Bürger
seinem Willen näher, je mündiger er ist, als auch, wenn sich die
Sollgeltung auf dem was „gerecht“, „gut“ oder „moralisch
richtig“ ist gründet, da die Erkenntnis dessen nur denen zufällt,
die über Selbstreflektion und eine möglichst hohes Maß an
moralischer Reife verfügen.
Dabei
sind im Zuge einer solchen Betrachtung erneut die zentralen Begriffe
„Vernunft“ und „Person“ zu hinterfragen, diesmal jedoch das
politische Verständnis betreffend und damit den Zusammenhang als
Bedingung für politische Mündigkeit oder anders ausgedrückt, als
Grundlage politischer Partizipation (auch in Bezug auf eine
Mehrstufigkeit).25
Besonders
das Hinterfragen bestehender Konventionen als Teil der Mündigkeit
spielt politisch eine wichtige Rolle. Eine unreflektierte Übernahme
dieser verhindert oft (moralischen) Fortschritt und kann
Ungerechtigkeiten (re)produzieren. Wie soll aber einem beständigen
Hinterfragen Rechnung getragen werden, wie kann dies politisch
verankert sein und auch hier die Frage, wie sich höhere Mündigkeit
zu einer numerischen Mehrheit ins Verhältnis setzen soll.
Politische
Konzepte, die einer ungleich vorhandenen Mündigkeit Rechnung zu
tragen versuchen, werden dabei bereits seit der Antike diskutiert.
Prominentester Vertreter ist dabei wohl die platonische Epistokratie.
Im Zentrum stehen dabei Überlegungen, die sich auch aus den hier
aufgeworfenen Fragen ergeben. Dabei wird im Sinne eine an den
Konsequenzen orientierten Politik besonders der epistemische Mehrwert
von Weisheit herausgestellt, die nicht zuletzt Mündigkeit als
notwendige Bedingung voraussetzt. Ähnliches gilt für John Stuart
Mill und seine scholastokratischen Überlegungen, die auf die Frage
nach der Feststellbarkeit besonders auf Bildung und ein daran
gemessenes ungleiches Wahlrecht fokussieren26,
dass jüngst von David Estlund27
kritisiert wurde. Mill spricht besonders eine schichtspezifische
Determination als Grundlage dieses Wahlrechts an, die für ihn bisher
nur unzureichend aufgebrochen werden konnte und direkt relevant für
Mündigkeit zu sein scheint. Nicht zuletzt versuchen auch Modelle
deliberativer Demokratien durch den Zwang des besseren Arguments und
ihre implizite Bevorteilung „gebildeter“ Schichten einem etwaigen
Mangel an Mündigkeit politisch entgegen zu wirken.
Somit
ergeben sich weitreichende Fragen und Konsequenzen der praktischen
Philosophie durch eine systematische Konzeption, bzw. Theorie der
Mündigkeit.
Fazit
Es
bleibt festzuhalten, dass Mündigkeit als etwas Herzustellendes darin
besteht, als Individuum in seiner Meinungsbildung weitestgehend
autonom von äußeren Einflüssen, wie auch innere Zwängen zu sein.
Kritische (Selbst-)Reflektion bildet somit den Kern, die das
beständige Hinterfragen der Sollgeltung von Werten und Wissen
beinhaltet. Dies bedeutet, die Gemachtheit von allem, auch des
eigenen Selbst und des Lebensentwurfs anzuerkennen und auf diese zu
reagieren. Mündigkeit ist damit auch Selbstkontextualisierung.
Zum
mündigen Denken muss notwendig mündiges Handeln hinzutreten.
Mündigkeit könnte somit in Anlehnung an Adorno und Schwickert darin
bestehen, aus der Lebenswelt, ja aus sich selbst herauszutreten, eine
unperspektivische Haltung einzunehmen und daraufhin erneut in die
Lebenswelt einzutreten und diese durch neues Wissen und neue Werte zu
prägen. Die Fragen, die sich notwendig stellen sind jene nach den
Hindernissen auf diesem Weg, den Determinanten und nötigen
Fähigkeiten. Damit werden eine ganze Reihe philosophischer aber auch
anderer Fachrichtungen angesprochen, die sich den Problemen annehmen
müssen. Die Antworten auf diese Fragen und vor allem die Möglichkeit
eines den Gegebenheiten gerechter werdenden relationalen
Mündigkeitskonzept müssen zudem ihre Spuren in der Betrachtung
politischer Prozesse und Legitimation hinterlassen.
Eine
Beschäftigung mit diesem Thema scheint also nicht nur nötig,
sondern in vielerlei Hinsicht, theoretisch, wie auch praktisch,
relevant.
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Von
Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven
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1Vgl.
Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481-494.
2Adorno,
S. 43.
3Das
verdinglichte Bewusstsein wird beschrieben als unheilvoller
Bewusstseinszustand, der das „So-Sein“ fälschlich als Natur und
nicht für etwas Gewordenes hält. Vgl. Adorno, S. 99 und S. 141.
4Dabei
ist es für Adorno wichtig, besonders auch auf die hinderlichen
Konventionen, die Kontrollen der Wissenschaft hinzuweisen, auch
diese gilt es zu überwinden. Adorno, S. 44f.
5Vgl.
Adorno, S. 109.
6Vgl.
Adorno, S. 44.
7Vgl.
Adorno, S. 139.
8Vgl.
Adorno, S. 140.
9Piaget,
Jean: Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt am Main 1973.
10Kohlberg,
Lawrence; Dwirght, R.Boyd, Levine, Charles: Die Wiederkehr der
sechsten Stufe.
Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral. In: Zur
Bestimmung der Moral.
Hrsg. v. G. Edelstein, Nunner-Winkler. Frankfurt 1986, sowie
Kohlbergm Lawrence: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt
am Main 1974.
12Schwickert,
Eva-Maria: Feminismus und Gerechtigkeit. Über eine Ethik von
Verantwortung und Diskurs, Berlin 2000.
13Adorno:
Kritik. In: Gesammelte Schriften. Band 10.2, S. 785.
14Vgl.
Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller
Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen
Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.
15Vgl.
Adorno, S. 144.
16Massing,
Peter: Politische Bildung. In: Richter, Dagmar/ Weißeno, Georg
(Hrsg.): Lexikon der politischen Bildung. Band 1: Didaktik und
Schule, Schwalbach 1999, S. 186.
17Vgl.
Adorno, S. 44f.
18Vgl.
dazu auch Adorno, S. 123. Die bestehende Ordnung erzeugt immer auch
Akte der Barbarei und etablierte Mächte, deren Gewalt nur
diejenigen spüren, die sich dieser verweigern.
19Vgl.
Adorno, S. 57.
20Adorno,
S. 90.
21Vgl.
Adorno, S. 107.
22Zur
Rolle der Emotionen im Denken und Handeln siehe von Scheve,
Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven
Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2009.
23Mit
dieser Begrifflichkeit soll noch einmal der Unterschied zwischen
Gründen und Argumenten, zwischen bloßer Rationalität (die
ausdrücklich auch ein Handeln anhand von Emotionen einschließen
kann) und Vernünftigkeit benannt werden. Persönliche (oder auch
kulturelle) Gründe für Handlungen sind höchst subjektiv und
können damit nur begrenzt als Sollens- und damit Handlungsgrundlage
benutzt werden. Erst im Prozess einer kritischen Prüfung, die auch
von persönlichen Gründen als handlungsanleitende Elemente
abstrahieren muss, kann ein „echtes“ Sollen oder im hier
relevanten Sinne ein „mündiger“ Handlungsgrund geschaffen
werden. In dieser Prüfung werden Argumente gebildet, von denen dann
ihrerseits einige dieser als handlungsanleitende Gründe angenommen
werden, die neue Intuitionen, Gründe oder Emotionen bilden.
Eigentliche Grundlage für das Sollen bilden, auch im Sinne der
Universalisierbarkeit und auch, wenn es im Alltag anders erscheint,
aber weiterhin die Argumente und nicht die persönlichen Gründe.
Erstere sind überprüfte, reflektierte und objektive Ideen und
Sachverhalte, die aber nicht handlungsanleitend sind, solang sie
nicht in die Lebenswelt und deren Bedingungen einbeziehend als
persönliche Gründe übersetzt werden. Eine solche Prüfung und
Übersetzung sollte die Grundlage mündigen Handelns sein. Mit
dieser Überlegung wird zugleich das Problem der lebensweltlichen
Abhängigkeiten und deren Relevanz für das Handeln angesprochen.
Auch Schwickert spricht dieses Problem in Form der Verantwortung für
Handeln unter Berücksichtigung der Beschaffenheit der Gesellschaft
und der Moral als Telos in der 8. Stufe ihrer Moralentwicklung an.
Vgl. Schwickert, u.a. S. 186f.
24Vgl.
Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010. Insb.
das I. Kapitel.
25Vgl.
dazu auch Nussbaum, S. 186ff.
26Comperz,
Theodor (Hrsg.): John Stuart Mill's Gesammelte Werke, Achter Band,
Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung, Leipzig 1873.
27Estlund,
David: „Why Not Epistocracy?“, in: Reshotko, Naomi (Hrsg.):
Desire, Identity and Existence: Essays in honor of T.M. Penner,
Toronto 2003, S. 53-69.
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