Dienstag, 25. Februar 2014

Verstehen als ein Missverständnis - Gegenkapitalistische Polemik auf Grundlage des Sprechens

"Du verstehst mich nicht" ist eine Anklage und zugleich das grundlegende Wesen des Sprechens. Es ist zugleich ein (affektbezogener) Gewaltakt hegemonialer Wirklichkeit.
Es gibt kein Verstehen im absoluten Sinne, sondern nur Grade abnehmenden Missverstehens. Unser Sprechen strukturiert unser Sein und ist strukturiert durch dieses, durch kulturelle, soziale und biographische Bestände, aus denen das "Ich" sich und sein Sprechen bildet.
Wir sprechen daher nicht eine Sprache, sondern unendliche viele quasi-individuelle. Das Verstehen als relationales Verstehen hängt damit davon ab, wie kongruent unsere jeweilige Wirklichkeitskonstruktionen sind. Das Verstehen als Forderung setzt eine hegemoniale Wirklichkeit voraus und durch.
Mit anderen Worten, das Verstehen hängt nicht vom Sprechen ab, sondern vom bereits vorher existenten Verstehen, welches anzugleichen versucht wird. Auf diese Weise schafft das Sprechen in seinen Diskursen Konformität.
Dies täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass jede Kommunikation als Kommunikation einer Wirklichkeit in eine andere hinein einer Bedeutungsverschiebung in sich trägt, die jedes System bis zu ein em gewissen Grad gemäß seiner Vorstellungen auszugleichen wünscht.
Gut zu beobachten ist dieses Phänomen im Bereich der Wissenschaftssprache und der Forderung an diese, verständlich sein zu müssen, sich herab zu begeben, sich zu vereinfachen, sich aufzugeben.
Dies setzt voraus, dass zu Begriffen geronnene Vorstellungen/Vorstellungsketten, ganz Diskurse, Singularitäten des Wissens und der Erkenntnis entsponnen werden müssen, mit der damit einhergehenden Reduktion und Verschiebung ihres Inhalts und so kaum mehr als "einfache", "vereinfachende" Grundüinzipien übrig bleiben, die sich der Logik des "leichten Konsums" des Kapitalismus unterwerfen.
Diese Logik wird durch Diskursregeln aufrecht erhalten, wie jenen der Zuschreibung von Arroganz als Bewältigungsmittel "sprachlicher Superiorität".
Der Weg darf jedoch nicht jener der Vereinfachung sein, wo diese sich selbst genügt und nicht das Komplexe vorbereitet. Nicht die Vereinfachung der Erkenntnis, die der Komplexität des Seins widerspricht und die Massen kontrollierbar macht, sondern die Verkomplizierung der Massen ist das Mittel der Heilung. Das Moment der Angleichung des Verstehens soll nicht auf Vereinfachung zielen, sondern auf tieferer Durchdringung dessen, was die Welt im innersten Zusammenhält.
Damit verbunden ist eine Aufwertung des Denkens, der Kontemplation vor dem Handeln und als Handeln, entgegen kapitalistischer Produktionslogik, entgegen reduktionistischem Funktionieren als Systembaustein und entgegen der Logik des schnellen und einfachen Konsums. Das Denken des Alltags muss Raum zur Komplexität bekommen und das Denken der Reflektion darf Vereinfachung nur da zulassen, wo es der Komplexität, der Bildung dient. Statt eines kapitalistischen Verstehensbegriffs soll und muss ein deliberativ-epistokratischer entstehen, nur so ist ein Hauch von Freiheit vor und von uns möglich.

Dienstag, 18. Februar 2014

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele II

hier einige weitere kurze Gedankenspiele, Provokationen, Sprüche, Polemiken, usw.


Welt und Wirklichkeit(en)

Eine gewaltlose Gesellschaft ist ein Irrglaube, eine intellektuelle Pathologie. Die Postulierung einer solchen basiert immer auf einem reduktionistischen, verschleiernden, infantilen und konstruiertem Gewaltbegriff, der bestimmte Formen herauskategorisiert und andere positiv gewendet kultiviert. Selbst das Ideal einer gewaltlosen Gesellschaft, selbst eine Ethik der Gewaltfreiheit bleibt im Grunde gewalttätig. Durch Erziehung, deren umfassendere Form die Sozialisation und sanktionierende und sanktionierbare Hierarchisierungen der Welt zu Wirklichkeit setzt sie sich als Grundstein eine solche Wirklichkeit als hegemoniale, die andere Wirklichkeiten vernichten wird. Jeder Wirklichkeit wohnt das Moment der Gewalt inne, eine Exklusivität, eine Reduktion, die nahezu immer zur wahren Natur erhoben wird. Gewalt ist dem Leben letztlich inhärent. Die Frage ist demnach nicht, ob Gewalt schlecht ist, sondern wie und in welcher Form sie gebraucht werden sollte und zu welchem Ziel. Letzteres sollte die Schaffung einer für alle emotionale Wesen erträglichen Wirklichkeit sein und auch diese wird ihre Grenzen mit Worten und Waffen, mit Erziehung, Bildung, Sozialisation, kukturellen Sinnstiftungen, Therapien, rechtlichen und sozialen Sanktionen, kurz mit einer ganzen Reihe an gewalttätigen und durch Gewaltmomente gestützten Prozessen verteidigen.

Die Wahrnehmung einer Person hängt maßgeblich von unseren Begriffen und Kategorien ab. Diese verändern sich spätestens wenn wir der Person einen neuen emotionalen Wert zuschreiben, sie also kennen und in Bezug auf sie fühlen lernen. Dies zeigt den Wert den Gefühle und Emotionen zur Veränderung von Selbst und Welt haben, der diese noch vor die Kognition stellt. Denn erst die Gefühle schaffen den Unterschied der Kategorien und Begriffe entstehen lässt. Ob wohlwollende oder feindliche kann dabei zumindest begrenzt von uns selbst entschieden werden.


Jedes Wort wählt aus. Jedes Wort schafft im Auswählen Wirklichkeit. In der Schaffung dieser Wirklichkeit tötet es letztlich all jenes, das ausgegrenzt, abgewählt wird. Jedes Sprechen erschafft die Welt. Die Wiederholung heisst Macht, Struktur, Formung. Wir sollten mit Bedacht sprechen.

Es gibt keinen Vorzug der Tat vor dem Wort. Worte sind Taten, Worte sind Waffen, Worte sind Gift und Medizin, Worte schaffen, verändern und zerstören Welt und Wirklichkeit. Worte erschaffen, Worte zerstören und Worte tun dies immer zugleich.

Wir müssen eine Welt schaffen in der das Denken wieder Wert hat. Eine Welt in der das denkende Individuum eine Wertigkeit abseits seines verkollektivierten Seins zum Ziele kapitalistischer Produktion als höchstem gesellschaftlichem und politischem Gut mit seiner eingeschränkten Produktivitätsbegrifflichkeit bekommen kann. Nur so überwinden wir die anmaßenden Obszönitäten von Kapitalismus und quantitativer Demokratie. Dass ein solcher Wert für jene eine Gefahr darstellt, zeigt sich in der wissensbulimischen Verschulung der Universität, die diese als letzten Hort der Wertschätzung des Denkens zu vernichten trachtet und die somit die kaputalistische Produktionsethik in die universitäre Bildung im letzten Gefecht einschreiben will. Unser Denken, Fühlen und Handeln, unser ganzer Wille und unsere ganze Kraft sollte dies zu verhindern trachten.

Warum werden Menschen verrückt? Weil die Welt den Wahsinn kultiviert. Das wir überhaupt so etwas wie "geistige Gesundheit" bei der Masse an täglich gesellschaftlich produzierten Paradoxien konstruieren können, ist wohl eines der größten Wunder die der bewußte Geist hervorgebracht hat.

Eine Gesellschaft, die materiellen Besitz als eine der wichtigsten Grundlagen für Anerkennung und Status konstruiert, das Bedürfnis nach diesem mittels Werbung körperlich durch Emotionen verankert, indem sie nicht das Produkt anpreist, sondern dessen als wertig erachteten Verheißungen (Glück, Frauen, Zugehörigkeit), eine Gesellschaft, deren Wirtschaftssystem letztlich nicht ohne dieses permanente Bestreben existieren kann, provoziert zwangsläufig den Diebstahl als Aneignungsform, die sie freilich kriminalisieren muss. Eine solche Gesellschaft schafft Individuen, die emotional zur Erreichung von Anerkennung, Status und Zugehörigkeit, ja selbst von Glück an diese Produkte und deren Verheißung gebunden sind. Sie erhält dieses Streben aufrecht, indem sie Ressourcen ungleich verteilt und durch ihr soziales System Chancen verwehrt. Nicht zuletzt sichert die Kriminalisierung das System und spricht allein dem "Täter" die Schuld zu.
Doch selbst wenn der Täter "schuldig" ist, so ist doch die Gesellschaft verantwortlich. Dies gilt umso mehr, als dass jede konkurrierende Wirklichkeit, jede "Subkultur" zur Bedrohung wird, da sie das Wertesystem auf dem alles fußt, in Frage stellt.

Dass wir alle die gleichen Chancen hätten und mit Arbeit jeder zu Reichtum gelangen könne, sind zwei der größten und fundamentalsten Lügen des Systems. Mit diesen wird sowohl das Wertesystem, in welchem materieller Besitz Wohlstand, Anerkennung, Glück und Status bedeuten, reproduziert, die kapitalistische Maschinerie am Leben erhalten und das System legitimiert, als auch in Verbindung mit der Idee des objektivierenden Struktufunktionalismus die Schuld die wir an dieser Reproduktion haben, negiert. Weder sind diese materiellen Bedürfnis der Kultur vorgängig, noch gibt es annähernd gleiche Chancen. Ohne Armut die wir alle stützen gibt es keinen Reichtum...

Natur ist ein kulturelles Konstrukt. So wenig wie wir Zugang zu einer Realität außerhalb unserer Erfahrungen haben, so wenig haben wir Zugang zu einer Natur die außerhalb unserer kulturellen Deutungssysteme liegt. Jedoch ist Natur zur höchsten Instanz der Rechtfertigung geworden, die ihre soziale Konstruktion mahezu völlig verschleiert. Das macht sie so mächtig wie gefährlich.

Ein Unternehmen, welches bereits in seiner Stellenausschreibung Loayalität einfordert, sollte mit Argusaugen und Argwohn betrachtet werden. Loyalität kann verdient werden aber nicht bereits a priori eingefordert sein. Wird es das, so sollte Misstrauen die Antwort sein. Nur Religionen, Dogmen und die alltägliche Lebenswelt als Quasi-Religion fordern ein solches A priori. Dem kritischen Denken muss dies supekt sein.

Kultur ist das Geflecht des Bedeutungsnetzwerks unserer Lebenswelt und dessen (Re)Produktion, das unhinterfragt Gegebene, wie das Halbbewusste, dass leiblich verankert, Sinn, Bedeutung und Handlungsgründe bereit stellt. Die Reduktion des Begriffs auf "Kunst" zeigt die gewünschte Haltung gegenüber Kultur an, sie soll als "Hochkultur" rezipiert, in der "Allgemeinkultur" aber unbeachtet und einstudiert bleiben. Kultur ist weit mehr als Kunst. Das Treffen einer Gruppe Bauarbeiter zur Mittagspause am Pommesstand ist ein hoch komplexer kultureller Vorgang, den es nicht nur zu rezipieren oder als fraglos Gegebenes lebensweltlich zu verstehen gelten muss, sondern zu erklären, zu hinterfragen, um uns so selbst besser zu verstehen und verändern zu können.

Wirkliche Bildung, verstanden als die Befähigung und Herausbildung zum (selbst)kritischen Denken, ist der Todfeind unseres Systems, welches wir beständig in unserem Denken und Handeln bis hinein in die rudimentärsten und alltäglichsten Routinen reproduzieren. Im offiziellen Bildungsbegriff, der in einer öbszönen Reduktion und Fetichisierung auf instrumentell-technisches Wissen, besteht, zeigt sich dies deutlich. Demgegenüber müssen die Worte John Stuart Mills zum Bollwerk der Universität gegen die Vereinnahmung durch systemreproduzierende Reformen werden: „Sie glauben, daß die Universität die Jugend für eine erfolgreiche Laufbahn in der Gesellschaft vorzubereiten hat; ich glaube, daß ihre einzige Aufgabe die ist, ihr den männlichen Charakter zu geben, der es ihr möglich machen soll, den Einflüssen der Gesellschaft zu widerstehen.“

Realität im Sinne einer "objektiven und uns zugänglichen Wahrheit" existiert nicht. Alles was wir stattdessen haben, ist ein milchiger Schleier gleich einem unbeschriebenen Blatt, auf dem wir etwas zu entdecken glauben, das uns bedeutungsvoll erscheint. Hieraus bauen wir uns in wechselseitiger Versicherung unsere Wirklichkeiten an die wir uns klammern um dem Chaos der Welt ohne Sinn und Orientierung zu entkommen. Realität als eben jene "erfassbare Wahrheit" ist eine Erfindung, die unsere Wirklichkeit vor Willkür und Chaos schützen soll, indem sie die Illusion errichtet, unsere Wirklichkeit, unsere Konstruktionen, unsere Perspektiven könnten in Übereinstimmung zur "Wahrheit" eine "natürliche" normative Kraft entfalten. Nur dadurch meinen wir, um unsere Wirklichkeit bis aufs Blut kämpfen zu können und zu müssen. Wie die Realität selbst, ist auch dies nur ein trügerischer Schein, es ist nicht mehr als das agressiv-angstvolle und nach Sicherheit strebende Zurückkriechen in den mütterlichen Schoß der Gemeinschaft, die uns immer wieder im Glauben an die "Wahrheit" wieg.

Kunst

Zerschlagt die Wirklichkeit; mit Worten, Bildern, Taten vernichtet Sie!" Das muss das oberste Credo revolutionärer Kunst sein. In der herrschenden Wirklichkeit, die sich als fraglos Gegebens zeigt und ihren willkürlichen Charakter verschweigt, sind wir in endloser Reproduktion gefangen, in all ihren Ordnungen, Werten und Hierarchien. Die sich als Norm setzende Wirklichkeitskonstruktion ist damit die Grundlage des leidproduzierenden Systems, dass es zu überwinden gilt. Zerschlagt die Wirklichkeit und setzt ihr eine andere entgegen. Dies ist die überfällige Psychotherapie der Welt. Philosophie und Kunst sind die bittere Medizin und der Vorschlaghammer.

Ich fordere eine wieder-neue Kunst, entsprungen aus einer "negativen Ästhetik", die der hegemonialen Wirklichkeit, welche geprägt ist durch der aus der protestantischen Arbeitsethik entstandenen kapitalistischen Denkweise des produktiven Strebens-Ideals und der darin eingebetteten Glücksethik, der in den als negativ assoziierten Gefühlen Pathologien sieht, die das Individuum zum Ziele des produktiven Strebens bezwingen müssen soll, über eine Ästhetik des Schwermütigen eine andere entgegenstellt. Die Melancholie als kontemplatives, nicht produktiv-strebendes Gefühl muss wieder aufgewertet werden. Diese Ästhetik sieht das Heil nicht in einer Reduktion hin auf eine Konstruktion des Glücklichen als Schönem und Gutem, sondern in der Komplettierung des (Er)Lebens. Ich fordere eine Kunst, die sich dem Kunstgenuss als passivem Erleben verweigert, die prozesshaft, auszugshaft bleibt und die Rezeption als ihr komplettierendes Moment denkt.

Wissenschaft und Welt

Wenn wir die Erkenntnisse der Emotionsforschung ernst nehmen und ich denke, dass sollten wir, wenn wir also bereit sind, zu glauben, dass Emotionen das Denken in bisher kaum geahntem Maße beeinflussen, sollten wir dann nicht vergleichend in verschiedenen emotionalen Zuständen arbeiten? Gehört dann nicht zumindest die Hervorhebung, die Explizierung des zu erforschenden eigenen emotionalen Zustands, freilich mit kritischer Betrachtung der zu dieser Erforschung gebrauchten "Begriffe", zur Grundlage wissenschaftlich-relfexiven Schreibens und Denkens? Ist dies nicht ein weiteres Argument gegen die falsch verstandene Eliminierung des Selbst aus dem Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens zur Generierung vermeintlicher Objektivität, die letztlich nur eine Ignorierung des Selbst darstellt, die das Tor ist, die eigentlich zu vermeidende Subjektivität unereflektiert mit offenen Armen hineinzulassen und damit die ihr eigenen Vorannahmen, Schemata und Begriffe? Was könnte uns demgegenüber der emotionale Zustand des Forschenden und Schreibenden sagen? Ich glaube, die Zeit des Dogmas der "Objektivität" muss vorbei sein. Das Selbst soll nicht ignoriert, sondern, entgegen der immer noch vorherrschenden Ignorierung, in den Schreibprozess offen integriert und verhandelt werden.



Sonstiges

Und vor ihm offenbarte sich die Welt in all ihren Facetten. Als der hässlich-schöne Misthaufen mit den Mistkäfern, die unentwegt den Kot ihrer Zivilisation von einem Ende zum anderen rollen, mit den Blumen, die sich lieblich duftend der stinkenden Ödnis die sie ernährt und erstickt emporankend widersetzen. Er wollte lachen und weinen über das immer gleiche Spiel des Gewimmels Ordnung in das Chaos zu bringen, die doch nur neues Chaos gebiert. Das ewig währende blinde Streben faszinierte ihn. Er wollte lachen und weinen aber alles was er konnte war das Spiel stumm und reglos betrachten. Nach Äonen der Betrachtung wandte er sich schließlich ab...

Das Bewahren der Kindlichkeit ist das einzige Bollwerk, zumindest aber ein Refugium gegen die kindische, dunkle und enge Obszönität die der Kerker der Erwachsenenwelt darstellt. Wir sollten sie alle hüten und uns nicht allzu willfährig der hegemonialen Wirklichkeit der Erwartungen jener Welt unterwerfen.

Unsicherheit, auch wenn sie auf der anderen Seite zu übersteigerter Klammerung an vermeintliche Sicherheiten führen kann, ist, entgegen der Geringschätzung als Schwäche in unserer durch Leistungethos geprägten Kultur, das Fundament von Weisheit. Nur aus Unsicherheit kann ein Hinterfragen hegemonialer Wirklichkeiten entstehen. In dieser Kraft liegt auch die Ursache der Geringschätzung. Unsicherheit verweigert die fraglose Reproduktion von Gewissheiten, von fraglos Gegebenem und schafft so Verunsicherung, gegen die das Sicherheitsbedürfnis, das Bedürfnis nach Verbindlichkeiten, wie es sich in der sozial geteilten und verteidigten hegemonialen Wirklichkeit zeigt und erfüllt, aufbegehrt. In der Unsicherheit liegt Gefahr aber sie ist zugleich der Weg zu wahrer Bildung. Unsicherheit fragt, Sicherheit verteidigt.

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Gefühlsräume und gefühlte Räume – räumlich strukturiertes Fühlen und seine Funktion in der Frühen Neuzeit

Dier kurze Text, stellt eine einführende Skizze meiner momentan Forschung dar und ist als solche zu lesen. Weder beanspruche ich hier Vollständigkeit, noch ist das als endgültiges Ergebnis anzusehen. Es ist vielmehr ein prozesshafter Ausschnitt, eine erste, einführende Bestandsaufnahme. Zitieren ist wie immer erlaubt, alles andere Bedarf meiner ausdrücklichen Zustimmung.
edit: Ich habe das alte paper rausgeworden und durch ne andere Version ersetzt, die nun viel allgemeiner eine meiner Forschungen beschreibt.

Gefühlsräume und gefühlte Räume – räumlich strukturiertes Fühlen und seine Funktion in der Frühen Neuzeit

Emotionen und Räume sind in der Geschichtswissenschaft als Themen mittlerweile akzeptiert und etabliert. Zunehmend geraten diese aber nicht nur als Einzelthemen, sondern als Wechselbeziehung, in ihrer gemeinsamen Bedingt- und Verbundenheit und in ihrem konstruierten und wirklichkeitskonstruierenden Charakter in den Blick. Dies soll auch den Rahmen dieser Arbeit vorgeben.

Fühlen wird sozial erlernt und sozial abgesichert.1 Im gemeinsamen Fühlen bestätigt sich eine Gesellschaft als solche, wie auch ihre Werte und Weltkonstruktion. Fühlen schafft und erhält die je spezifische Wirklichkeit. Der Lern- und Kontrollprozess von Gefühlen findet zugleich nicht im „leeren Raum“ statt, sondern ist auch räumlich strukturiert. In und zu unterschiedlichen Räumen2 wird unterschiedlich Fühlen und dies kommunizieren erlernt, um die Räume in ihrer Bedeutung und Handlungsanweisung zu schaffen und zu bestätigen. Die Lebenswelt ist somit emotional kartografiert. Die Kontrolle dieser Prozesse ist dabei zugleich Machtinstrument und Ordnungsinstanz.
Wie das Fühlen sind auch Räume sozial erlernt. Diese sollen verstanden werden als Wahrnehmungs-, Handlungs- und damit Ordnungsstrukturen, die im engen Zusammenhang zu Emotionen, bzw. mit zu Gefühlen konzeptionalisierten Emotionen stehen. Der Raum ist hierbei sowohl raumanalytisch im Sinne Löws zu betrachten, also als relationale (An)Ordnung verschiedenster zentraler und peripherer Elemente, die einzeln und als Gesamtensemble mit Bedeutung versehen sind, als auch als Herum des Selbst, als „Container“ innerhalb der lebensweltlichen Wahrnehmung, die Denk-, Handlungs- aber auch Fühlmuster anzeigen. Sowohl die unbewusste Konstruktion, als auch der als bedeutungshaftes Ganzes wahrgenommene Raum müssen betrachtet werden, um das Gesamtphänomen erfassen zu können.

Emotionen und Gefühle sind räumlich bezogen und bedingt. Ebenso sind Räume durch Emotionen und Gefühle bedingt. Diese sind Teil des Raumes, an dessen Entstehung und Reproduktion beteiligt und Teil seiner Bedeutung innerhalb einer Gesellschaft und ihrer Teile, die sie anzeigen. Aus dieser Bedingtheit ergibt sich nach ersten Überlegungen ein gegenseitig bezogenes Erlernen von Räumen und Gefühlen. Diese können somit als eine gemeinsame Struktur der Lebenswelt, der jeweiligen Wirklichkeit gedacht werden. Inwieweit dies zutreffend ist und es sich an konkreten Beispielen zeigt, gilt es im Zuge dieser Arbeit herauszufinden.

Ausgehend von der theoretischen Erarbeitung des Zusammenhangs von Raum und Emotion, nicht nur als jeweils eigenständige Strukturen der Wirklichkeit(en), sondern als gemeinsame, bezügliche Struktur, soll im Anschluss der Zusammenhang exemplarisch in seiner Funktion und Bedingtheit (und damit auch Nutzung) untersucht werden. Dafür sollen ausgewählte Räume, „alltägliche“, wie „außeralltägliche“ in ihrer Konstitution und Wahrnehmung, sowie vor allem in Bezug auf ihre emotionale Strukturierung, Schaffung und Bereitstellung von emotionalen Mustern, wie auch ihre Rolle in Bezug auf den Lernprozess von Gefühlen betrachtet werden. Ziel ist es, die Lebenswelt als emotional kartografiert, den gegenseitig bedingten Aneignungsprozess und die Funktion dieser Verbindung, vor allem im Sinne der Sozialdisziplinierung (in einem weiten Sinne) aber auch Devianz, spezifisch zu beleuchten. Zentrale Räume, bzw. Raumkomplexe sind dabei beispielhaft „die“ Schule, „der“ Kerker, „die“ Straße, zu denen im Laufe der Untersuchung weitere hinzukommen können.
Welche Modelle des Fühlens werden zur Bewältigung alltäglicher und außeralltäglicher räumlicher Situationen bereit gestellt, kultiviert und in Bezug auf diese erlernt und wie schaffen diese die Räume mit? Gibt es dabei situations-, milieu- oder schichtspezifische, konkurrierende Konzepte und Normen und damit eventuell zusammenhängende Identitäten. Mit anderen Worten, folgt aus der spezifischen emotionalen Bewältigung und Aneignung räumlicher Situationen, bzw. dem Erlernen unterschiedlicher emotionaler Konzepte in und zu Räumen eine spezifische Rolle oder gar Wirklichkeit, die nicht nur unterschiedliche Räume und Gefühle, sondern auch unterschiedliche Zusammenhänge produziert? Oder umgekehrt, bieten spezifische Rollen spezifische (emotionale) Wirklichkeiten und emotionale Muster an, die zur Bewältigung angeeignet werden können? Was bedeutet das raumbezogene Erlernen von Gefühlen für beide Strukturen? Wird und wenn ja, wie, dieser Zusammenhang aktiv genutzt?
Erste Anzeichen für eine aktive Aneignung von Rollen in Form und durch spezifische räumlich-emotionale Muster liefert die Betrachtung „des“ Kerkers, in welchem mit zugeschriebener, bzw. normativ verlangter Gefühle verbundene Wirklichkeiten mit anderen, aus der räumlichen Situation sich ergebenen, vor allem auch emotionalen Rollen konterkariert werden (können), die in Bezug auf den Raum normiert und erlernt und in seinem Erleben angewendet und je unterschiedlich spezifisch angeeignet werden. Auf diese Weise existiert nicht eine emotional kartografierte Welt, sondern spezifische Welten in und mit Hilfe verschiedener Identitäten.

Um diesen Zusammenhang und seine Funktionen, bzw. Wirkungen zu untersuchen, ist es nötig, die Räume in ihrer Konstitution und ihrem Erleben zu untersuchen. Ebenso müssen die jeweiligen Gefühle, ihrer Norm nach aber auch in ihrem kommunizierten Erleben betrachtet werden. Welche Gefühle tauchen in und zu den jeweiligen Räumen auf, wie werden diese (raumbezüglich) erlernt, angeeignet, eingeübt und kommuniziert. Hängen diese mit spezifischen Rollen zusammen? Es gilt also sowohl normative Quellen im weitesten Sinne, also wissenschaftliche Literatur, Policeygesetzgebung, Ratgeber usw. zu analysieren, wie vor allem auch Selbstzeugnisse, die das Erleben in erlernten Bahnen spiegeln. Dabei sind in letzterem jedoch die kommunizierten Gefühle nicht (automatisch) als tatsächlich empfunden zu denken, sondern vor allem als Kommunikationsmittel zu betrachten, als Begründungen und Erklärungen für konformes oder nonkonformes Handeln oder als Mittel der Bedeutungsübertragung, bzw. Wirklichkeitsanpassung, sowie als Mittel der Durchsetzung der eigenen Sichtweise (so kann Mitleid erweckt werden, um die eigene Position bei den Lesern zu verändern, bzw. Eigen- und Fremdbild anzupassen oder den Wahrheitsanspruch zu unterstreichen).
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, die Gefühle vor allem in ihrer Wirkung auf das Denken und Handeln zu betrachten. Wo es nötig wird, ist zudem eine metasprachliche Untersuchung der Gefühle nötig, um besonders in Fällen gleicher oder ähnlicher Vokabeln nicht gegenwärtige Bedeutungen, Inhalte und Handlungskonsequenzen in diese hinein zu transportieren und so das Ergebnis zu verfälschen, bzw. zu „verunzeitigen“. Gleiches gilt für die jeweiligen Räume, die trotz gleichem oder ähnlichem Namen anders konstituiert sein können. Dies gilt in beiden Fällen auch für zeitgenössisch verschiedene Ausprägungen, die durch verschiedene Milieus bestimmt sind.
Zur Beschränkung des Umfangs soll die Arbeit auf schriftliche Zeugnisse fokussieren und allenfalls ergänzend bildliche Quellen hinzu ziehen. Eine dezidierte Analyse von Bildquellen muss zum jetzigen Standpunkt weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
Auf diese Weise soll sich ein freilich unvollständiges Bild der emotional kartografierten Lebenswelt ergeben, der historischen Zusammenhänge von Raum und Gefühl in der gemeinsamen Aneignung und der diesem Prozess zugewiesenen Funktion und lebensweltlichen Wirkung, basierend auf den theoretischen Vorüberlegungen, die selbstredend aktuelle Forschungen rezipieren müssen.
Die Arbeit geht damit einen doppelten Weg. Zum Einen soll anhand neuester Forschung der Zusammenhang von Emotion und Raum als gemeinsames strukturbildendes Merkmal untersucht werden und zum Anderen soll anhand der sich daraus ergebenden Frage, dem sich ergebenden „Brennglas“, die frühneuzeitliche Welt in Bezug auf die konkrete Ausprägung und konkrete Zusammenhänge betrachtet werden.
Die Arbeit will einen Beitrag zum Verstehen des Zusammenhangs von Emotion und Raum beitragen, sowie die emotionale Kartografierung, so und wie sie sich fassen lässt, in ersten Zügen beispielhaft erfassen.
1Vgl. dazu u.a. Jutta Stalfort, Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750-1850) (Bielefeld: transcript, 2013), insbesondere 106f, sowie generell Christian von Scheve, Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung (Frankfurt am Main/New York: Campus 2009). Beide Arbeiten sind für diese Untersuchung von großem Wert.
2Das hier vertretene Raumkonzept basiert zum großen Teil aus Weiterführungen von raumsoziologischen Ansätzen wie jenen Martina Löws, als auch phänomenologischen. In dieser Hinsicht ist die Ebene der Konstruktion von Räumen, die weitgehend unbewusst abläuft, von jenen der Raumerfahrung in der alltäglichen Lebenswelt zu unterscheiden und muss für die Untersuchung grundsätzlich beachtet werden. Prinzipiell sind Räume als soziale Ordnungssysteme und Handlungsmuster zu verstehen, die nur in der Wahrnehmung als Ganzes und Gegebenes (bzw. fraglos Gegebenes) erscheinen, in der Konstitution aber aus verschiedenen Elemente zusammengesetzt sind und die jeweils einzeln als auch als Ganzes mit Sinn und Handlungsanweisungen belegt sind. Vgl. dazu Martina Löw, Raumsoziologie (Franfurt am Main: Suhrkamp, 2001), sowie Sebastian Ernst, „Inueni portam spes et fortuna valete!“. Der Hafen als kulturelles Konstrukt in der Frühen Neuzeit (Potsdam: unveröffentlichte Magisterarbeit an der Universität Potsdam), 11ff.

Montag, 2. Dezember 2013

Gibt es gestalterisches Forschen? Eine Annäherung

Diese Frage geht zurück auf eine Ringvorlesung an der BTK in Berlin, die mich zugleich inspirierte, selbst dieser Frage in einer Verdeutlichung nachzugehen. Es geht dabei nicht darum, sie zu beantworten, zumindest nicht zur Gänze, sondern sich der Antwort fragend zu nähern und einige, aus meiner Sicht zu beachtende Aspekte zu verdeutlichen.

Bei näherem Hinsehen zerfällt diese Frage in mehrere, die sich nach unterschiedlichen Begriffen ausrichten, so ist von „Kunst“, „Gestaltung“, wie auch „Design“ die Rede, die jeweils nicht bedeutungsgleich gelesen werden können, ein Problem, dass später noch zum Tragen kommen wird.
Ich will mich dieser Frage, ohne eine umfangreiche vergleichende Begriffsklärung anzustrengen, in ihrer jeweiligen durch die Begriffe bestimmten Eigenheiten nähern.

1. Gibt es gestalterisches Forschen?

Diese Frage ist von allen die am einfachsten zu beantwortende. Mit dem Begriff der Gestaltung wird ein „kreativer Schaffensprozess, bei welchem durch die Arbeit des Gestaltenden eine Sache [...] verändert wird, d. h. erstellt, modifiziert oder entwickelt wird und dadurch eine bestimmte Form oder ein bestimmtes Erscheinungsbild verliehen bekommt oder annimmt“ gemeint. Bei wikipedia wird dabei zwischen zwei Bedeutungen unterschieden. Zum Einen bezeichnet Gestaltung „einen bewussten Eingriff in die Umwelt mit dem Ziel, diese in eine bestimmte Richtung zu verändern.“ Zum Anderen ist Gestaltung die „bewusste, verändernde Einflussnahme auf die ästhetische Erscheinung von Dingen oder Zusammenhängen, also auf unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Phänomene (wie Räumen, Objekten, Handlungen, Bewegung usw.). Beispiele sind die Bereiche der Musik, sowie die verschiedenen Designbereiche als Gestaltung von Produkten, Grafik, Mode, Architektur usw. oder die individuelle Körpergestaltung oder Umfeldgestaltung.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Gestaltung, letzter Zugriff 02.12.2013, 12:03.)

So klar diese Trennung scheint, so wenig ist sie praktisch gegeben, denn jede, nennen wir sie „ästhetische Gestaltung“, ist zugleich Gestaltung in eine bestimmte Richtung innerhalb des Rahmens aus Selbst- und Weltkonstruktion von Akteuren und Gesellschaften. Die „angemessene Formfindung“ als Inhalt des Begriffs innerhalb der zweiten Ebene, wie er scheinbar im Kontext des Designs gebraucht wird ist zwar oberflächlich betrachtet ein bewusster Prozesse aber auch er folgt Phänomenen, die man mit „Zeitgeist“, „Kultur“, „Identität“ bezeichnen könnte.

Um sich der Frage nun weiter zu nähern, ist zwischen weiteren Bedeutungen zu unterscheiden. So kann „gestalterisches Forschen“ den Begriff der Forschung fokussieren, als auch den Begriff des Gestaltens. Zu erst soll die erste Bedeutung betrachtet werden, da diese erneut einfacher zu beantworten ist. Die zweite Bedeutung soll entsprechend umformuliert werden im Sinne des „Forschens mit gestalterischen Mitteln“ oder anders „Design als Wissenschaft“.

Die erste Frage kann nun leicht beantwortet werden, denn Forschen ist immer gestalterisch. Erforschen wir Vergangenheit, gestalten wir sie zu Geschichte, die ihrerseits bestimmten Rahmenbedingungen und Deutungen unterliegt. Aus Vergangenheit wird Geschichte gemacht. Das jeweils Denk- und Interpretationspotential, dass zur Gestaltung genutzt werden kann, ist durch kulturelle, institutionelle und soziale Determinanten vorgegeben.
Was für die Geschichtswissenschaft gilt, gilt jedoch für alle Wissenschaften und ist wechselseitig zu denken. Wissenschaftlicher Erkenntnisse werden gestaltet, durch Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, durch institutionelle Besonder- und Gegebenheiten aber sie gestalten auch diese um. Bereits die Übersetzung in eine Sprache, das Denken in Sprache, ja selbst der Blick auf die Untersuchung und ihre Ergebnisse, die Themenauswahl und Methodenwahl sind Mittel der Gestaltung und daher auch in jedem wissenschaftlichen Arbeiten, neben weiteren Aspekten wie der kulturellen Rahmung, Identität und Motivation als verändernde oder in diesem Sinne gestaltende Momente zu beachten. Gibt es also in diesem Sinne „gestalterisches Forschen“? Die Antwort muss „ja“ lauten.

Im Zusammenhang mit dieser Bedeutungsebene steht ein weiterer Aspekt, der nicht zuletzt durch das Ringen um eigenständige Bedeutung in bestehenden Hierarchisierungen und Anerkennungsmechanismen steht: der Kampf des Designs um einen eigenständigen Wert, der sich in der später zu klärenden Frage nach Design als eigener Wissenschaft spiegelt, in der sich das Design von der Marginalisierung als bloße „Hilfsarbeit“ der Wissenschaften zu lösen wünscht. Das Aufwertungsbestreben bezieht sich dabei auch gleichzeitig auf diese „Hilfstätigkeit“ im Ringen um Anerkennung. Dabei birgt eine solche Verwendung (weiterer!) gestalterischer Mittel sowohl Gefahren, als auch Potential zur eigenen Neuverortung und Anerkennung.
In einer Welt der stärkeren „Demokratisierung von Wissen“ (ausdrücklich ist hier auf den Unterschied zwischen „Wissen“ und „Bildung“ zu verweisen, auf den hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann) und des Kampfes auch um monetäre Anerkennung und damit Fortbestehen ganzer Wissenschaftszweige verstärkt sich der Druck nach breitenwirksamer Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dabei ist diese Streben insofern positiv, als dass es die Instrumentalisierung des Wissens durch Interessengruppen verringern kann, da die Vermittlung zugleich durch die Forscher selbst „überwacht“ werden kann und insofern es, so das Wissen im Rahmen einer Bildung verwendet wird, einem wichtigen Ziel folgen kann.
Aufgrund dessen kann hier für das Design Anerkennung generiert werden, die jedoch mit Vorsicht und mit eigener starker Theoriearbeit und Reflektion seitens des Designs versehen sein sollte. Die in diesem Sinne „massentaugliche“ Gestaltung der Ergebnisse ist dabei als Übersetzung zu konzeptionalisieren. Viel wenig beachtet scheint mir dabei die Problematik einer Übersetzung. Bei jeder Übersetzung (selbst innerhalb der Kommunikation zwei scheinbar die gleiche Sprache Sprechender) kommt es zu Bedeutungsverschiebungen, die in diesem Falle durch eine geforderte Komplexitätsreduktion begleitet werden. Was bei einer Übersetzung geschieht ist eben nicht eine 1:1 Umwandlung, sondern eine Umwandlung, die zugleich eine Verwandlung ist, neue Bedeutungen vermittelt, manche fokussiert, manche nicht. Dies zu beachten und kritisch aufzuarbeiten könnte ein wirklich wichtiger theoretischer Beitrag des Designs für Wissenschaft und Bildung sein. Freilich kann und muss das Design dabei auf Erkenntnisse der Kulturwissenschaften, Psychologie, (Wissens)Soziologie, Philosophie und der Neurowissenschaften zurückgreifen, kann sie jedoch speziell auf ihr Aufgabengebiet hin ausrichten und erweitern.
Zum Abschluss dieses Bereichs sei noch kurz auf einen weiteren Aspekt hingewiesen. Die Übersetzbarkeit gilt nicht nur in Richtung der Massentauglichkeit, sondern auch in Richtung des Verstehens seitens der Wissenschaftler selbst. So kann die gestalterische, vor allem grafische Übersetzung neue Perspektiven eröffnen und über ihre Bedeutungsverschiebung und Fokussierung zugleich den Erkenntnisgewinn positiv beeinflussen.

Sowohl Gefahren als auch Wert liegen hier also eng beieinander und das Bedürfnis nach Anerkennung sollte vor allem ersteres nicht überblenden.

Der nächste Abschnitt wird der Frage nach künstlerischem Forschen und Design als Wissenschaft gewidmet sein.

Sonntag, 1. Dezember 2013

Erlebbare Geschichte - erste Gedanken zu Hintergründen und zentralen Kategorien

Vergangenheit hat Konjunktur. Freilich gilt dies nachwievor nicht für den Geschichtsunterricht, der eher mit Kürzungen von staatlicher Seite und der Langeweile, die er bei den Schülern immer nochhervorruft, zu kämpfen hat. Das Interesse an Geschichte zeigt sich an anderen Stellen. So erfreut
sich eine bestimmte Form (oder eigentlich genauer bestimmte Formen) der Beschäftigung mit Geschichte als Hobby seit den 1970er Jahren eines bemerkenswerten Aufschwungs. Die Rede ist von Living History (im Deutschen oft als "Erlebbare Geschichte" übersetzt), Reeactment und Reenlarpment und ihren verschiedenen Ausprägungen und Interpretationen, die wohl die wichtigsten Spielarten der Beschäftigung, Aneignung und Vermittlung von Geschichte in darstellender Form durch Laien beschreiben. Trotz ihrer Verschiedenheit, sowohl untereinander, als auch innerhalb ihrer Definitionen, handelt es sich dabei um Formen der erlebnisorientierten, sinnlichen, affektorientierten und performativen Aneignung und Vermittlung. Die so entstehende Geschichtskultur beansprucht zudem von ihren Akteuren eine spezifische, jedoch ernsthafte und quellenorientierte Beschäftigung und Aufarbeitung historischer Sachverhalte. Dabei existiert allerdings eine große Bandbreite an qualitativ unterschiedlichen Ausprägungen, basierend vor allem auf gegenseitigen Bewertungen aufgrund unterschiedlicher Wertmaßstäbe und Definitionen von "Authentizität", sowohl des Dargestellten, als auch zum Teil des Erlebten, des direkten Erfahrens bestimmter Kulturtechniken und Anwendungen, dem historischer Erkenntniswert zugesprochen wird.
Ein wichtiges, gemeinsames Merkmal dieser Formen ist, dass es sich dabei um eine Beschäftigung außerhalb "klassischer" institutionalisierter Bildungseinrichtung handelt. Allerdings bedienen sich auch diese "klassischen", anerkannten Institutionen historischer Forschung und Vermittlung zunehmend dieser Formen, um einem anscheinend recht breiten Interesse an erlebnisorientierter Vermittlung von Geschichte gerecht zu werden. Je nach Fokus der einzelnen darstellenden Akteure ergibt sich daraus eine mehr oder weniger starke Wechselwirkung, die sich jedoch vor allem auf einen bestimmten Teil der "Szene" beschränkt, der sich nach eigenen Maßstäben als besonders engagiert und wissenschaftlich arbeitend definiert.
Auf all diese Unterschiede müssen Untersuchungen zwingend achten, denn genau genommen handelt es sich um mehrere Hobbys und nicht um eins. Dies zu ignorieren würde zwangsläufig zu falschen Einschätzungen führen.
Das wachsende Interesse sowohl von Seiten der Darsteller, als auch von Seiten der Rezipienten an diesen spezifischen Formen ist nun Grund genug, sich eingehender mit diesem Phänomen zu befassen.
Nicht zuletzt aufgrund meines eigenen Engagements und meiner "Zwischenrolle" als Living History-Akteur und Historiker, gilt mein Interesse diesem Phänomenbereich. Mein Interesse richtet sich dabei vor allem auf die Hintergründen, Grundlagen, Geschlechter- und Rollenkonstruktionen, den Motivationen und der Ausarbeitung einer geeigneten Didaktik "Erlebbarer Geschichte" unter der Neuen Kulturgeschichte als Leitdisziplin.
Im Laufe der Zeit werde ich einige Auszüge meiner Beschäftigung mit diesen Themen hier veröffentlichen. Den Anfang macht eine kurze Auseinandersetzung mit den Hintergründen dieses "Hobbys", sowie mit einer der Kernkategorien dieser Vermittlungs- und Beschäftigungsform mit zu Geschichte(n) verdichteter Vergangenheit.

Erlebbare Geschichte als bedürfnisorientierte Aneignung von Vergangenheit

Aneignung von Vergangenheit als Geschichte oder besser, als sinnlich erlebbarer Geschichte bedient und über ein Sendungsbewusstsein die Ergebnisse dieser Aneignung weitergeben wollen.
Diese Formen der Aneignung sollen als "subkulturelle Kolonialisierung (scheinbar) brachliegender Sinnprovinzen" verstanden werden.* Sie erfüllen damit ein Bedürfnis nach Deutung von Vergangenheit, die auf anderem Wege scheinbar nicht oder unzureichend vorgenommen und oder vermittelt wird, sowie den Bedürfnissen, Sehnsüchten und Vorstellungen der sich dieser Formen Bedienenden und deren Rezipienten nicht gerecht zu werden scheint.
Was ist damit gemeint? Wie kommt es zu dieser Form der Aneignung, was sind deren Bedingungen und Triebkräfte? Im Folgenden sollen einiger erste Thesen vorgestellt werden.

Allen kulturellen Wesen zu eigen, ist das Bedürfnis, die Welt und ihre Erscheinungen mittels Symbolsystemen sinnhaft zu deuten und damit zugleich der Sinnlosigkeit und des Chaos zu entgehen. Diese Deutungen sind zudem Ressourcen für das Selbst- und Weltbild, für Identitäten, Gewissheiten und damit Sicherheit, sie machen überhaupt erst handlungsfähig, in dem sie oftmals schwer fassbare Kausalketten begreifbar machen oder jene imaginär erschaffen. Deutungen sorgen zudem dafür, Sehnsüchte und Bedürfnisse in die scheinbar natürliche Welt zu integrieren und damit legitimieren zu können.
Die Deutung von Vergangenheit ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Vergangenheit wird immer in Form von sinnhaften Erzählungen vermittelt und erst so zur Geschichte. Diese wiederum is sowohl Quelle für Identitäten, politische, religiöse und soziale Legitimation, Philosophien und kann selbst Entwürfe der Zukunft in sich tragen.
Nach dieser Sichtweise sagt uns Geschichte wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen (sollen).
Zumindest sind dies scheinbar Ansprüche, die besonders außerhalb akademischer Beschäftigung (nicht zuletzt auch seitens der Politik) an diese gestellt werden und die besonders in älteren Geschichtsphilosophien und ihren Großen Erzählungen zu Tage treten.
Der Reiz dieser Erzählungen in der Rezeption liegt vor allem darin, dass sie leicht anzueignen sind und eine einfache (Ein)Ordnung in und von der Welt erlauben. In zunehmenden Maße wurden diese doch besonders in der akademischen Welt verdrängt und durch komplexere Kontruktionen von Geschichte ersetzt.
Diese einfacher zu rezipierenden Erzählungen als Geschichte sind für viele heutige Darsteller auch die erste Erfahrung im intensiveren Umgang mit Geschichte (die über die eigene hinaus geht), da diese oftmals immer noch in der Schule gelehrt werden. Auf diesem Wege werden bestimmte Formen der Strukturierung von Geschichte und deren Aneignung erlernt die außerhalb akademischer Geschichtswissenschaft selten überwunden werden.
Zwar werden gerade die Bereiche, mit denen sich die hier untersuchte Kategorie darstellender Geschichtsinterpretation beschäftigt noch immer in der Schule vernachlässigt, jedoch besteht die sehr reale Gefahr, auch an neue Themen und deren Erarbeitung die erlernten Strukturierungen und Interpretationen anzuwenden.
Die starke persönliche Identifikation bietende Alltagsgeschichte, in denen sich die meisten Darstellungen abspielen (wollen) werden so unter genau diesem Aspekt angeeignet, als sinnhafte, große Erzählung, die auf bestimmte, noch zu untersuchende Punkte fokussiert und die Aneignung von Geschichte als Möglichkeit der Identitätsfindung nutzt, bei gleichzeitiger Offenheit für Sehnsüchte und Bedürfnisse. Dieser Raum ergibt sich dabei aus der Vernachlässigung dieser Themenbereiche und so weitaus offener für Deutungen außerhalb der Fachwissenschaft scheinen. Die wenig spannende Geschichte, die lange auf Politik- und Wirtschafts-, teils auf Ideen- und wenig auf Sozialgeschichte setzte, jedoch durch große sinnhafte Erzählungen die Identitätsstiftung beförderte und so Geschichte nicht selten auch vereinfachte (wohl auch zu sehr vereinfachte oder besser vereinheitlichte), konnte sich so einerseits als erlerntes Ideal wie Geschichten zu konstruieren seien setzen, als auch Raum lassen, um sich brachliegenden Bereichen zu widmen, die ungleich spannender erschienen.
Zwar bricht die Neue Kulturgeschichte, die auch langsam Einzug in den Unterricht an Schulen hält, mit vielen dieser Erzählungen alten Typs, sie verkompliziert Geschichte jedoch scheinbar und tatsächlich und stattet sie mit einer größeren deuterischen Vielheit aus, die in der wissenschaftsfremden Rezeption bis zur Willkür erscheint. Damit verliert sie nicht nur scheinbar an Legitimität und ihres Deutungsmonopols, sondern sie öffnet aufgrund ihrer schweren Verständlichkeit alternativen Deutungen die Möglichkeit, sich festzusetzen. Besonders letztere vermögen Sehnsüchte, wie auch Bedürfnisse nach Einfachheit, Sicherheit und Identität besser zu erfüllen. Gerade der Wegfall “großer, einheitlicher, sinnvoller Erzählungen”, die relativ leicht Identitäten erlauben, Sinn und Ziel geben und nicht zuletzt vergleichbar “leicht” anzueignen sind, hat eine große Lücke hinterlassen. Die fortwährende Dekonstruktion der Sicherheit und Gewissheit versprechenden Erzählungen in der postmodernen Wissenschaft ohne die Vermittlung neuer Identitätsschablonen, hat für große Verunsicherungen gesorgt, für eben jenes scheinbare Chaos, dem zu entgehen kulturelle Wesen bestrebt sind.
Die Ablehnung der Fachwissenschaft ist jedoch ebenso bei den Akteuren zu sehen, die für sich einen hohen Grad an Quellenorientierung, Authentizität und wissenschaftliche Methodik beanspruchen. Dabei geht diese Ablehnung jedoch über jene weniger auf diese Werte setzende Akteure hinaus. Dies gilt jedoch vor allem für die Geschichtswissenschaft, die einen anderen Status als die Archäologie einzunehmen scheint. Letztere ist dabei eher als die Leitwissenschaft vieler Living History Ansätze zu betrachten. Die Geschichtswissenschaft wir hierbei nicht nur aufgrund ihrer Komplexität und Dekonstruktionsleistung abgelehnt, sondern auch, um die eigene Expertise zu legitimieren. Dazu trägt die oft latente bis offene Fixierung auf Sachkultur (im Gegensatz zur Materiellen Kultur, die die sozio-kulturelle Ebene der Gegenstände weit stärker in den Fokus nimmt) und/oder vor allem Arbeitsabläufe als Kulturtechniken (die jedoch oftmals ihrem Kontext und damit ihrem Bedeutungsnetzwerk enthoben und verzerrt sind) bei, die scheinbar besser konkret verwertbare und vermittelbare Ergebnisse liefern. Besonders in dem Bereich der handwerklichen und konkret physischen Eigenschaften der Sachkultur ist erstaunliches Fachwissen vorhanden, was jedoch dazu zu führen scheint, andere Bereiche Materieller Kultur zu vernachlässigen, so dass sich das Erleben der Geschichte auf wenige Ausschnitte modernen Erlebens historischer Gegenstände und Handwerkstechniken reduziert, was gewisse nicht gegenstandsbezogene Bedürfnisse zu befriedigen scheint und woraus sich spezielle Geschichtsbilder zu einer spezifischen Geschichtskultur verdichten, die im Gegensatz zur Fachwissenschaft vor allem erkenntnistheoretische Probleme gänzlich zu vernachlässigen scheint.
Bis hierher bedeutet dies zusammengefasst, dass in der Schule nachwievor weitgehend bestimmte Formen der Geschichtsinterpretation erlernt werden, die auf Identitätsstiftung und große Erzählungen hinauslaufen. Da die Themen immer noch eher fern der Interessen sind, eröffnen sich Räume für die eigene Beschäftigung mit Geschichte, von denen eine Form die der darstellenden Geschichtsinterpretation ist, die auf Alltagsgeschichte fokussiert und das Erleben als eine quasi ahistorische zentrale Kategorien setzt. Die Neue Kulturgeschichte kann ihre Interpretationen der Alltagsgeschichte nur schwer vermitteln, was nicht zuletzt an ihrer tatsächlichen Komplexität liegt. Die Vielheit der Deutungen wird nicht zuletzt als Legitimation eigener Interpretationen genutzt, um so eigene Refugien des oftmals sehr speziellen Wissens zu schaffen.

Das Erleben in "Erlebbarer Geschichte" als erkenntnistheoretisches und praktisches Problem – ein Problemaufriss

Eines der grundsätzlich zu thematisierenden Probleme im Living History als Vermittlungsweg vergangener Lebenswelten kann die unreflektierte oder gar zum Zwecke des Erkenntnisgewinns genutzte Kategorie der Erfahrung, bzw. des Erlebens sein. Das Problem ist dabei zweierlei Art und besteht zum Einen in einer Mangelerfahrung und zum Anderen in einer Übererfahrung.
Die Mangelerfahrung besteht darin, dass nur wenige Bereiche der Lebenswelt durch Erfahrung zugänglich gemacht werden und wird verstärkt dadurch, dass auch diese letztlich modern erfahren werden, also durch moderne Vorerfahrungen, Deutungsmuster, Interpretationsschemata, Seh- und Empfindungsmöglichkeiten geprägt sind damit nur die Erfahrung eines konkreten Ausschnitts, losgerissen von seinem weiteren semantischen Gehalt und Erfahrungshorizont mit modern sozialisierten (neben den modern-biographischen) Seh- und Deutungsgewohnheiten wiedergeben.
Zum Anderen herrscht ein Erfahrungsüberhang vor, der darin besteht, dass in dem Erfahren der verschiedenen Situationen keine historisch bedingte Unterscheidung der Lebenswelten vorgenommen wird, also grundlegend verschiedene Lebenswelten erfahren werden, die den Zeitgenossen bestimmter sozialer Schichten, usw. Versperrt geblieben sind. Freilich sind auch diese letztlich modern erlebt.
Damit führt die Kategorie der Erfahrung als vermeintliches Erkenntnisinstrument über falsche Projektionen und einer scheinbaren Ahistorizität dieser Kategorie zu problematischen Geschichtsbildern und sollte daher zugunsten einer reflektierten Beschäftigung mit der Konstitution und Konstruktion von Wahrnehmung und einer Betrachtung von außen weichen, die nicht das Erleben in der Vordergrund stellt, sondern das verdeutlichende Anschauen und das Problematisieren des Gesehenen, wie des Sehens (und aller weiteren, beteiligten Wahrnehmungsapparate) fördert.
Die Ausklammerung des Erlebens als historisches Erkenntnismittel gehört somit ebenso zu den Grundlagen, die eine Didaktik der (auch zwangsweise unter anderem Namen zu etablierenden) "Erlebbaren Geschichte" als Vermittlungsinstrument, beachten muss.

*Der Begriff geht auf Jüdt und seine Untersuchung der Paläoastronautik zurück. Vgl. Jüdt, Ingbert: Aliens im kulturellen Gedächtnis? Die projektive Rekonstruktion der Vergangenheit im Diskurs der Präastronautik, S. 97ff, in: Engelbrecht, Martin; Schetsche, Michael (Hrsg.): Von Menschen und Außerirdischen, Bielefeld 2008, S. 81-104.

Mündigkeit als Problem – eine Annäherung


In diesem kurzen Aufriss soll das Konzept von Mündigkeit, sowie dieses als philosophisches Problem genauer betrachtet werden. Dabei ist das hier gemeinte Konzept, da sich der Begriff der Mündigkeit in verschiedenen Bereichen findet, zuerst von jenen Bedeutungen zu trennen, die dabei außen vor bleiben sollen. Zu diesen gehört der rechtliche Inhalt im Sinne des Erreichens juristischer Volljährigkeit. Fokussiert wird damit auf den philosophischen Begriff, nicht zuletzt auch mit dem Anspruch, dass dieser es ist, der den anderen voraus gehen muss. Ebenso im Blick ist der politische, da er sich eng an den philosophischen Anlehnen muss.
Mündigkeit als philosophischer und politisierter Begriff dient dabei als Legitimationsgrundlage und Kampfbegriff. Das hinter diesem verborgene Konzept, seine Bedeutung ist maßgeblich für das Verständnis von Demokratie. Umso problematischer ist es, dass eine Beschäftigung mit dem Konzept recht dürftig stattfindet.
An einer ersten Annäherung und vor allem einem Problemaufriss ist dieser Arbeit gelegen. Dabei gestaltet sich eine freie Diskussion schwierig, ist das Konzept von Mündigkeit und die Postulierung selbiger doch für die meisten Individuen etwas selbstverständliches, so dass sich eine Relativierung, die sich aus der kritischen Betrachtung ergeben kann, fast notwendig Widerstand ausgesetzt sehen muss. Eine Annäherung muss sich damit auch auf das Selbstbild menschlicher Personen auswirken.
Ebenso muss eine kritische Beleuchtung auch Konsequenzen auf die politische Theorie haben, stellt doch Mündigkeit eine der grundlegenden Voraussetzungen für den Großteil gegenwärtiger Demokratiekonzepte dar, so dass sich bereits aus diesem Umstand ein Interesse der Philosophie, in diesem Fall der Politischen, zwangsweise ergibt.
Im Zuge der Skizzierung bisheriger Definitionen und der sich anschließenden Probleme wird und soll auch die Relevanz für weitere Bereiche der Philosophie herausgestrichen werden, die dazu führen muss, sich diesem Thema von mehreren Bereichen aus zu nähern. Zu diesen gehören die Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie, Ethik, als auch Handlungstheorie. Weiterhin kann sich eine intensive und ausführliche Beschäftigung nicht in der Philosophie allein erschöpfen, sondern muss ebenso auf soziologische und psychologische Zugänge ausgerichtet sein.

Um sich dem Begriff und damit dem Inhalt zu nähern soll als erstes dessen Ursprung betrachtet werden. Ausgehend von diesem soll der Begriff skizzenhaft erweitert werden. In einem weiteren Teil werden dann einige Probleme zur Sprache kommen, die als offene Fragen zugleich auf eine Notwendigkeit einer eingehende Untersuchung verweisen sollen.

1. Klärung des Begriffs

1.1. Kant

Kant ist einer der ersten, der Mündigkeit zu definieren versucht und stellt den Grundbezug nahezu aller Beschäftigungen mit dem Konzept dar. Dabei spricht Kant nicht über Mündigkeit, sondern über Unmündigkeit und definiert so den Begriff ex negativo.1
Um das Vielzitierte erneut zu wiederholen, ist Unmündigkeit „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Dementsprechend ist Mündigkeit das Vermögen, sich seines Verstandes zu bedienen, ohne auf die Leitung eines anderen angewiesen zu sein.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit dann, wenn der Mangel dieses Vermögens nicht auf den Mangel des Verstandes zurückzuführen ist. Implizit erscheint hier bereits die Möglichkeit, aufgrund mangelnden Verstandes, ohne den Begriff hier genauer zu bestimmen, unmündig zu sein. Diesen Punkt gilt es dabei im Auge zu behalten.
Für Kant ist nun der Entschluss maßgeblich, den Verstand zu gebrauchen, wenn auch offen bleibt, ob jede Person dies kann und inwieweit es graduelle Unterschiede gibt. Die Kantische Konzeption von Vernunft und Personalität legt jedoch nahe, dass Mündigkeit potentiell allen Menschen zukommen kann.
Verstanden wird Mündigkeit auch als Prozess, als etwas erst Herzustellendes, wodurch sich mehrere Problemen ergeben, die in späteren Abschnitten zum Tragen kommen werden.
Kants Schrift „Was ist Aufklärung?“ gibt damit ein sehr oberflächliches, kurzes und problematisches Konzept von Mündigkeit wieder. Es stellt trotz seiner Kürze einen ersten Anhaltspunkt dar, während es zugleich wichtige Probleme benennt. Vieles bleibt ungeklärt, so dass im Folgenden das Konzept Adornos, das ebenfalls grundsätzlich auf Kant referiert, jedoch das Konzept graduell stärker ausformuliert in den Blick genommen werden soll.




1.2. Adorno – Erziehung zur Mündigkeit

In „Erziehung zur Mündigkeit“ schreibt Adorno in Bezug zur kulturellen Ungeformtheit des Agraischen folgendes über das Konzept der Mündigkeit:
„Das Individuum wird mündig überhaupt nur dann, wenn es aus der Unmittelbarkeit von Verhältnissen sich löst, die keineswegs naturwüchsig sind, sondern bloß noch Rückstand überholter historischer Entwicklung, eines Toten, das nicht einmal von sich selbst weiß, daß es tot ist.“2
Kern der Mündigkeit bildet dabei einerseits die Überwindung der vermeintlichen Urwüchsigkeit der Verhältnisse, der Konventionen oder anders ausgedrückt, die Überwindung des verdinglichten Bewusstseins, dass das Gewordensein seiner selbst nicht gewahr wird.3 Andererseits ist es die Abkehr von Autoritäten, wie dies auch schon bei Kant beschrieben wird, jedoch soll damit keine Scheinmündigkeit gemeint sein, die nichts weiter als ein primitiver Anti-Autoritarismus ist.
Zentrale Begriffe bei Adorno sind damit Selbstreflektion und Autorität.
Die Selbstreflektion bedeutet dabei das Hinterfragen gesellschaftlicher Konventionen und damit der Gesellschaft und ihrer Regeln selbst, als auch des Einflusses dieser auf das eigene Denken und den eigenen Willen4, ihr Feind ist die Anpassung, wobei in Bezug auf diese von einem dialektischen Verhältnis ausgegangen wird. So ist zur Bewusstmachung der determinierenden Mechanismen eine Realitätsprüfung und damit ein Moment der Anpassung nötig, dass wiederum die realen Verhältnisse reproduziert.5 Das Ziel scheint dabei zu sein, in der Anpassung letztlich durch die Reflektion über sie hinaus zu gehen und die Realität zu verändern. Bewusstwerdung der Verhältnisse innerhalb dieser, dann Reflektion, Hinterfragen und durch das eigene Handeln ein Zurückwirken auf die Verhältnisse und eine Änderung.
Allerdings darf Mündigkeit und Selbstreflektion nicht nur als auf äußere Einflüsse bezogen verstanden werden. Auch das eigene Selbst schafft sich Grenzen, Determinanten und Vorherbestimmung aus sich selbst heraus, wobei auch dabei die Gesellschaft indirekt beteiligt ist.6 Die zu hinterfragende Fremdbestimmung muss zumindest nicht vordergründig mit „Anderen“ zu tun haben, es kann sich bei ihr auch um eine Fremdbestimmung durch das eigene, gegenwärtige oder frühere Selbst handeln.
Die Autorität betreffend ist Vorsicht geboten.7 Wie erwähnt geht es nicht um einen Anti-Autoritarismus, wie er gern von bestimmten Gruppen praktiziert und als Mündigkeit missverstanden wird. Weder ist blindes Ablehnen sinnvoll, noch soll Sachautorität negiert werden.
Auch weißt Adorno mit Blick auf Freud darauf hin, dass vor Mündigkeit, also der Abnabelung von Autorität, diese erst bestehen muss.8
So muss auch, um es auf die Bildung zu beziehen, dem Lehrer Autorität zugestanden werden, seinen Anweisungen gefolgt werden, die freilich in ihrer letzten Instanz auf die Negierung oder Relativierung dieser Autorität hinauslaufen sollen.
Dies findet ihre Evidenz auch in der Moralerziehung, wie sie u.a. von Piaget9 und Kohlberg10 über Habermas11 bis zu Schwickert12 verstanden wird. Die moralische Orientierung bewegt sich dabei, je nach Entwicklungsstufe, von dem autoritären Charakter der Bezugspersonen, hedonistischen Handlungsgründen über autoritäre Grundregeln der Gesellschaft bis hin zu reflektiert und kontextuell gebrauchten und begründeten, universellen Prinzipien. Dabei ist auch hier das Moment der Anpassung und des Realitätsbezugs vorhanden. In der Moralentwicklung stellt dies auf der 8. Stufe nach Schwickert eine besondere Herausforderung dar, da hier, nachdem das universell richtige in der konkreten Situation erkannt wurde, die Gesellschaft erneut betrachtet und beides versucht wird in Einklang zu bringen. Ziel ist nicht nur die konkrete Handlung, sondern zugleich die Veränderung der gesamten Verhältnisse bei gleichzeitiger Wahrung der eigenen Person in dieser Gesellschaft. Die 8. Stufe ist somit erneut eine strategische, ähnlich der niederen, egoistisch-hedonistischen, nur ist sie hier eine idealistisch-strategische.

Auf den Punkt gebracht bedeutet das bisherige also: „Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet […]. Das erweist sich aber an der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt.“13
Mündigkeit ist damit eine Fähigkeit zur Kenntnis der eigenen Determinanten und des gesellschaftlichen Spiels, wobei es zwar ein notwendiges Existieren in diesem Spiel gibt, zugleich aber ein unerläßliches Außenstehen, ein Beobachten, Erklären und notfalls Eingreifen. Damit einher geht ein Erkennen der Welt als eine gemachte, eine Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, so dass die vorgegebene Gesellschaft und damit auch der Mehrheitswillen nicht zugleich zum Sollen erklärt wird. Eine solche Interpretation würde sich des „deskriptivistischen Fehlschlusses“ schuldig machen, wie Hare es bezeichnet.14
Dabei bleibt Mündigkeit auch bei Adorno etwas Herzustellendes und nicht Gegebenes.15

2. Der holprige Weg zur Mündigkeit

Die beiden Positionen zusammengefasst ergeben ein Skizze von Mündigkeit, wie sie auch gegenwärtig gebraucht wird. Mündigkeit soll die Fähigkeit einer Person zur Selbstbestimmung sein und damit die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln selbstbestimmt und frei von äußerer Einflussnahme gestalten zu können. Prägnant formuliert findet sich dies folglich auch bei Peter Massing im Lexikon der politischen Bildung: „Mündig ist der Mensch, wenn er zu eigenem Denken gelangt ist, wenn er von Vorurteilen und Verblendungen frei […] gelernt hat, Vorgefundenes kritisch zu reflektieren […], um auf dieser Basis zu entscheiden“16
Wie bei allen Autoren klar geworden sein sollte, ist Mündigkeit dabei etwas herzustellendes, prozesshaftes, so dass sich die Frage ergibt, wie und mit welchen Mitteln dies zu erreichen sein soll.
Als solche Mittel nennt Adorno Medienkompetenz, Bildung und Erziehung zur kritischen Selbstreflektion, wie auch generell zu einer Kritik an Gegebenem, anders ausgedrückt, zu einer kritischen Differenz zwischen Sein und Sollen, die, wenn sie vernachlässigt wird, mit der entsprechenden Sozialisation den Grundstein für eine lebenslange Unmündigkeit legt.
Besonders der bereits erwähnten Moralerziehung muss dabei eine Schlüsselrolle zukommen, da es Ziel dieser ist, Konventionen zu hinterfragen.
Weiterhin spielen Informationen, spielt Wissen eine wichtige Rolle bei der Abkehr von Autoritäten. Damit erreicht auch der Begriff der Medienkompetenz eine Schlüsselfunktion.
Besonders das Fernsehen als Ideologie mit seiner Vorwegnahme von Surrogaten17, Adorno spricht hier die Liebe an, gegenwärtig wird eher von „sexueller Verrohung“ gesprochen, spielt als zugleich Autorität eine wichtige Rolle. Dabei ist dieses Problem bei allen Massenmedien vorhanden. So spricht Mill dieses Problem bei den Zeitungen an, Adorno in Bezug auf das Fernsehen und jüngst wird auch die Problematik des Internets angesprochen. Eine der Kernfragen, die sich dabei stellt ist jene, ob Fernsehen oder irgendein anderes Massenmedium besser sein kann, als die Gesellschaft, die es produziert oder ob es gezwungenermaßen diese nur spiegelt und Vorurteile notwendig reproduziert. Unabhängig von der Antwort ist aber eine Ausbildung der Medienkompetenz als besonders wichtig anzusehen. Auch und insbesondere Massenmedien müssen ihren autoritären Charakter verlieren. Die Massenmedien sind dabei nichts zwangsläufig abzuschaffendes. Sie dienen zwar oftmals als Reproduktionsmechanismen gesellschaftlicher Konventionen und müssen kritisch „gelesen“ werden können, um sie von vorgefertigten Deutungen und Sinnstiftungen zu trennen. Jedoch sind diese Medien auch nötig, um in breiten Massen Informationen erlangen, bzw. verteilen zu können, ohne die Unabhängigkeit nicht vorangetrieben werden kann.
Neben der individuellen darf dabei nicht die politische Ebene vergessen werden, nicht allein das Individuum muss zur Reflektion gezwungen sein, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes, die Politik muss Entartungen, die unreflektierte „Zementierung der Barbarei des Bestehenden“ verhindern helfen.18
Bildung steht nun mit all diesem in Zusammenhang, so dass hier nur wenige, grundlegende Gedanken geäußert werden sollen. So liegt im Begriff der Bildung eine Mehrdeutigkeit.19 Es kann unter ihr formale Bildung verstanden werden. Diese zu fördern ist zweifelsohne wichtig, als das sie die nötigen Hintergrundinformationen, das nötige Fachwissen und den aktuellen Stand der Forschung liefern muss, um in konkreten Fragen Antworten zu können. Sie liefert dem Verstand sozusagen das Arbeitsmaterial, mit dem er sich beschäftigen kann, bzw. damit er sich überhaupt mit einer Sache beschäftigen kann. Formale Bildung reproduziert aber ebenso gesellschaftliche, vermeintliche Gewissheiten und Konventionen und ist somit ebenso gefährlich und letztlich immer konservativ. Dieser Bildung, welche Allgemeinwissen, wie auch Fachwissen generiert, muss notwendig eine reflektierte Intellektualität gegenüber gestellt werden. Bildung und deren Inhalte müssen durch das Individuum kritisch geprüft, in größeren Zusammenhängen gedacht und kontextualisiert angewendet werden können. Gleichzeitig bezeichnet diese kritische Intellektualität die Ebene der (Selbst-)Reflektion, die auch schon in der Erziehung ihren Ursprung finden muss.
„Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zur kritischen Selbstreflektion“, schreibt Adorno dazu.20 Damit ist deren Ziel festgelegt. Es ist eine Erziehung zum Widerspruch und Widerstand, die auch dem Lehrer nicht blind vertraut. Es ist die Erziehung zu einem „richtigen Bewusstsein“.21
3. Mündigkeit als Problem

Aus dieser an einem Ideal ausgebildeten Vorstellung von Mündigkeit und der Sichtweise ihrer Erreichbarkeit, ergeben sich eine Vielzahl an Problemen, die zugleich philosophisch aber auch politisch relevant sind und die entweder die bisherigen Definitionen verändern müssen oder aber die Vorstellung von der Zugänglichkeit zur Mündigkeit infrage stellen muss.
Eines der Kernprobleme bildet dabei der Bereich der Determiniertheit und die Frage ob und inwieweit es möglich ist, dieser zu entfliehen. Diese Frage gilt umso mehr, als das es verschiedene Subkategorien dieses Bereichs gibt und für jede einzeln untersucht werden müsste, inwiefern der Einfluss dieser Mechanismen abstellbar ist. Es handelt sich dabei um die Bereiche und entsprechende Fragen der neurologischen Determiniertheit, die zwischen Neurobiologie und Philosophie des Geistes diskutiert werden, um Fragen der Sozialisation, des Habitus und der lebensweltlichen Wahrnehmung in Anlehnung an Husserl oder Schütz, um die bereits angesprochenen Fragen nach der kulturelle Prägung und den Stufen der Moralentwicklung, sowie der dafür nötigen kognitiven und empathiven Entwicklung, wie sie bei Piaget, Kohlberg, Habermas, Schwickert und Hare diskutiert werden. Ohne ein zumindest partielles Entkommen dieser determinierenden Mechanismen, die unentwegt Konventionen und vermeintliche Gewissheiten produzieren und die Wahrnehmung formen, kann Mündigkeit nicht existieren.
Im Falle der neurologischen Determiniertheit stellt sich gar die Frage, ob Mündigkeit, ebenso wie der freie Wille, der zwingend dafür nötig ist, nicht als Illusion betrachtet werden müssen. In den anderen Bereichen scheint die Frage feinere Abstufungen zuzulassen. Der Grad der Mündigkeit hängt dabei maßgeblich vom Grad der angenommenen Determiniertheit ab und von der Möglichkeit, diese zu überwinden.
Weiterhin ist nach der Rolle des Wissens zu fragen, bzw. nach der Rolle formaler Bildung. Da davon auszugehen ist, das nie in allen Bereichen vollständiges Wissen vorliegen kann, ergibt sich zwangsweise eine Abhängigkeit von Experten, bzw. Fachleuten, die zu bewerten wäre. Die Komplexität der Zusammenhänge, die gekannt werden müssen, um ihnen zu entfliehen macht in vielerlei Hinsichten zu Recht ein Studium nötig. Wie sollte unter dieser Vorgabe eine Mündigkeit erreicht werden können, auf welche Kompetenzen müsste seitens der Allgemeinbildung fokussiert werden um Experten im Sinne Adornos anerkennen zu können, jedoch nicht blind Folge zu leisten?
Dabei stellt sich nicht zuletzt besonders die Frage nach dem Problem der Halbbildung, die besonders gefährlich ist, da sie vermeintlich begründete Gewissheiten produziert, die lediglich Scheinautorität besitzen und damit subjektiv Sicherheit generiert, die objektiv nicht gegeben ist. Dabei ist noch über Adorno hinauszugehen, denn jedes Wissen über eine Situation bleibt unvollständig, selektiv, wird gefiltert.
Ebenso verweist der Charakter des erst Herzustellenden der Mündigkeit darauf, dass es Unmündigkeit gibt. Dabei wäre zu fragen, ob es Minimalforderungen gibt, auf deren Grundlage das Prädikat „mündig“ zu- oder abgesprochen werden kann und ob diese hinreichend oder lediglich notwendig sind, so dass die Frage entsteht, ob es darüber hinaus weitere Abstufungen geben können muss, so dass sich ein relationaler Begriff von Mündigkeit ergeben könnte, der sich nicht zuletzt auf politische Konzepte auswirken muss.
Dabei sind auch die impliziten Begriffe, bzw. Konzepte von Personalität und Vernunft zu hinterfragen, die als Grundbedingung, nicht zuletzt auch bei Kant, gelten. Inwiefern sind diese berechtigt Grundbedingungen zu sein und wie gestaltet sich das Spannungsfeld zwischen metaphysischer Grundlegung und empirischer? Besonders der Begriff der Vernunft und seine Absolutheit oder Relativität sind dabei zentral.
Im Zuge einer graduellen Abstufung, die sich aus dem Vernunftbegriff ergeben könnten aber auch generell die Problematik von Bedingungen betreffend, stellt sich zudem zwangsläufig die Frage nach der epistemischen Gewichtung von Meinungen, die besonders in politischer Hinsicht noch einmal als Frage auftauchen wird.
Auch die neuere Emotionsforschung muss berücksichtigt werden. Folgt man deren Ergebnissen, so sind Emotionen wichtiger Bestandteil praktisch aller kognitiven Prozesse, so dass es nicht wie in rationalen Handlungstheorien um ein Unterdrücken und Kontrollieren von Emotionen gehen kann, um „vernünftiges“ und reflektiertes Denken zu ermöglichen. Vielmehr müssen Emotionen als unentbehrlich gedacht werden und als solches anerkannt werden. Dabei stellt sich das Problem, dass auch diese gesellschaftlichen Regeln unterliegen und so unbewusst das Denken beeinflussen.22 Als wichtiger Bestandteil müssen also die „richtigen“ Emotionen ausgewählt werden und der Prozess des Denkens und der Filterung von Informationen müsste selbst ständig überwacht werden, hält man am bisherigen Konzept fest.

Nicht zuletzt ergibt sich aus der Mündigkeit als Haltung, bzw. Meinungsbildungs- oder Erkenntnisprozess noch nichts in Bezug auf das praktische Handeln. Mündiges Handeln, also ein Handeln aufgrund geprüfter, universeller, in dieser Hinsicht vernünftiger und nicht bloß lebensweltlich relevanter Gründe23, stellt das mündige Individuum vor weitere Aufgaben. Der Mündigkeit als epistemischem Konzept muss also eine Handlungskonzept zur Seite gestellt werden. Dieses muss auf das von Adorno genannte Problem, denn ein solches stellt es dar, der Lösung aus der Lebenswelt und deren Wiedereintritt einzugehen imstande sein. Wie kann also ein mündiges Handeln, dass ein unabhängiges sein soll, mit den faktisch vorhanden zum Teil asymmetrischen Abhängigkeiten in der Lebenswelt in Einklang gebracht werden? Dabei stellt sich ebenso die Frage nach der Einlösung von Geltungsansprüche mündiger Personen gegenüber nichtmündiger und der Gesellschaft insgesamt.
Damit ebenso im Zusammenhang, jedoch auch unabhängig davon stellt sich das Problem der Willensschwäche und ihr Einfluss auf mündiges Handeln.
Dies sind nur einige der Fragen, die sich aus dem Konzept ergeben.

Anhand dieser vornehmlich theoretischen Fragen ergeben sich eine Reihe praktischer, die sich besonders im Bereich der Politischen Philosophie und Politischen Theorie bewegen.
Es ist davon auszugehen, dass eine kritische Beschäftigung mit dem Konzept der Mündigkeit dazu führen kann, dass die bisherige Handhabung nicht den Erfordernissen entspricht. Nicht zuletzt die real-politische Bindung des Mündigkeitsstatus an den Eintritt ins 18. Lebensjahr, dass die Grundlage für bestimmte Formen politischer Partizipation darstellt, wäre auf die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Im Zuge dessen wären politische Konzepte zu betrachten, die implizit mit stärker relationalen statt postulierten Mündigkeitbegriffen arbeiten. Eine kurze Skizzierung auch dieser Problematik soll nun folgen.

3. Politische Implikationen

Demokratie, wie sie allgemein verstanden wird, basiert auf Vertragstheorien, deren Kern ein Zusammenschluss aus in ihren Fähigkeiten gleichen und unabhängigen Personen ist, die somit in einem groben Sinne mündig genannt werden könnten. Das derartige Theorien allerdings Probleme haben den realen Asymmetrien und Abhängigkeiten, beispielsweise bezüglich Kinder, geistig Beeinträchtigten und nichtmenschlichen Tieren, Rechnung zu tragen, darauf hat jüngst Martha Nussbaum in ihrer Auseinandersetzung mit Rawls hingewiesen und dessen Theorie entsprechend um ihren Fähigkeitenansatz erweitert.24 Eine kritische Betrachtung des Konzepts der Mündigkeit könnte jedoch notwendig darüber hinaus führen, besonders, wenn diese Betrachtung zu einer relationalen Neuformulierung führt. Selbst auch bei der Annahme von Grundbedingungen der Mündigkeit wäre zu fragen, inwieweit einem möglichen epistemischen Mehrwert, der sich aus einer stärkeren Lösung aus der eigenen Lebenswelt, bzw. einer stärker unperspektivischen Betrachtung der jeweiligen Probleme durch das entsprechende Individuum ergibt, politisch Rechnung getragen werden soll und muss. Wie gewichtet sich politisch also eine graduell höhere Form von Mündigkeit, eine in diesem Sinne „freiere“ Meinung?
Diese Frage stellt sich sowohl wenn sich die Sollgeltung politischer Normen aus dem Mehrheitswillen generiert, in diesem Fall kommt ein Bürger seinem Willen näher, je mündiger er ist, als auch, wenn sich die Sollgeltung auf dem was „gerecht“, „gut“ oder „moralisch richtig“ ist gründet, da die Erkenntnis dessen nur denen zufällt, die über Selbstreflektion und eine möglichst hohes Maß an moralischer Reife verfügen.
Dabei sind im Zuge einer solchen Betrachtung erneut die zentralen Begriffe „Vernunft“ und „Person“ zu hinterfragen, diesmal jedoch das politische Verständnis betreffend und damit den Zusammenhang als Bedingung für politische Mündigkeit oder anders ausgedrückt, als Grundlage politischer Partizipation (auch in Bezug auf eine Mehrstufigkeit).25
Besonders das Hinterfragen bestehender Konventionen als Teil der Mündigkeit spielt politisch eine wichtige Rolle. Eine unreflektierte Übernahme dieser verhindert oft (moralischen) Fortschritt und kann Ungerechtigkeiten (re)produzieren. Wie soll aber einem beständigen Hinterfragen Rechnung getragen werden, wie kann dies politisch verankert sein und auch hier die Frage, wie sich höhere Mündigkeit zu einer numerischen Mehrheit ins Verhältnis setzen soll.

Politische Konzepte, die einer ungleich vorhandenen Mündigkeit Rechnung zu tragen versuchen, werden dabei bereits seit der Antike diskutiert. Prominentester Vertreter ist dabei wohl die platonische Epistokratie. Im Zentrum stehen dabei Überlegungen, die sich auch aus den hier aufgeworfenen Fragen ergeben. Dabei wird im Sinne eine an den Konsequenzen orientierten Politik besonders der epistemische Mehrwert von Weisheit herausgestellt, die nicht zuletzt Mündigkeit als notwendige Bedingung voraussetzt. Ähnliches gilt für John Stuart Mill und seine scholastokratischen Überlegungen, die auf die Frage nach der Feststellbarkeit besonders auf Bildung und ein daran gemessenes ungleiches Wahlrecht fokussieren26, dass jüngst von David Estlund27 kritisiert wurde. Mill spricht besonders eine schichtspezifische Determination als Grundlage dieses Wahlrechts an, die für ihn bisher nur unzureichend aufgebrochen werden konnte und direkt relevant für Mündigkeit zu sein scheint. Nicht zuletzt versuchen auch Modelle deliberativer Demokratien durch den Zwang des besseren Arguments und ihre implizite Bevorteilung „gebildeter“ Schichten einem etwaigen Mangel an Mündigkeit politisch entgegen zu wirken.
Somit ergeben sich weitreichende Fragen und Konsequenzen der praktischen Philosophie durch eine systematische Konzeption, bzw. Theorie der Mündigkeit.

Fazit

Es bleibt festzuhalten, dass Mündigkeit als etwas Herzustellendes darin besteht, als Individuum in seiner Meinungsbildung weitestgehend autonom von äußeren Einflüssen, wie auch innere Zwängen zu sein. Kritische (Selbst-)Reflektion bildet somit den Kern, die das beständige Hinterfragen der Sollgeltung von Werten und Wissen beinhaltet. Dies bedeutet, die Gemachtheit von allem, auch des eigenen Selbst und des Lebensentwurfs anzuerkennen und auf diese zu reagieren. Mündigkeit ist damit auch Selbstkontextualisierung.
Zum mündigen Denken muss notwendig mündiges Handeln hinzutreten. Mündigkeit könnte somit in Anlehnung an Adorno und Schwickert darin bestehen, aus der Lebenswelt, ja aus sich selbst herauszutreten, eine unperspektivische Haltung einzunehmen und daraufhin erneut in die Lebenswelt einzutreten und diese durch neues Wissen und neue Werte zu prägen. Die Fragen, die sich notwendig stellen sind jene nach den Hindernissen auf diesem Weg, den Determinanten und nötigen Fähigkeiten. Damit werden eine ganze Reihe philosophischer aber auch anderer Fachrichtungen angesprochen, die sich den Problemen annehmen müssen. Die Antworten auf diese Fragen und vor allem die Möglichkeit eines den Gegebenheiten gerechter werdenden relationalen Mündigkeitskonzept müssen zudem ihre Spuren in der Betrachtung politischer Prozesse und Legitimation hinterlassen.
Eine Beschäftigung mit diesem Thema scheint also nicht nur nötig, sondern in vielerlei Hinsicht, theoretisch, wie auch praktisch, relevant.

Literatur

Becker, Helmut (Hrsg.):: Theodor W. Adorno. Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main 1971.

Comperz, Theodor (Hrsg.): John Stuart Mill's Gesammelte Werke, Achter Band, Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung, Leipzig 1873.

De Sousa, Ronald: Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt am Main 2001.

Estlund, David: „Why Not Epistocracy?“, in: Reshotko, Naomi (Hrsg.): Desire, Identity and Existence: Essays in honor of T.M. Penner, Toronto 2003, S. 53-69.

Habermas, Jürgen: Gerechtigkeit und Solidarität, in: Edelstein, Wolfgang; Nunner-Winkler, Gertrud: Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt 1986, sowie Kohlberg, Lawrence: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt am Main 1974.

Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.

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Massing, Peter: Politische Bildung, in: Richter, Dagmar/ Weißeno, Georg (Hrsg.): Lexikon der politischen Bildung. Band 1: Didaktik und Schule, Schwalbach 1999.

Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010. Insb. das I. Kapitel.

Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt am Main 1973.

Schwickert, Eva-Maria: Feminismus und Gerechtigkeit. Über eine Ethik von Verantwortung und Diskurs, Berlin 2000.

Tiedemann, Rolf (Hrsg.): Adorno, Theodor W. Gesammelte Schriften. Band 10.2, Frankfurt am Main 1997.

Von Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2009.

1Vgl. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481-494.
2Adorno, S. 43.
3Das verdinglichte Bewusstsein wird beschrieben als unheilvoller Bewusstseinszustand, der das „So-Sein“ fälschlich als Natur und nicht für etwas Gewordenes hält. Vgl. Adorno, S. 99 und S. 141.
4Dabei ist es für Adorno wichtig, besonders auch auf die hinderlichen Konventionen, die Kontrollen der Wissenschaft hinzuweisen, auch diese gilt es zu überwinden. Adorno, S. 44f.
5Vgl. Adorno, S. 109.
6Vgl. Adorno, S. 44.
7Vgl. Adorno, S. 139.
8Vgl. Adorno, S. 140.
9Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt am Main 1973.
10Kohlberg, Lawrence; Dwirght, R.Boyd, Levine, Charles: Die Wiederkehr der sechsten Stufe. Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral. In: Zur Bestimmung der Moral. Hrsg. v. G. Edelstein, Nunner-Winkler. Frankfurt 1986, sowie Kohlbergm Lawrence: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt am Main 1974.
11Habermas, Jürgen: Gerechtigkeit und Solidarität. In: Zur Bestimmung der Moral. A.a.O. 219-303.
12Schwickert, Eva-Maria: Feminismus und Gerechtigkeit. Über eine Ethik von Verantwortung und Diskurs, Berlin 2000.
13Adorno: Kritik. In: Gesammelte Schriften. Band 10.2, S. 785.
14Vgl. Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.
15Vgl. Adorno, S. 144.
16Massing, Peter: Politische Bildung. In: Richter, Dagmar/ Weißeno, Georg (Hrsg.): Lexikon der politischen Bildung. Band 1: Didaktik und Schule, Schwalbach 1999, S. 186.
17Vgl. Adorno, S. 44f.
18Vgl. dazu auch Adorno, S. 123. Die bestehende Ordnung erzeugt immer auch Akte der Barbarei und etablierte Mächte, deren Gewalt nur diejenigen spüren, die sich dieser verweigern.
19Vgl. Adorno, S. 57.
20Adorno, S. 90.
21Vgl. Adorno, S. 107.
22Zur Rolle der Emotionen im Denken und Handeln siehe von Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2009.
23Mit dieser Begrifflichkeit soll noch einmal der Unterschied zwischen Gründen und Argumenten, zwischen bloßer Rationalität (die ausdrücklich auch ein Handeln anhand von Emotionen einschließen kann) und Vernünftigkeit benannt werden. Persönliche (oder auch kulturelle) Gründe für Handlungen sind höchst subjektiv und können damit nur begrenzt als Sollens- und damit Handlungsgrundlage benutzt werden. Erst im Prozess einer kritischen Prüfung, die auch von persönlichen Gründen als handlungsanleitende Elemente abstrahieren muss, kann ein „echtes“ Sollen oder im hier relevanten Sinne ein „mündiger“ Handlungsgrund geschaffen werden. In dieser Prüfung werden Argumente gebildet, von denen dann ihrerseits einige dieser als handlungsanleitende Gründe angenommen werden, die neue Intuitionen, Gründe oder Emotionen bilden. Eigentliche Grundlage für das Sollen bilden, auch im Sinne der Universalisierbarkeit und auch, wenn es im Alltag anders erscheint, aber weiterhin die Argumente und nicht die persönlichen Gründe. Erstere sind überprüfte, reflektierte und objektive Ideen und Sachverhalte, die aber nicht handlungsanleitend sind, solang sie nicht in die Lebenswelt und deren Bedingungen einbeziehend als persönliche Gründe übersetzt werden. Eine solche Prüfung und Übersetzung sollte die Grundlage mündigen Handelns sein. Mit dieser Überlegung wird zugleich das Problem der lebensweltlichen Abhängigkeiten und deren Relevanz für das Handeln angesprochen. Auch Schwickert spricht dieses Problem in Form der Verantwortung für Handeln unter Berücksichtigung der Beschaffenheit der Gesellschaft und der Moral als Telos in der 8. Stufe ihrer Moralentwicklung an. Vgl. Schwickert, u.a. S. 186f.
24Vgl. Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010. Insb. das I. Kapitel.
25Vgl. dazu auch Nussbaum, S. 186ff.
26Comperz, Theodor (Hrsg.): John Stuart Mill's Gesammelte Werke, Achter Band, Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung, Leipzig 1873.
27Estlund, David: „Why Not Epistocracy?“, in: Reshotko, Naomi (Hrsg.): Desire, Identity and Existence: Essays in honor of T.M. Penner, Toronto 2003, S. 53-69.