Sonntag, 1. Dezember 2013

Erlebbare Geschichte - erste Gedanken zu Hintergründen und zentralen Kategorien

Vergangenheit hat Konjunktur. Freilich gilt dies nachwievor nicht für den Geschichtsunterricht, der eher mit Kürzungen von staatlicher Seite und der Langeweile, die er bei den Schülern immer nochhervorruft, zu kämpfen hat. Das Interesse an Geschichte zeigt sich an anderen Stellen. So erfreut
sich eine bestimmte Form (oder eigentlich genauer bestimmte Formen) der Beschäftigung mit Geschichte als Hobby seit den 1970er Jahren eines bemerkenswerten Aufschwungs. Die Rede ist von Living History (im Deutschen oft als "Erlebbare Geschichte" übersetzt), Reeactment und Reenlarpment und ihren verschiedenen Ausprägungen und Interpretationen, die wohl die wichtigsten Spielarten der Beschäftigung, Aneignung und Vermittlung von Geschichte in darstellender Form durch Laien beschreiben. Trotz ihrer Verschiedenheit, sowohl untereinander, als auch innerhalb ihrer Definitionen, handelt es sich dabei um Formen der erlebnisorientierten, sinnlichen, affektorientierten und performativen Aneignung und Vermittlung. Die so entstehende Geschichtskultur beansprucht zudem von ihren Akteuren eine spezifische, jedoch ernsthafte und quellenorientierte Beschäftigung und Aufarbeitung historischer Sachverhalte. Dabei existiert allerdings eine große Bandbreite an qualitativ unterschiedlichen Ausprägungen, basierend vor allem auf gegenseitigen Bewertungen aufgrund unterschiedlicher Wertmaßstäbe und Definitionen von "Authentizität", sowohl des Dargestellten, als auch zum Teil des Erlebten, des direkten Erfahrens bestimmter Kulturtechniken und Anwendungen, dem historischer Erkenntniswert zugesprochen wird.
Ein wichtiges, gemeinsames Merkmal dieser Formen ist, dass es sich dabei um eine Beschäftigung außerhalb "klassischer" institutionalisierter Bildungseinrichtung handelt. Allerdings bedienen sich auch diese "klassischen", anerkannten Institutionen historischer Forschung und Vermittlung zunehmend dieser Formen, um einem anscheinend recht breiten Interesse an erlebnisorientierter Vermittlung von Geschichte gerecht zu werden. Je nach Fokus der einzelnen darstellenden Akteure ergibt sich daraus eine mehr oder weniger starke Wechselwirkung, die sich jedoch vor allem auf einen bestimmten Teil der "Szene" beschränkt, der sich nach eigenen Maßstäben als besonders engagiert und wissenschaftlich arbeitend definiert.
Auf all diese Unterschiede müssen Untersuchungen zwingend achten, denn genau genommen handelt es sich um mehrere Hobbys und nicht um eins. Dies zu ignorieren würde zwangsläufig zu falschen Einschätzungen führen.
Das wachsende Interesse sowohl von Seiten der Darsteller, als auch von Seiten der Rezipienten an diesen spezifischen Formen ist nun Grund genug, sich eingehender mit diesem Phänomen zu befassen.
Nicht zuletzt aufgrund meines eigenen Engagements und meiner "Zwischenrolle" als Living History-Akteur und Historiker, gilt mein Interesse diesem Phänomenbereich. Mein Interesse richtet sich dabei vor allem auf die Hintergründen, Grundlagen, Geschlechter- und Rollenkonstruktionen, den Motivationen und der Ausarbeitung einer geeigneten Didaktik "Erlebbarer Geschichte" unter der Neuen Kulturgeschichte als Leitdisziplin.
Im Laufe der Zeit werde ich einige Auszüge meiner Beschäftigung mit diesen Themen hier veröffentlichen. Den Anfang macht eine kurze Auseinandersetzung mit den Hintergründen dieses "Hobbys", sowie mit einer der Kernkategorien dieser Vermittlungs- und Beschäftigungsform mit zu Geschichte(n) verdichteter Vergangenheit.

Erlebbare Geschichte als bedürfnisorientierte Aneignung von Vergangenheit

Aneignung von Vergangenheit als Geschichte oder besser, als sinnlich erlebbarer Geschichte bedient und über ein Sendungsbewusstsein die Ergebnisse dieser Aneignung weitergeben wollen.
Diese Formen der Aneignung sollen als "subkulturelle Kolonialisierung (scheinbar) brachliegender Sinnprovinzen" verstanden werden.* Sie erfüllen damit ein Bedürfnis nach Deutung von Vergangenheit, die auf anderem Wege scheinbar nicht oder unzureichend vorgenommen und oder vermittelt wird, sowie den Bedürfnissen, Sehnsüchten und Vorstellungen der sich dieser Formen Bedienenden und deren Rezipienten nicht gerecht zu werden scheint.
Was ist damit gemeint? Wie kommt es zu dieser Form der Aneignung, was sind deren Bedingungen und Triebkräfte? Im Folgenden sollen einiger erste Thesen vorgestellt werden.

Allen kulturellen Wesen zu eigen, ist das Bedürfnis, die Welt und ihre Erscheinungen mittels Symbolsystemen sinnhaft zu deuten und damit zugleich der Sinnlosigkeit und des Chaos zu entgehen. Diese Deutungen sind zudem Ressourcen für das Selbst- und Weltbild, für Identitäten, Gewissheiten und damit Sicherheit, sie machen überhaupt erst handlungsfähig, in dem sie oftmals schwer fassbare Kausalketten begreifbar machen oder jene imaginär erschaffen. Deutungen sorgen zudem dafür, Sehnsüchte und Bedürfnisse in die scheinbar natürliche Welt zu integrieren und damit legitimieren zu können.
Die Deutung von Vergangenheit ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Vergangenheit wird immer in Form von sinnhaften Erzählungen vermittelt und erst so zur Geschichte. Diese wiederum is sowohl Quelle für Identitäten, politische, religiöse und soziale Legitimation, Philosophien und kann selbst Entwürfe der Zukunft in sich tragen.
Nach dieser Sichtweise sagt uns Geschichte wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen (sollen).
Zumindest sind dies scheinbar Ansprüche, die besonders außerhalb akademischer Beschäftigung (nicht zuletzt auch seitens der Politik) an diese gestellt werden und die besonders in älteren Geschichtsphilosophien und ihren Großen Erzählungen zu Tage treten.
Der Reiz dieser Erzählungen in der Rezeption liegt vor allem darin, dass sie leicht anzueignen sind und eine einfache (Ein)Ordnung in und von der Welt erlauben. In zunehmenden Maße wurden diese doch besonders in der akademischen Welt verdrängt und durch komplexere Kontruktionen von Geschichte ersetzt.
Diese einfacher zu rezipierenden Erzählungen als Geschichte sind für viele heutige Darsteller auch die erste Erfahrung im intensiveren Umgang mit Geschichte (die über die eigene hinaus geht), da diese oftmals immer noch in der Schule gelehrt werden. Auf diesem Wege werden bestimmte Formen der Strukturierung von Geschichte und deren Aneignung erlernt die außerhalb akademischer Geschichtswissenschaft selten überwunden werden.
Zwar werden gerade die Bereiche, mit denen sich die hier untersuchte Kategorie darstellender Geschichtsinterpretation beschäftigt noch immer in der Schule vernachlässigt, jedoch besteht die sehr reale Gefahr, auch an neue Themen und deren Erarbeitung die erlernten Strukturierungen und Interpretationen anzuwenden.
Die starke persönliche Identifikation bietende Alltagsgeschichte, in denen sich die meisten Darstellungen abspielen (wollen) werden so unter genau diesem Aspekt angeeignet, als sinnhafte, große Erzählung, die auf bestimmte, noch zu untersuchende Punkte fokussiert und die Aneignung von Geschichte als Möglichkeit der Identitätsfindung nutzt, bei gleichzeitiger Offenheit für Sehnsüchte und Bedürfnisse. Dieser Raum ergibt sich dabei aus der Vernachlässigung dieser Themenbereiche und so weitaus offener für Deutungen außerhalb der Fachwissenschaft scheinen. Die wenig spannende Geschichte, die lange auf Politik- und Wirtschafts-, teils auf Ideen- und wenig auf Sozialgeschichte setzte, jedoch durch große sinnhafte Erzählungen die Identitätsstiftung beförderte und so Geschichte nicht selten auch vereinfachte (wohl auch zu sehr vereinfachte oder besser vereinheitlichte), konnte sich so einerseits als erlerntes Ideal wie Geschichten zu konstruieren seien setzen, als auch Raum lassen, um sich brachliegenden Bereichen zu widmen, die ungleich spannender erschienen.
Zwar bricht die Neue Kulturgeschichte, die auch langsam Einzug in den Unterricht an Schulen hält, mit vielen dieser Erzählungen alten Typs, sie verkompliziert Geschichte jedoch scheinbar und tatsächlich und stattet sie mit einer größeren deuterischen Vielheit aus, die in der wissenschaftsfremden Rezeption bis zur Willkür erscheint. Damit verliert sie nicht nur scheinbar an Legitimität und ihres Deutungsmonopols, sondern sie öffnet aufgrund ihrer schweren Verständlichkeit alternativen Deutungen die Möglichkeit, sich festzusetzen. Besonders letztere vermögen Sehnsüchte, wie auch Bedürfnisse nach Einfachheit, Sicherheit und Identität besser zu erfüllen. Gerade der Wegfall “großer, einheitlicher, sinnvoller Erzählungen”, die relativ leicht Identitäten erlauben, Sinn und Ziel geben und nicht zuletzt vergleichbar “leicht” anzueignen sind, hat eine große Lücke hinterlassen. Die fortwährende Dekonstruktion der Sicherheit und Gewissheit versprechenden Erzählungen in der postmodernen Wissenschaft ohne die Vermittlung neuer Identitätsschablonen, hat für große Verunsicherungen gesorgt, für eben jenes scheinbare Chaos, dem zu entgehen kulturelle Wesen bestrebt sind.
Die Ablehnung der Fachwissenschaft ist jedoch ebenso bei den Akteuren zu sehen, die für sich einen hohen Grad an Quellenorientierung, Authentizität und wissenschaftliche Methodik beanspruchen. Dabei geht diese Ablehnung jedoch über jene weniger auf diese Werte setzende Akteure hinaus. Dies gilt jedoch vor allem für die Geschichtswissenschaft, die einen anderen Status als die Archäologie einzunehmen scheint. Letztere ist dabei eher als die Leitwissenschaft vieler Living History Ansätze zu betrachten. Die Geschichtswissenschaft wir hierbei nicht nur aufgrund ihrer Komplexität und Dekonstruktionsleistung abgelehnt, sondern auch, um die eigene Expertise zu legitimieren. Dazu trägt die oft latente bis offene Fixierung auf Sachkultur (im Gegensatz zur Materiellen Kultur, die die sozio-kulturelle Ebene der Gegenstände weit stärker in den Fokus nimmt) und/oder vor allem Arbeitsabläufe als Kulturtechniken (die jedoch oftmals ihrem Kontext und damit ihrem Bedeutungsnetzwerk enthoben und verzerrt sind) bei, die scheinbar besser konkret verwertbare und vermittelbare Ergebnisse liefern. Besonders in dem Bereich der handwerklichen und konkret physischen Eigenschaften der Sachkultur ist erstaunliches Fachwissen vorhanden, was jedoch dazu zu führen scheint, andere Bereiche Materieller Kultur zu vernachlässigen, so dass sich das Erleben der Geschichte auf wenige Ausschnitte modernen Erlebens historischer Gegenstände und Handwerkstechniken reduziert, was gewisse nicht gegenstandsbezogene Bedürfnisse zu befriedigen scheint und woraus sich spezielle Geschichtsbilder zu einer spezifischen Geschichtskultur verdichten, die im Gegensatz zur Fachwissenschaft vor allem erkenntnistheoretische Probleme gänzlich zu vernachlässigen scheint.
Bis hierher bedeutet dies zusammengefasst, dass in der Schule nachwievor weitgehend bestimmte Formen der Geschichtsinterpretation erlernt werden, die auf Identitätsstiftung und große Erzählungen hinauslaufen. Da die Themen immer noch eher fern der Interessen sind, eröffnen sich Räume für die eigene Beschäftigung mit Geschichte, von denen eine Form die der darstellenden Geschichtsinterpretation ist, die auf Alltagsgeschichte fokussiert und das Erleben als eine quasi ahistorische zentrale Kategorien setzt. Die Neue Kulturgeschichte kann ihre Interpretationen der Alltagsgeschichte nur schwer vermitteln, was nicht zuletzt an ihrer tatsächlichen Komplexität liegt. Die Vielheit der Deutungen wird nicht zuletzt als Legitimation eigener Interpretationen genutzt, um so eigene Refugien des oftmals sehr speziellen Wissens zu schaffen.

Das Erleben in "Erlebbarer Geschichte" als erkenntnistheoretisches und praktisches Problem – ein Problemaufriss

Eines der grundsätzlich zu thematisierenden Probleme im Living History als Vermittlungsweg vergangener Lebenswelten kann die unreflektierte oder gar zum Zwecke des Erkenntnisgewinns genutzte Kategorie der Erfahrung, bzw. des Erlebens sein. Das Problem ist dabei zweierlei Art und besteht zum Einen in einer Mangelerfahrung und zum Anderen in einer Übererfahrung.
Die Mangelerfahrung besteht darin, dass nur wenige Bereiche der Lebenswelt durch Erfahrung zugänglich gemacht werden und wird verstärkt dadurch, dass auch diese letztlich modern erfahren werden, also durch moderne Vorerfahrungen, Deutungsmuster, Interpretationsschemata, Seh- und Empfindungsmöglichkeiten geprägt sind damit nur die Erfahrung eines konkreten Ausschnitts, losgerissen von seinem weiteren semantischen Gehalt und Erfahrungshorizont mit modern sozialisierten (neben den modern-biographischen) Seh- und Deutungsgewohnheiten wiedergeben.
Zum Anderen herrscht ein Erfahrungsüberhang vor, der darin besteht, dass in dem Erfahren der verschiedenen Situationen keine historisch bedingte Unterscheidung der Lebenswelten vorgenommen wird, also grundlegend verschiedene Lebenswelten erfahren werden, die den Zeitgenossen bestimmter sozialer Schichten, usw. Versperrt geblieben sind. Freilich sind auch diese letztlich modern erlebt.
Damit führt die Kategorie der Erfahrung als vermeintliches Erkenntnisinstrument über falsche Projektionen und einer scheinbaren Ahistorizität dieser Kategorie zu problematischen Geschichtsbildern und sollte daher zugunsten einer reflektierten Beschäftigung mit der Konstitution und Konstruktion von Wahrnehmung und einer Betrachtung von außen weichen, die nicht das Erleben in der Vordergrund stellt, sondern das verdeutlichende Anschauen und das Problematisieren des Gesehenen, wie des Sehens (und aller weiteren, beteiligten Wahrnehmungsapparate) fördert.
Die Ausklammerung des Erlebens als historisches Erkenntnismittel gehört somit ebenso zu den Grundlagen, die eine Didaktik der (auch zwangsweise unter anderem Namen zu etablierenden) "Erlebbaren Geschichte" als Vermittlungsinstrument, beachten muss.

*Der Begriff geht auf Jüdt und seine Untersuchung der Paläoastronautik zurück. Vgl. Jüdt, Ingbert: Aliens im kulturellen Gedächtnis? Die projektive Rekonstruktion der Vergangenheit im Diskurs der Präastronautik, S. 97ff, in: Engelbrecht, Martin; Schetsche, Michael (Hrsg.): Von Menschen und Außerirdischen, Bielefeld 2008, S. 81-104.

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