Dienstag, 17. Juni 2014

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele VI

Ein weiteres Problem der Arbeitswelt ist es, dass Arbeitgeber nur allzugern eine Verhaltensweise aufgrund ihrer unreflektierten Vorstellungen bei einem Arbeitnehmer als deviantes Verhalten wahrnehmen und es zugleich zum Problem selbst erklären, wobei dies in der Regel allenfalls ein Symptom ist, um dann darauf aus strukturellen Machtgefügen heraus mit Mitteln sanktionierend eingreifen, die zwangsweise weder das Problem, noch das Symptom bekämpfen können, sondern es allenfalls in dem ewigwährenden Aushandlungsprozess von Herrschaft, den sie nicht mal ansatzweise verstehen oder auch nur erkennen zu neuen Formen der Devianz transformieren. Die Frage ist nicht, was macht der Arbeitnehmer "falsch", sondern warum nehme ich seine Handlungen auf eine bestimmte Weise wahr und warum tut er dies. Die Lösung kann folglich nur in einem wechselseitigen Dialog bestehen, der zugleich zwangsweise die Voraussetzung ist, um überhaupt festzustellen, wo "das Problem" liegt, in einer Ausübung von Herrschaft als dessen was sie implizit ist, ein Aushandlungsprozess, der mehr Devianzen produziert, je stärker mit Machtmitteln hantiert wird, deren Wirkung und Zielrichtung nicht verstanden wird. Das war bisher geschieht gleicht dem Bild eines Arztes, der im Wartezimmer ein Husten wahrnimmt, dies zur Krankheit erklärt ohne den vermeintlichen Patienten zu befragen oder der Ursache auf den Grund zu gehen und einfach bitteres Hustenmittel mit der Macht seiner Autorität und ohne weitere Erklärung als Lösung verabreicht. Was daraus entsteht ist keine Heilung, es die Bekämpfung eines Symptoms, welches nicht mal eines sein muss. In diesem Beispiel würden wir, die Krankenkassen und vielleicht auch andere intervenieren, im Arbeitsleben aber lassen wir diese Perversion und Dummheit jeden Tag zu...

Herrschaft ist ein Aushandlungsprozess. Diese Erkenntnis, die in den Sozial- und Geisteswissenschaften schon seit geraumer Zeit verbreitet ist, scheint jedoch in den alltäglichen Wirklichkeit noch nicht angekommen zu sein.
Weiter wird im Recht, in der Gesellschaft und nicht zuletzt in einem wichtigen Teilbereich, der Arbeit, mit Herrschaft als auf gesetzter Macht basierend hantiert, deren Auswirkungen folglich immer scheinbar "aus dem Nichts" zu kommen scheinen.
Wo vermeintliche Macht starre Strukturen setzt, die den Aushandlungsprozess in ihrer Schaffung negieren (von der Willkürlichkeit basierend auf willkürlichen Wirklichkeitskonstruktionen mal ganz abgesehen), da schaffen sich die Strukturen neu. Die Devianz spielt ihr Spiel. Die Strukturen werden gebogen, umgangen, angeeignet und verändert und zuletzt richten sich starre Strukturen immer gegen das System, das sie geschaffen hat.
Als Bollwerk gegen diesen Starrsinn stehen das kritische Fühlen und das kritische Denken. Ein Individuum, dem eins zu eigen ist, muss Feind des Starrsinns sein.
Setze einem solchen Individuum starre Konventionen ohne Verstand entgegen und es wird zerstören, sich selbst oder das System. Da beide Wege offen sind, müssen wir, um die Fragilität der Störung nicht zu gefährden, alle zu solchen Individuen werden, das kritischen Denken und Fühlen leben lernen.

Selbst die besten Definitionen von Bildung im Sinne von Bildung als Ausbildung des kritischen Denkens übersieht einen zentralen Faktor der letztlich seine Grundlage ausmacht und krankt immer noch an der unreflektierten Dichotomisierung von Vernunft und Gefühl bei Geringschätzung von Letzterem. Demgegenüber muss Bildung auch zur Ausbildung eines kritischen Fühlens führen. Es ist das Fühlen, das unser Handeln aber auch unser Denken in erster Instanz bestimmt, ohne eine Ausbildung des Fühlens bleibt eine Ausbildung des Denkens wirkungslos, ohne Empathie und Bewertungskompetenz des eigenen Fühlens muss das Denken im Bestehenden gefangen bleiben, in der Reproduktion, im Schein des Seienden. Das Fühlen ist es, dass allererst Bedeutung generiert, den Blick auf Eigenes und Anderes lenkt und ihn bestimmt und das Fühlen ist ebenso erlent wie Wissensbestände, Vorstellungen und Handlungsmuster. Das Fühlen ist niemals trivial und sollte niemals so betrachtet werden.

Das (A)andere (s)Sprechen erscheint oft als negativ, auf das Schlechte fokussierend aber das (A)andere (s)Sprechen ist nicht das Gebot, es ist nicht Jesus, der gekommen ist die Welt aus sich selbst heraus zu retten. Das (A)andere (s)Sprechen ist der Teufel als Spiegel, der der Menschheit ihr hässliches Wesen zeigt. Es liegt an ihr, wie sie reagiert. Sie kann den Spiegel wütend zerschlagen, um ihre Fratze nicht mehr ertragen zu müssen oder sie kann es mutig schauen, die Freude der Veränderung feiern und zusehen wie der Schrecken des Spiegels schwindet.
Verlierer sein, heisst nicht versagt zu haben, es beschreibt keine "reales Wesen" einer Person. Verlierer sein heisst, zum Verlierer gemacht worden zu sein, um damit ein Notwendiges des Systems zu schaffen, ein notwendiges Gegenüber in der Dialektik des je herrschenden Systems. Demgegenüber kann eine andere Lesart des Verlierers gesetzt werden, nicht des Gescheiterten, sondern des Nichtpassenden der hegemonialen Wirklichkeit, die diesem nur einen Platz zubilligt, den sie braucht aber nicht würdigen darf. Ein Verlierer nicht als Zwangsläufigkeit des Systemerhalts, sondern als die Möglichkeiten eines Neuen, Anderen, auf die er immer schon verweist. In der Umdeutung von Begriffen liegt Macht. Die Scham des Verlierers bestätigt das System, sein Stolz kann es zerstören...

Sonntag, 8. Juni 2014

Krankheiten einer Arbeitswelt II

Der Ausspruch "Arbeit macht keinen Spaß, sonst hieße es ja Spaß und nicht Arbeit", sowie dessen Abwandlungen, offenbaren die Macht der Konstruktion von Wirklichkeiten, wie wir sie alle täglich vornehmen, indem dieser Ausspruch eine Wirklichkeit erst schafft im Sinne von reproduziert, die er vorgibt nur zu beschreiben.
Er ist ein gewaltsamer und totalitärer Akt, der jedwedes Andere als Möglichkeit vernichtet, zu einem Undenkbaren macht und sich selbst als einzige Alternative, als einzige "richtige" Alternative setzt.
Er ist damit zugleich ein Bewältigungsmuster einer erfahrenen Wirklichkeit am Beispiel des Arbeitnehmers, der so seine eventuelle Unzufriedenheit als persönliches und nicht strukturelles Problem fasst und es mit der implizit enthaltenden Aufforderung der Korrektur bewältigt. Damit wird einer Struktur sowohl eine "Natürlichkeit", eine "Zwangsläufigkeit" unterstellt, als auch diese von "Schuld" freigesprochen, um jene Schuld allein sich selbst aufzubürden. Damit bestätigt diese Aussage, die zugleich als Wahrnehmung im Sinne einer Interpretation des vermeintlich Vorgefundenen eine Struktur und kettet das Individuum an diese.
Diese Aussage kann aber auch bewusst strategisch eingesetzt werden, indem beispielsweise ein Arbeitgeber damit für sich eine Unmöglichkeit schafft, bestehende Strukturen zu verändern, verändern zu müssen, u.a., indem dem Fühlen des Arbeitnehmers jedewede Relevanz aufgrund einer Unabänderlichkeit abgesprochen wird. Auf diese Weise können "liebgewonnen", wunderbar "einfache" und nicht zuletzt auch ausbeuterische Strukturen Aufrecht erhalten werden.
Die Erkenntnis der Konstruktionsleistung ist der erste Schritt zum Widerstand und zur Befähigung neue, erträglichere Wirklichkeiten zu schaffen, statt sich selbst in und an bestehende zu ketten.
Gleiches gilt jedoch auch im umgekehrten Fall solch einseitger Zuschreibungen als Konstruktionen von Wirklichkeit.
Auch Aussprüche wie "Arbeit muss Spaß" machen kann ausbeuterischer und zerstörerischer Früchte tragen und zu unerträglichen Wirklichkeiten werden, indem es den Individuen abverlangt, so fühlen zu müssen. Diese zerstörerische Wirkung liegt in den Zerwürfnissen des Selbst begründet, die dadurch hervorgerufen werden. Gefühle zeigen Bewertungen an, sie sind das körperliche und kognitive Ergebnis dieser. Im Abverlangen dieses Ergebnisses, bei gleichzeitiger Nichtteilung der diesem zugrunde liegenden Wertigkeit, muss es zum Zerwürfnis des Selbst kommen, das, im schlimmsten Fall und durch kapitalistische Logiken gestützt, zu einer Selbstverurteilung führt, die sich eine eigene Schuld am Nichtfunktionieren zu eigen macht.
Um eine erträglichere Wirklichkeit zu schaffen, die weitestgehend ohne diese Totalitarismen und zerstörerischen Qualitäten auskommt, ist es nötig, dass ich alle Akteure (selbst)relfexiv bei der Schaffung des (sozialen und emotionalen) Raumes "Arbeit" einbringen und einbringen können.
Dies müssen sowohl Arbeitgeber, als auch Arbeitnehmer, sowie oftmals leider eher euphemistisch genannte "Unternehmensberater" endlich erkennen.
Dabei ist dies zugleich nur ein aber doch eben ein Punkt, warum Machtpositionen grundsätzlich durch epistokratische Richtlinien begründet sein müssen, denn nur epistemische Vorteile, verbunden mit
ethischen Richtlinien, vermögen es, diese zerstörerischen Kräfte zu bannen. Der erste Schritt besteht im Erkennen.

Donnerstag, 5. Juni 2014

Krankheiten einer Arbeitswelt

Es ist erschreckend anzusehen, dass die meisten Firmen, insbesondere was die Mitarbeiterführung angeht, noch immer in Vorstellungen des 19. Jahrhunderts gefangen zu sein scheinen und sich als totalitäres System ausbilden. Die Firma wird nicht als sozialer Raum begriffen (mit allen den blinden Flecken, die sich daraus ergeben, sowie den Unfähigkeiten bestimmte Prozesse zu erkennen oder nachhaltig gegenzusteuern), sondern als Maschine, dem die Mitarbeiter als Maschinen untergeordnet sind, was zugleich zu Ausbeutungsprozessen führt, solchen des Körpers oder solchen der Seele. Anerkennung der Mitarbeiter und nachhaltige Mitarbeiterpolitik, die nicht nur eine hohle Phrase, entsprungen dem Zeitgeist firmenpolitischer Inszenierung sind, sind kaum zu finden. Statt mit den Mitarbeitern, wird gegen sie gearbeitet, sie werden zum bloßen Funktionieren getrieben, manchmal flankiert durch undurchdachtes und floskelhaftes "Teambuilding" und andere "Motivationsspäße". Statt sich eingehender damit zu befassen (und damit auch einen Mangel zuzugeben, um ihn beheben zu können, aus Angst vor Status- und damit Autoritätsverlust), werden Sanktionen angewandt, völlig ungeachtet ihrer Konsequenzen oder auch nur eines ansatzweisen Verstehens dieser. Sanktionen produzieren letztlich fortwährend deviantes Verhalten und machen so weitere Sanktionen nötig, um das System, die Struktur am Laufen zu halten. Dabei sinkt nicht nur das produktive Potential einer Firma auf ein Minimum (es gibt keinen schlechteren Arbeiter als einen gezwungenen Sklaven), sondern es degeneriert die Firma auch in sozialer und moralischer Hinsicht hin zu einem Nullpunkt, eben zum totalitären System. Dieses Spiel läuft so lange weiter, bis die Strukturen brökeln und nicht selten die ganze Firma als unflexibles bürokratisches Moster zerstören oder bis die Mitarbeiter nach und nach zerstört werden, mit all den bekannten Folgen. Demgegenüber stellen einige Firmen einen schnellen Durchlauf, einen Verbrauch der Mitarbeiter, der nicht nur jedwede Formulierung von Nachhaltigkeit schon im Munde faulen, sondern die Firma letztlich weiter degenerieren lässt. Diese Prozesse führen letztlich zu dem Ergebnis, vor dem Geschäftsführungen eigentlich Angst empfinden, dem Verlust von Status und Autorität. Sie agieren aus Machtpositionen und nicht aus Statuspositionen heraus und können so nicht anders, als letztlich Formen sklavischer Mitarbeiter mit großem devianten oder (selbst)zerstörerischem Potential, die nur mit weiteren Sanktionen und damit Statusverlusten einhergehen, zu produzieren. Der einzige Ausweg besteht in einer ernsthaften Fokussierung auf die Statusdimensionen, die nur in einem gemeinsamen Miteinander aufgewertet werden kann.

Mittwoch, 4. Juni 2014

Gefühlsautomaten

Die zuerst durch Arlie Hochschild untersuchte "Kapitalisierung  der Gefühle" erstreckt sich auf alle Dienstleistungsbereiche und darüber hinaus.
Nicht nur FlugbegleiterInnen, sondern ebenso generell Serviceangestellte bis hin zu den oft mangelhaft bezahlten Call Center Agenten werden unter dieses Paradigma des ewig spezifischen Glücklichen gestellt, das den Profit garantieren und maximieren soll.
Sie alle werden damit Teil einer Ausbeutungspraxis mit totaler Kontrolle des Selbst, sie alle werden zu Gefühlsmaschinen, denen ein eigenes Fühlen verwehrt wird, sie alle werden in einen weiteren Abgrund des obersten Gebots des "Funktionierens" gestoßen.
Dies führt zu Entfremdungen mit dem Selbst, mit all seinen Konsequenzen für Körper und Psyche. Wenn auch gleichwohl jedes Fühlen erlernt ist, so wird in der Ausbeutung des Fühlens in der kapitalistischen Arbeitswelt jedoch jedwede Freiheit, jedwedes Andere unterbunden.
Je stärker dabei zugleich die, nicht zuletzt in perfider Weise als Drohungen gebrauchten, Ängste vor Arbeitsplatzverlust einhergehend mit sozialen Partizipations- und Anerkennungsverlust, sowie die finanziellen Nöte ins Spiel kommen oder besser, gebracht werden, umso größer werden die psychischen Verwerfungen des Selbst, muss es doch einerseits ein positives Fühlen hervorrufen und ist es doch andererseits in einer Situation permanenter Bedrohung gefangen.
Fühlen wird zum Kapital, dass genutzt werden kann, um seine Chancen zu verbessern, so könnte man positiv einwenden, die Selbstkontrolle steigert den Marktwert, jedoch gibt es keinen Raum der Freiwilligkeit, es wird gefordert und nur diejenigen, die am meisten angepasst sind und damit (Gefühle basieren prinzipiell auf Bewertungen) das System am meisten bestätigen, können ihre Fähigkeit als gewinnbringend einbringen, jedoch nur zum Preis einer Transformation ihrer Werte, ihrer Identität und ihres Privatlebens unter die Anforderungen des Marktes.
Aus der Fremdausbeutung wird so eine Selbstausbeutung, die sich einreiht und gleichberechtigt neben die Ausbeutung des Körpers stellt.
Damit zeigt sich die ganze Perfidität des Systems. So wird der (mittlerweile selbst wieder zurückgehende) Rückgang der körperlichen Ausbeutung gefeiert und als Erfolg verbucht aber letztlich mit der Ausbeutung der Seele erkauft...

Samstag, 31. Mai 2014

Kunstprozesse VI

Das Bad

Zurückgesunken in den warmen Anfang,
Eins sein, als unzerissen vor dem Beginn.
Entfliehen, einen Moment nur in die Ruhe vor dem Sturm,
Dahinzugleiten in gedankenfreier Schwerelosigkeit.
Im ewigwährenden Moment, dem Tod, der Welt, dem Selbst entrinnen.
Nur ein Moment nicht Sein noch Streben.
Äonen Leben im Davor.

Zurückgeschleudert in die Welt, ins Tosen, Hämmern, Sein.
Der Welt das Selbst zurückgegeben, zerissen nicht allein.
Die Schwere zerrt zur Schwermut, drängt zum Heben,
Des Prometheus ew'ge Wiederkehr des Ganzen.
Zurückzugeh'n heisst Sterben, das Leben nur als Schreckens-Schein.


So folgt ein Rest als Epilog, leicht erfrischt, mit Mut die Schwere überwinden,
Nicht Zwangsläufigkeit des Seins, vielmehr einem Neuen,
einem anderen Sein entgegenstreben.
Weniger Prometheus sein, denn Welterschaffer,
Zerstören und dem Leben geben, einen neuen, erträglicheren Schein.

Kunstprozesse V

"Sozialisiertes Selbst"
Die erste Ebene dieses Dreiklangs ist das Selbst vor der Gesellschaft letztlich leere Projektionsfläche, auf die das Selbst sich mit Hilfe von Kultur, Gesellschaft und Biographie in wechselseitiger Ausprägung (ab)bilden kann und zu einem Quasi-Individuum werden.
Die zweite Ebene ist in sich geteilt. Sie ist das Verstecken an Möglichkeiten hinter dem kulturellen, sozialen und biographischen Möglichen und Denkbaren einer konkreten raumzeitlichen Verortung.
Zugleich ist sie das breite Verschleiern dessen was als Selbst geworden ist, um die die dritte Ebene, die vordergründige Maske "rein" zu tragen und der konkreten Anforderung einer spezifischen Struktur zu erfüllen, eine Rolle auf der sozialen Bühne der Welt zu spielen gemäß des Erwarteten und der Sicherheit.






Donnerstag, 29. Mai 2014

Das Kreuz mit den Chromosomen



Auch das biologische Geschlecht muss letztlich als konstruiert entlarvt werden, es muss sich auflösen und damit einen Prozess zu Ende führen, den es während der Konstruktion sozialer Rollen aus ihm beschreitet, indem es sich, bei genauerer Betrachtung, selbst in diesem verliert. Es bleibt nur als oberflächlicher, willkürlicher und zur Lächerlichkeit verallgemeinerter Referenzbereich und als Symbol zurück. Als dieses muss es zerstört werden, um in diesem Zug auch die an ihm gekoppelten sozialen Rollen zu vernichten. Es muss zerstört werden, um zu zeigen, dass hinter ihm nichts liegt, nichts außer einer Willkür, in deren Anblick sich auch die sozialen Rollen auflösen.

Die Biologie als Wissenschaft, auf die als Begründung des Referenzbereichs verwiesen wird und die selbst ein Konstrukt darstellt (mit spezifischen Methoden, Gegenstandsbereichen, Fragestellungen, Wahrnehmungen), konstruiert das biologische Geschlecht mit, indem sie sich selbst beschränkend bestimmte Beobachtungen zusammenfassend als Unterschiede kategorisiert, die also eine Möglichkeit aus vielen wählt. Dies betrifft den Unterschied selbst, sowie seine Teile und Betrachtungsebenen. Auf diese Weise wird kein Unterschied der Chromosomen bestritten aber dieser Unterschied ist nicht das Geschlecht, sondern ein Teil seiner Erklärung, auf die nicht fokussiert werden muss und der sich auf anderer Ebene verflüchtigt. Er verschwindet z.B., wenn man stattdessen die Gleichheit favorisiert, wenn man anderen Ebenen betrachtet, jene, auf der Mann und Frau die gleiche Anzahl an Paaren haben oder auf der beide aus den gleichen Bestandteilen bestehen. Die Suche nach Unterschieden, die vorher bereits angenommen werden, lenken den Blick und bilden nur eine der möglichen Wirklichkeiten aus.
Mit der Wahrnehmung der Unterschiede unter dem spezifischen Blickwinkel, wird dieser Unterschied erst mit Bedeutung ausgestattet, der der Kultur nicht vorgängig ist, nicht sein kann. Auf diese Weise schafft die Biologie das Geschlecht als Unterschied, als Herausgriff aus dem Möglichen und lädt ihn mit Bedeutung auf, verdichtet das Gefundene zur Kategorie, die sie zugleich glättet, ebnet, idealisiert.
Damit wird nicht die Möglichkeit der Wahrnehmung eines Unterschieds negiert, sondern die Zwangsläufigkeit dessen, sowie seine an den Rändern immer ausfransenden und zu diesem Zweck generalisierende Konstruktion. Allein die Fokussierung und Benennung eines zum Unterschied erhobenen Andersseins, welches sich in Dichotomisierungen in den Alltag ergießt, beinhaltet bereits die Zuschreibung von Bedeutung, die der Kultur nicht vorgängig ist. Auch das biologische Geschlecht ist in erster Linie ein Wahrnehmungserlerntes.

Um den Unterschied der Chromosomen als irgendwie Existentes aufrecht zu erhalten, kann das biologische Geschlecht jedoch zerlegt werden, in seine Bestandteile als „real“ Existentes, zu dem es jedoch keinen der Kultur vorgängigen Zugang gibt und in eines, auch von der Biologie mitkonstruiertes alltägliches Wahrnehmungsmuster und vereinfachten Wissensbestand.
Gerade Letzteres ist letztlich nur ein kaum verstandener Referenzbereich, der als naturalisierte Begründung, als Letztargument der sozialen Konstruktion fungiert, um die Bedeutungen abzusichern. Bei genauerem Hinsehen entleert es sich und bleibt als Hülse zurück.

Um dies abschließend noch einmal zusammenfassend zu verdeutlichen:
Was ist der Grund, warum der Unterschied zwischen den Chromosomen (und der weiteren zur Kategorie zusammengefassten Merkmale) so bedeutend ist, dass er eine eigene Kategorie bekommt und bspw. der Unterschied in der Anzahl der Atome (Körpergröße usw.) nicht? Der Grund ist die Bedeutungszuschreibung, die sich aus der vorher bereits geschaffenen Wirklichkeit ergibt, der auch die Biologie angehört.

Ein paar Anmerkungen scheinen als Erklärung noch wichtig.
Es geht nicht darum, die Konstruktion von Wirklichkeiten, was Unterschiede und Bedeutungen einschließt, ja ihr Kern sind, als grundsätzliches Problem anzusehen. Alle kulturellen Wesen, von denen der Mensch bisher nicht das einzige aber komplexeste ist, können nicht anders, ja müssen sogar der Welt Bedeutungen  zuschreiben, Unterschiede entwickeln und festschreiben, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Das Problematische sind die konkreten Ausprägungen und deren Legitimation durch "Natürlichkeit", die selbst ein Konstrukt darstellt. Unterschiedliche Wirklichkeiten können unterschiedliche Welten schaffen, die sich  unterschiedlich auf die Wesen der Welt auswirken, sie können im ethischen Sinne besser oder schlechter sein.
Es gilt also vielmehr sowohl die Konstruiertheit von allen Elementen der Wirklichkeit aufzuzeigen, den  Wirklichkeiten einen Referenzbereich zur Bewertung zur Seite zu stellen und mit Hilfe der Dekonstruktion  "schrecklicher" oder gewaltsam hegemonioaler Wirklichkeiten oder ihrer Teile ein Tor für Neues zu öffnen.

Mit anderen Worten gesprochen:
Die Wahrheit zu töten, heisst nicht, den Menschen ins Chaos zu stürzen. Es heisst, den Menschen hin zu einer größeren Handlungsfreiheit, zu einem freieren Denken zu begleiten. Es heisst, ihn vom sozialen Zwang der  vermeintlichen Natürlichkeit allen Seins seiner Welt zu befreien. Das ist die Gabe und das Vermächtnis  konstruktivistischer Philosophie und Kunst.