Donnerstag, 15. Februar 2018

Für ein Weniger an Naturwissenschaft...

In der immer mal wieder geführten Diskussion um das Schulsystem und dessen Bildungsinhalte, taucht in letzter Zeit wieder vermehrt die Forderung nach mehr Naturwissenschaft auf. Dahinter steckt zum einen eine kapitalistische Verwertungslogik, die insbesondere den MINT-Fächern eine Vermarktbarkeit zuspricht, einen monetärer Wert, den es aus den entsprechend ausgebildeten (nicht gebildeten) Akteuren herauszuziehen gilt. Auf der anderen, der idealistischen Seite hingegen herrscht einen letztlich völlig unkritische Haltung den Naturwissenschaften gegenüber, die diese zum Heilsbringer der Post-Postmoderne, also der gegenwärtigen reaktionär-modernen Wende, verklärt.
Anstatt diese Forderung einfach zurückzuweisen, möchte ich weiter gehen und für ein Weniger an Naturwissenschaften plädieren, in dessen Zuge auch Schule weniger zur Ausbildung und mehr zu Bildung werden kann. Denn, wir fühlen, so Wittgenstein, „daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Allerdings sollte der Begriff der Wissenschaft hier vor allem als Naturwissenschaft präzisiert werden, um den Kern der Sache zu treffen. Dieses Defizit, das sich, polemisch zugespitzt, darin äußert, die Schüler*innen beispielsweise Atomgewichte berechnen zu lassen, statt zentrale menschliche Probleme zu behandeln, führt letztlich ebenso dazu, ganz entgegen der Intention der Idealisten, esoterische Weltbilder zu befördern. Nicht nur werden so die Sinnsuche und die lebensweltliche Bedürfnisse aus dem Unterricht entfernt, ganz im Sinne der Ideologie einer dem objektivistischen und rationalistischen Irrtum aufliegenden Wissenschaft, die eine Distanz des Akteurs von dem Untersuchten normativ behauptet, sondern dieses Feld wird anderen Angeboten überlassen. Diese liefern nicht nur scheinbar emotions- und bezuglose Antworten darauf, was die Welt im Innersten zusammenhält, sondern zugleich Fragen, die eben das eigene Selbst und den eigenen Alltag betreffen. Jenen Angeboten wenden sich die Akteure auch deswegen leicht zu, weil sie quasi niemals selbst als Akteure in den Blick genommen werden. Selbst- und Weltreflexion werden nicht erlernt. Dazu wäre ein Unterricht nötig, der insbesondere psychologische, soziologische, kulturwissenschaftliche, historische und philosophische Methoden reflexiver Schau ausdrücklich einübt und somit den Menschen nicht nur auf zellularer Ebene betrachtet, sondern als Wesen, das nach Sinn sucht, bestimmten Sozialisationsprozessen ausgesetzt ist und eben nicht dem immer noch aufrecht erhaltenen Ideal des rationalen Wesen entspricht. Fühlen und Denken, Körper und Habitus, Gesellschaft und Selbst müssen im Spiegel der lebensweltlichen Erfahrungen in den Blick genommen werden, um davon ausgehend die akuten Probleme unserer Welt, bestehend aus Rassismus, Sexismus, Nationalismus, usw. angehen zu können. Nur dann lassen sich letztlich auch Verteilungsprobleme und Armut lösen, denn, solange der Wille zur Ungleichverteilung vorhanden ist, kann keine technische Innovation Ungerechtigkeit auflösen. Sie kann lediglich dafür sorgen, das Problem zu verlagern.
In diesem Sinne ist der Aufruf zu weniger Naturwissenschaft zu verstehen. Nicht, weil naturwissenschaftliche Methoden und Denkweisen weniger wichtig sind, sondern weil eben nicht eine kritische Methodenschau im Fokus steht, sondern ihre Wissensbestände als Weltwissen missverstanden werden. Nicht, weil die durch diese generierten Wissensbestände keinen oder weniger Wert hätten, sondern weil sie nur einen Teil der tatsächlichen Probleme angehen können. Der Ruf nach weniger Naturwissenschaften ist daher ein Ruf nach weniger Überbetonung und nach auch schulischer Aufwertung von Sozial- und Geisteswissenschaften aber auch künstlerischen Fächern, die das Erproben von Sinnangeboten ebenso befördern können, wie sie alternative Ausdrucksweisen erproben, die nicht jener rationalistisch-sprachlichen Engführung entsprechen.
Der Ruf nach weniger Naturwissenschaften ist der Ruf nach mehr Wissenschaft allgemein und nach eine Ausbildung, die im Kern aus Bildung besteht, die sich nicht der Verwertungslogik unterwirft.

Sonntag, 5. November 2017

Zahlen, bitte!

Zahlen, bitte!

Angst, Wut, Verzweiflung, Resignation. Die Gesichter der Zahlen im Käfig der Zurichtungsstation. Hier ist man nicht zahlender Kunde, sondern als unfreiwilliger Kunde Zahl. Nicht entmenschlicht, sondern verdinglicht. Totalitarität in Reinform: Bürokratie. Einen Feind kann man hassen und doch bewundern oder ehren. Eine Entmenschlichung überleben noch der Trieb, ein Wollen, kurz: ein Wesen. Die Verdinglichung überlebt nichts als die Zahl.
Eine Zahl auf falscher Seite. Was Soll ist, muss Haben werden. Dafür ist jedes Mittel Recht. Die Zurichtung beginnt. Bedarfsanalyse. Potentialanalyse. Eine Zahl mit Fußnote. Reduziert um alles, was nicht nützt. Nicht mehr. Nur weniger. Kategorisierung.
Krankheit, Leid und Tod. Die Zahl erduldet alles. Wo nicht, ist sie zu viel. Sie wird gestutzt. Man nimmt ihr erst vielleicht nur ein Stück Schokolade, später dann das Kino. Trocken Brot. Lebensmittelmarken. Einsamkeit. Was bleibt ist nur die Existenz.
Eine Zahl kennt keine Würde. Einer Zahl gehört kein Menschenrecht.

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele XIX

Letztlich sind auch Klassen nur Konstrukte, die u.a. von der modernen Linken gern verwendet und einfach nur im Rahmen ihrer Programmatik beispielsweise rechten Konstrukten gegenübergestellt werden. Auch mit dem linken Strukturfunktionalismus wird ein kategorialer Fehler begangen, denn die Korrelationen ihrer Statistiken werden mit den Logiken der Akteure verwechselt. "Der Arbeiter" des 19. Jahrhunderts ist ein sozialstrukturgeschichtliches und politisch-ideologisches Modell, das den einzelnen Arbeiter zu seinem Spielball macht. Der Arbeiter handelt eben nicht, weil er zu jener Klasse "gehört", sondern aufgrund der lebensweltlichen Logiken, die INTERPRETATIONEN SEINER WAHRNEHMUNG BESTIMMTER FAKTOREN sind, die durch im Aneignungsprozess veränderte Muster sind, die er aus vielen Zugehörigkeiten und biografischen Erlebnissen generiert und reproduziert. Diese werden jedoch ignoriert oder Teile dieser als scheinobjektiviert den Logiken oder Modellen der Soziologen oder Politikern unterworfen. Er SOLL und MUSS so handeln, also einer bestimmten Interpretation seines Handelns entsprechen, um ein Modell zu bestätigen, das einen Mittelwert bestimmt, um die Welt zu vereinfachen oder um als homogenisierte Masse politische Verfügungsmasse für Revolutionen zu sein. Der konkrete Arbeiter ist allenfalls Mittel. Je nach Programmatik hat er dann diese oder jene Eigenschaft, die doch nur Mittelwert eines Kollektivs ist und den einzelnen Arbeiter letztlich ignoriert. Diesen Strukturmärchen der modernen Linken gilt es endlich postmoderne Perspektiven entgegenzusetzen, um auch dem Arbeiter seine Menschlichkeit zurück zu geben und aus der Illusion der Opferrolle der Strukturen zu befreien. Erst dann können Lösungen erarbeitet werden, die ihm als handelnden Akteur gerecht werden und nicht nur als Spielball homogenisierter Zuschreibungen von aussen, die ihn je nach Programmatik heroisieren oder verurteilen, jedoch immer missverstehen und missbrauchen.


Kaum ignorierbar, werden Diskussionen vor allem zunehmend durch eine "Verbuzzwordisierung" von Konzepten bestimmt. Konkrete Begriffe, die ganze Diskurse einfacher kommunizierbar machen sollten, werden in den eigenen Sprachgebrauch integriert aber ohne sie zu verstehen oder verstehen zu wollen. Sie dienen lediglich als die sprachliche Kavallerie, die man zu Hilfe ruft, wenn es um die eigene Position schlecht bestellt scheint, um dann mit jenen Begriffen ins Felde zu ziehen, solange sie nur irgendwie in das eigene Spektrum passen oder in es erklärt werden können. Sie stellen quasi den Angstgegner dar, den man seinem Gegner aufzubürden versucht, in der Hoffnung, dass auch dieser nichts über sie weiss, als den Begriff selbst.


Schlimmer als die „ewig Gestrigen“ werden die „ewig Heutigen“ sein. Erstere sind leicht zu erkennen und ein auslaufendes Modell, denn auch der Konservatismus bleibt, anders als er oft missverstanden wird, nicht stehen, sondern wandelt sich. Der Konservatismus dieser Tage ist keiner des 19. Jahrhunderts mehr, sondern der des späten. Jene neue konservative bis reaktionäre Wende gibt sich dabei oberflächlich progressiv, sie will nicht zurück zum status quo des 19. aber sie begehrt eben jenen des späten 20. Jahrhunderts.
Der neue Konservatismus ist die Moderne, das moderne Denken selbst, das sein Bestehen absichern will. Nicht alte Wahrheiten werden darin konserviert, sondern gegenwärtige. Diese stellen sich genauso gegen alles andere und sagen jedem den Kampf an, der über sie hinaus will. Es ist die Aufforderung „Bis hierher und nicht weiter!“, die dahinter steht und zurückfällt in ein Bollwerk festgeschriebener Wahrheiten, die als Sicherungsanker gegen die voranschreitende Veränderung fungieren. Es ist also erneut die Sicherheit, die gesucht wird und die sich gegen Freiheiten drängt. Langsam und listig schleicht sich dieses Denken unter Deckmänteln ein und übernimmt das Sprechen, die Sprache, die unser Denken lenkt. Das Postfaktische als politischer Kampfbegriff ist eine erste Welle. Jene, die ihn benutzen, machen sich zu Fahnenträgern des neuen Alten, das sich als Wahrheit tarnt und sich in Stellung bringt. Freilich will auch dieses nicht zurück ins Alte, in seiner Referenz auf die Wahrheit jedoch will es auch nicht nach vorn, sondern uns gefangen halten, uns einlullen in die Sicherheit der Gewissheiten. Was scheinbar als Kampf gegen Lügen begann, wird so zum Kampf gegen das Denken von Neuem. Was jetzt ist sei von nun an Wahrheit.

Dienstag, 31. Januar 2017

Die Postmoderne – das unbekannte Wesen

Mit der Postmoderne oder besser dem postmodernen Denken (generell herrscht auch hier ein Pluralismus im Detail vor) kann allgemein der Gegenentwurf zur s.g. Moderne und derer Grundannahmen bezeichnet werden. Diesen modernen Narrativen, Konstrukten, Metaerzählungen und Sicherheiten werden dabei alternative Grundkonzepte gegenübergestellt. Zu diesen Grundannahmen der Moderne zählen deren Ziele, als auch bestimmte, nicht hinterfragte und als gewiss geltende Setzungen, die jedoch deswegen nicht zwingend von allen Vertretern der Moderne auch alle befürwortet werden. Als Beispiel seien „Geschlecht“, „Rasse“, „Wahrheit“, „Spezies“, „Fortschritt“, „Naturwissenschaft“ und „Vernunft“ genannt. Weil diese Annahmen als Sicherheiten gelten, wird die Moderne auch gern als das Zeitalter der Sicherheiten bezeichnet. Demgegenüber präsentiert sich die Postmoderne als Zeitalter der Freiheit, allerdings nicht im Sinne der Moderne, die die Erzählung der Freiheit auch benutzt, sondern am ehesten vielleicht mit Kreativität und Vielfalt übersetzt. Wenn jene Sicherheiten hinterfragt, dekonstruiert und verworfen werden, führe dies nicht ins Chaos, so postmodernes Denken, sondern in eine Kreativität des Schaffens, also eine Freiheit zu entscheiden, was sein soll.
Der Sicherheit wird also die Freiheit gegenübergesetzt, der Wahrheit (denn eine absolute Wahrheit wird abgelehnt, da diese erkenntnistheoretisch nicht begründbar sei) die Perspektive und dem Materialismus die Deutung.
Im Zuge dessen kommt es aber immer wieder zu Missverständnissen, die auch dazu führen können, bestimmte Ideen der Postmoderne für die eigene Agenda zu missbrauchen und dies sogar für modernes und damit auch postmoderner Sicht reaktionäres Denken.
Zwei dieser Missverständnisse möchte ich aufgreifen. Zum Einen geht es um das Thema Wahrheit am Beispiel der Sprechortanalyse und zum Anderen um das Thema Materialität vs Deutung.

1. Sprechort oder wer bin ich eigentlich?

Das postmoderne Denken lehnt den Anspruch absoluter Wahrheiten ab und stellt diesem multiple Perspektiven gegenüber. Ein Grund dafür ist, dass jede Aussage und jede Wahrnehmung standortgebunden, also perspektivisch ist. Es gibt keine nichtgedeuteten Fakten. Ohne das ins Detail auszuführen geht es darum, dass jeder Mensch verschiedene Sozialisationsprozesse durchläuft, in ein kulturelles Setting eingebunden ist, in Normen und Anforderungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte hat, usw. und all dies verändert die Wahrnehmung und damit die Deutung von etwas, denn jede Wahrnehmung ist bereits eine Interpretationsleistung einerseits durch die Hardware des Gehirns (Filter, Einordnung in Muster, usw.) und durch die von der Gesellschaft aufgespielte Software (Anschlussfähigkeit an Erlerntes, Vorurteile, sozio-kulturelle Muster, Einfügen in Erzählungen, usw.). Viele dieser Prozesse laufen unbewusst und automatisiert ab und ein guter Teil kann quasi gar nicht beeinflusst werden. Deswegen spricht man von Perspektive. Diese ist einerseits relativ sozial, sprich, sie wird in s.g. Interaktionsritualen (vom wissenschaftlichen Diskurs bis zum alltäglichen Gespräch) angeglichen, um anschlussfähig und verstehbar zu sein aber auch, um Handlungssicherheit herzustellen. Andererseits bleibt sie relativ individuell, da biografische Erlebnisse sich auf die Muster und die Anschlussfähigkeit ebenso auswirken, wie die unterschiedliche Hardware des Gehirns. Wir können uns also zwar einigen, was „rot“ sei und grundsätzlich zu bedeuten habe aber die Wahrnehmung dessen, was „rot“ ist, wird sich aufgrund der immer mindestens graduell unterschiedlichen Wahrnehmungsgfähigkeit von Farben und Farbnuancen unterscheiden, ebenso wie auch was bestimmte Nebenbedeutungen (schwerer Unfall mit viel Blut, der die Farbe „rot“ zum Trigger macht) angeht.
Wenn es nun aber niemanden gibt, der unmittelbar zur Wahrheit ist, heißt das, wir sind auf eine Verständigung zurückgeworfen, in der relative Einigung erzielt wird. Das ist der Diskurs, der das wichtigste Instrument der Postmoderne ist aber auch hier nicht den Diskursbegriff der Moderne meint. Mit Letzterem ist der vor allem von Habermas entwickelte idealisierte Begriff des Diskurses gemeint, der als Ethik fungiert. Vielmehr ist dem postmodernen Denken der reale Diskurs im Blick, der durch eine Vielzahl an Machtstukturen und -positionen geprägt ist (Foucault, Bourdieu, Kemper, usw.).
Die Perspektivität allen Wissens und die Machtstrukturen jeden Diskurses führen nun zu der Anforderung, sich dessen bewusst zu sein, also der eigenen Perspektive und der eigenen Machtposition. Nichts anderes meint „Sprechort“, wobei ich den Begriff nicht nutze, sondern durch „Selbsthistorisierung“ ersetze. Ziel ist es, sich vor allem in der SELBSTBETRACHTUNG aber auch in der Fremdbetrachtung bewusst zu machen, dass man eine Perspektive und in der Gesellschaft und dem durch die getragenen Diskurs eine relative Machtpostion inne hat (Sprechort), zugleich aber sollte nicht nur dieser Umstand bedacht werden, sondern auch die Position und Perspektive kritisch eingebracht und in der eigenen Historizität erklärt und betrachtet werden, um ihre Wirkung abzuschwächen (Historisierung).
Wichtig dabei ist, dass es KEINEN per se privilegierten Sprechort gibt und da vor dem Diskurs nicht entschieden werden kann, welche Perspektive sinnvoller, besser, zielführender, usw. ist, auch niemand aus dem Diskurs ausgeschlossen werden darf.
Das bedeutet, dass zwar Rücksicht auf Menschen genommen, die sich selbst als betroffen beschreiben und diesen eine wichtige Perspektive zugesprochen werden muss, denn sie haben bestimmte exklusive Erfahrungen gemacht und nehmen eine bestimmte Machtposition ein aber im Rahmen des Diskurses können sie deswegen keinen erkenntnistheoretischen Sonderstatus beanspruchen (davon unbesehen sind besondere psychische Berücksichtigungen). Jede Perspektive, auch die Betroffener, unterliegt Narrativierungsprozessen und damit nicht nur vorgängigen, sindern auch nachgängigen Verzerrungen, Einordnungsmustern, usw., um sie überhaupt ausdrückbar zu machen, wie auch jedes Erlebnis immer aus einer Perspektive heraus wahrgenommen wird, die bestimmte Sachverhalte ignoriert und andere fokussiert. Weil dies so ist, muss es den Diskurs geben und es muss eine kritische Selbst- und Fremdbetrachtung vorgenommen werden. Diese darf aber eben nicht zum a priori Ausschluss führen.
Das heißt nun nicht, dass es keine Hierarchisierung geben kann. So kann die Perspektive dadurch aufgewertet werden, dass sie über einen bestimmte Reflektionsgrad verfügt, umfassender ist oder sich im Diskurs argumentativ durchsetzen kann, was jedoch auch hier keine Ewigkeit beanspruchen kann.
Das epistemische Problem mit den Perspektiven habe ich aber bereits an anderer Stelle im Text "Das kartonierte Sein als Scheinargument und epistemisches Problem plus ein bisschen Geschichtsphilosophie" behandelt. Von daher soll dies hier dazu genügen.

2. Materialismus vs Deutung

Ein weiterer Vorwurf besteht darin, dass das postmodernes Denken die materiellen Verhältnisse übersehe. Dem ist allerdings nicht so. Ähnlich wie im Falle des Diskurses, sind die Bedingungen an dessen Teilhabe und die Machtstrukturen nämlich durchaus im Blick. Was postmodernes Denken zurückweist, ist der historische Materialismus, nicht der Einfluss des Materiellen.
Vereinfacht könnte man sagen, der Welt ist nicht allein damit geholfen, eine materielle Ungleichheit zu beheben, denn sowohl ist deren Ursache eine bestimmte Deutung der Welt, die, wenn sie sich nicht ändert, das Problem nur verschleppen würde, wie auch eine solche materielle Verteilung in ihrer Wirkung von der Deutung abhängt.
Am Beispiel der Armut erklärt liest sich dies wie folgt:
Zuerst zur s.g. „relative Armut“. Nehmen nun an, die Welt besteht aus zwei Orten, an denen Menschen unterschiedlich viel besitzen. Die eine Hälfte ist nun reicher, als die andere. Solange diese beiden Hälften nicht voneinander wissen, gibt es diese Diskrepanz nicht, denn es bräuchte einen Beobachter, der aber nicht existiert. Armut und Reichtum sind dialektisch verbunden. Sie benötigen einander, um überhaupt zu existieren und sie benötigen eine Bewusstsein davon, um überhaupt als ungerecht empfunden zu werden und damit als relevant im Denken und Fühlen der Akteure, um die es geht.
Nehmen wir aber nun an, sie wissen voneinander, dann ist die Frage, warum gibt es diese Ungleichheit. Sagen wir der Einfachheit halber, an beiden Orten sind die Ressourcen unterschiedlich verteilt. Das aber ist nicht der Grund für die relative Armut, denn der liegt darin, dass z.B. die eine Gruppe, obwohl sie darum weiß, diese Ungleichheit aufrecht erhält, der bloße Umstand der Ungleichverteilung hat noch nichts mit Armut oder Ungleichheit im moralischen oder politischen Sinne zu tun, er konstituiert diese nicht, denn erst die Deutung dieses Umstandes als eben z.B. Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit schafft das Problem. Es muss mit dem Wissen zu einem Handeln oder Nicht-Handeln kommen, das in der Regel auf Begründungen beruht, wie Recht des Stärkeren, Natur, bestimmte Ideologien, usw. Solange diese Ideologien, die allererst Armut produzieren nicht überwunden sind, kann eine materielle Umverteilung Ungerechtigkeit nicht bekämpfen, sondern würde sich nur auf weniger kontrollierte Bereiche verlagern. Das bedeutet nicht, dass Umverteilung schlecht ist oder aus postmoderner Sicht nicht vorgenommen werden sollte, sondern, dass diese allein nicht das Problem löst und eine materielle Ungleichverteilung nicht das eigentliche Problem ist.
Hinzu kommt, dass der Materialismus mit vielen Vorannahmen arbeitet, die man ihm vorwerfen kann. Zum Beispiel übersieht er auch darüber hinaus gehende Deutungen. Nehmen wir an, die beiden Gruppen unterscheiden sich in der Menge an Gold. Die eine hat alles, die andere nichts. Sofern die goldarme Gruppe Gold überhaupt keinen Wert beimisst, herrscht auch keine Ungerechtigkeit, zumindest nicht bis zum kulturimperialistischen Eingreifen der goldreichen Gruppe oder einem beständigen Austausch, der zum Angleichen der Weltdeutungen führt. Aber erst dann entsteht auch Ungerechtigkeit.
Außerdem sind Zuschreibungen wie Armut als eindeutig und ahistorisch ein Problem. Wichtig ist die Wahrnehmung und Deutung. So kann Armut nicht nur Handlungsmöglichkeiten einschränken, sondern auch erweitern, weniger wertend würde man von Verschiebungen sprechen. So gibt es Deutungen von Armut, besonders vor entstehen der protestantischen Arbeitsethik in Europa, die durchaus positiv gedeutet werden. Jetzt kann man einwenden, dass dies nur Bewältigungsmechanismen sind, um die eigene schwache Machtposition zu kompensieren und positiv zu wenden, um (psychisch) überleben zu können aber und das ist der Punkt, eine Lösung darf diese Deutung nicht übersehen. Die Logiken der Akteure müssen Berücksichtigung erfahren. Ihnen ihren selbst und positiv gedeuteten von oben herab zu nehmen, kann ebenso zu negativen Folgen führen, wenn sie z.B. dadurch ihr Seelenheil gefährdet sehen würden. Auch hier darf die Deutung also nicht einfach außer Acht gelassen werden. Jetzt sind das eher Sonderfälle. Aber auch in die andere Richtung geht es. So wurde in der Diskussion um die Arbeitergesundheit im 19. Jahrhundert seitens der Obrigkeit festgestellt, dass die Arbeiter doch gar nicht so arm dran seien, denn mit dem Geld was sie haben, könnten sie die täglich benötigte Menge an Kalorien finanzieren. Hierbei wurde aber übersehen, dass Essen mehr ist als Nahrungsaufnahme und dass Kalorien eben nicht alles sind, was den Körper am Leben hält. Die rein materielle Frage, die jene Deutungen und Perspektiven unberücksichtigt lässt, lief also am Problem vorbei.
Nehmen wir den schwierigen Fall der absoluten Armut, also eine Armut, die das Überleben beeinträchtigt. Eine solche Armut ist intersubjektiv (nicht objektiv aber dazu später mehr) schlecht und wird wohl niemandem positiv gedeutet. Sie hindert zudem Menschen an Teilhabe und Erfüllung und ist damit aus postmoderner Sicht freilich abzulehnen.
Allerdings ist der theoretische Blick hier anders, denn auch hierbei handelt es sich nicht um eine objektive Wahrheit, sondern um eine intersubjektive, denn um die Folge einer solchen Armut, um die es ja geht, schlecht zu finden, muss eine bestimmte Weltsicht vorhanden sein. Der Tod selbst, um mal einen großartigen Film zu zitieren, ist eine Formalität. Er hat keine Bedeutung, ebenso wenig wie das Leben, abseits der, die wir den beiden Dingen geben. Die Postmoderne benötigt hier aber eben keine absolute Wahrheit, ihr reicht jene intersubjektive, die sie zum Feind absoluter Armut macht, wie auch relativer, denn auch hierdurch sind Teilhabe und Gleichberechtigung, die sie generell anstrebt gefährdet.

Dienstag, 6. Dezember 2016

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele XVIII

Wie in der alliterativen Begriffsdopplung von "Kunst und Kultur", schon angelegt, die eben wie bei "Kind und Kegel" nicht Kind und Kegel, sondern alle Kinder meint, wird Kultur leider immer noch als Verstärkung oder Synonym von Kunst, vor allem hegemonialer Kunstvorstellungen benutzt. Kunst ist wichtig, denn Kunst kann versuchen, das Unsagbare zu erzählen, das Allgemeine zu offenbaren, das Alltägliche zu dekonstruieren und das Neue denkbar zu machen. Lust am eigenen kreativen Schaffen zu wecken ist daher ebenso wichtig. Aber Voraussetzung für eine Kunst, die Gesellschaft reflektieren kann und damit auch eine wichtige politische Funktion einnimmt, wäre eine Kulturelle Bildung, die ihrem Namen auch abseits eines kunstreduktionistischen Kulturbegriffs gerecht werden kann, Was wir brauchen, ist eine Kulturelle Bildung, die sich mit Kultur im Allgemeinen auseinandersetzt, mit all ihren Spielarten. Nicht nur hegemonialer Kunst, nicht nur subkultureller Kunst, sondern mit Kultur im kulturwissenschaftlichen Sinne, also mit dem Alltag, den Bedeutungen, den Sinnstiftungen, den Weltdeutungen, Performanzen, Praktiken, dem Fühlen-Denken-Handeln und dessen Sinnstruktur, also mit dem, was aus der Welt erst Lebenswelt macht. Dann aber könnte man Kulturelle Bildung nicht mehr so wohlfeil als einfaches Aushängeschild und dessen Förderung nicht mehr als selbstgerechten steuerlichen Ablasshandel benutzen, als zahnlose, rein ästhetische Spielerei. Dann würde Kulturelle Bildung nämlich dazu beitragen, kritisches Denken und Fühlen nicht außerhalb, sondern auch entgegen Schule und Universität, entgegen Gesellschaft zu fördern. An Stelle des passiven Kunstgenusses stünde der Spiegel, statt Identität die Dekonstruktion. Das alles aber verhindert das Sprechen über Kultur als Kunst nicht zuletzt im Rahmen des Förderns, denn das kritische Denken ist zwar eine Kunst aber eben nicht Kunst.


Der Begriff des "Postfaktischen" ist letztlich ein Ausdruck reaktionären Denkens, das zurückführen soll in das Wissen der Moderne, in die Sicherheit des absoluten Wissens und der Gewissheit der "Fakten", die letztlich Politik legitimieren sollten. Statt einfach Begriffe wie "Lügner" oder "Rassist" zu gebrauchen und den Blick auf Bedingungen und Ursachen zu richten, wird mit dem Begriff des "Faktischen" als legitimierende Kraft verallgemeinert und vereinfacht. Entgegen der Programmatik des postmodernen Wissens als nötige Vielheit und Diversität von Erzählungen, führt die Moderne mit ihrer "normativen Kraft" des vermeintlich Faktischen zurück in zu entdeckende Gewissheiten, die die Welt einfach halten, in die Idee alles vermessen zu können, in den Fortschrittsglauben, in binäre Geschlechtermodelle, in Sicherheiten und nationalstaatliche Regulierungen als einzige Alternative.


So wie das Konstrukt des "biologischen Geschlechts" immer Brutstätte sozialer Rollenzuschreibungen bleiben wird und daher überwunden oder mindestens auf wenige Kontexte wie Medizin eingegrenzt werden muss, so muss auch der Humanismus überwunden werden, mit seiner Überbetonung des Menschen als Maß aller Dinge, um den Speziesismus grundlegend zu erschüttern. So wie es galt, die Erzählungen der Moderne wie "Rationalität", "Fortschrittlichkeit" und "Wahrheit" im postmodernen Denken als Selbstgerechtigkeit mit all ihren Gewaltätigkeiten der "Fakten" zu entlarven, so ist es nun als Teil dieses Prozesses Zeit, mittels posthumanistischer Philosophie den Menschen als eins und nicht als alles zu begreifen und damit aus dieser Selbstgerechtigkeit zu entheben. 

Dienstag, 15. November 2016

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele XVII

Entgegen des Alltagsverständnisses eines Naiven Realismus, sind Einhörner ebenso Fakt, wie Fakten auch wie Einhörner sind. In je begrenzten Referenzbereichen ist ihre Behauptung "wahr" und dies ist die einzige "Wahrheit", die uns zuträglich ist, die relative Übereinstimmung einer Behauptung mit verschiedenen Ebenen unserer Wirklichkeiten aber nicht mit der davon unabhängigen Realität, denn zu dieser haben wir keinen von unseren Wahrnehmungen und damit auch Wirklichkeiten unabhängigen Zugriff. So ist auch ein Berg nur "hoch" im Referenzbereich unserer Erfahrung, die wir aufgrund seiner Überwindbarkeit und aufgrund der von uns erfahrenen Höhen haben und er ist nur x Kilometer hoch, im Rahmen einer nur auf unserer lebensweltlichen Mesoebene "exakten" Einteilung von messbarer Höhe, die es ohne uns in dieser Form gar nicht gäbe. "Der Berg ist hoch" und "der Berg ist x Kilometer hoch" sind damit weniger Fakten im Alltagssinne, als vielmehr Vereinbarungen, die nur für uns Relevanz und Wahrheit besitzen. Das bedeutet nicht, dass es für uns nicht schwer sei, auf den Berg zu kommen, es bedeutet lediglich, allen diesen Wahrheiten einen relationalen Status zuzuweisen, sie abhängig von unseren Perspektiven, Bedürfnissen und Weltdeutungen zu machen.
Der Berg ist ohne uns da aber er ist dann eben kein Berg.


Die Erfindung der modernen normierten Zeit und ihre Nutzung durch die sich aus dem Protestantismus entwickelnde kapitalistische Arbeitsethik, sind wohl die zentralsten Kontrollmittel unserer Lebenswelt. Der Wecker ist die Peitsche, der Blick auf die Uhr gibt den neuen Rhythmus vor, nach dem wir zu funktionieren haben, argwöhnisch bewacht von der Scham, die jedes Vergehen gegen das pünktliche Funktionieren mittels die Eigenlogik vernichtender Narrative wie Faulheit, mangelnde Professionalität oder der moralisch besetzten Unpünktlichkeit zu bestrafen sucht. Die kapitalistische Zeit ist das Schnürkorsett dieses Systems. Wollen wir es erträglicher gestalten, so müssen wir anfangen, alternative Zeiten zu denken und zu leben

Man bringt den Menschen bei, dass zu argumentieren wichtig sei aber nicht wie man argumentiert, dass ihre Meinung zählt aber nicht wie man sie reflektiert, dass Fakten wichtig seien aber nicht was diese sind oder dass man immer lieber das glauben will, was der eigenen Meinung entspricht. Das sind die Widersprüche unserer Diskussionskultur, die aus ihr nur eine selbstgerechte Streitkultur machen.


Dass "die Presse", dass "die Medien" auch "Unwahrheiten" verbreiten, interessengeleitet, subjektiv gefärbt sind, ist doch nicht der Skandal. Der Skandal ist, dass plötzlich ein Haufen Leute aus ihren Löchern gekrochen kommen, die scheinbar dachten, es gäbe eine ultimative, objektive Wahrheit, die Medien und Presse nur abbilden würden. Der Skandal ist auch, dass diese Menschen nun auch noch glauben, sie hätten eine höhere Ebene erreicht, eine neue Ebene der Reflektion und dabei nichts anderes tun, als genauso unkritisch weiter zu machen, indem sie einfach Anderen die Wahrheit und Objektivität zuschreiben und so jeden Keim einer Medienkompetenz erneut in alten Mustern ersticken, so er denn überhaupt je da war. Denn die Zuwendung zu neuen medialen Göttern ist doch nichts anderes, als der Austausch hin zu der eigenen Meinung und dem eigenen Wohlgefallen passenderen Glaubenssätzen, verbunden mit einer wohlfeilen Haltung im Besitz einer fundamentalen Erkenntnis zu sein, die die Deutungshoheit beanspruchen will.

Freitag, 14. Oktober 2016

Ecce Hieronymus Bosch – oder die erste historische Kunstausstellung

Rezension zur Ausstellung „Hieronymus Bosch: Visions Alive“

Den Kunstgenuss möglichst authentisch gestalten wollen viele und scheitern. Ein wichtiger Grund dafür liegt bereits in der mangelnden Reflektion dessen, was sie denn sei, diese authentische Rezeption. Wie ist eine solche authentische Betrachtung denn zu verstehen? Als die Setzung des Gemäldes an seinem ursprünglichen Ort, als die historisch korrekte Beleuchtung oder als das passende räumliche Ensemble, die Nachbildung des Herums des Kunstobjektes? All diese Antworten übersehen den Kern des Problems, dem sich die multimedialen Ausstellung „Visions Alive“ zum niederländischen Maler Hieronymus Bosch nicht nur stellen kann, sondern vielleicht zum ersten Mal eine brauchbare Lösung anbietet.
Denn die Ausstellung geht gerade nicht den Weg, die Gemälde in ein historisches Setting zu überführen, es werden nicht einmal die Originale ausgestellt. Und doch ist alles auf das Werk abgestimmt. Allein der Ausstellungsort der Alten Münze, zu erreichen über einen wenig prunkvollen Innenhof bereitet auf den Bruch des klassischen Kunstgenusses vor. Die Räume der Ausstellung sind düster, im ersten Raum prangen vor allem die sieben Todsünden als Worte an der Wand, begleitet durch entsprechende Bibelzitate. Das eigentliche Highlight aber befindet sich in den folgenden Räumen. Stehend oder sitzend auf Bänken und Sitzkissen wird der Betrachter hier im Dunkel umringt von Leinwänden, auf denen Boschs Werk, untermalt durch eine entsprechende Geräuschkulisse, lebendig wird. Das Gemälde transformiert zum Kino. Die immersive Kraft, die diese Multimedialität und Darstellungsweise entfaltet ist enorm, der Sog hinein in die Gemälde Boschs unwiderruflich und unwiderstehlich. Statt des Erstarrten des Bildes, befindet sich Teile des Gemäldes im Fluss, die einzelnen Kreaturen werden lebendig und tanzen ihren Reigen um den Zuschauer herum.
Damit wird kein historisches Setting rekonstruiert, das in seiner Authentizität scheitern muss, weil es die Entwicklung der Sehgewohnheiten ignoriert, die Andersartigkeit des von multimedialen Angeboten geprägten Besuchers vergisst. Vielmehr wird das Betrachten dem modernen Sehen angepasst und kann damit zwar immer noch nicht die historische Rezeption wiedererwecken, denn das ist niemals möglich aber es wird eine Intensität der Betrachtung möglich, die als solche viel eher dem historischen Akteur gerecht werden kann. Zugleich schafft die Ausstellung damit die Dekonstruktion des klassischen Kunstgenusses, der sich unreflektiert seiner eigenen Bedingungen verschließt, in dem es Sehgewohnheiten in ihrer Historizität mittels dieses Erprobens von Möglichkeiten anzeigt und einem Neuen Tür und Tor öffnet, das hoffentlich Schule machen wird. Dies wäre wünschenswert, nicht nur, um eben auch Schüler und viele andere zu erreichen, denen das vermeintlich leblose Betrachten als Ödnis durch die moderne Medialität mitgegeben worden ist, sondern generell um eine Reflektion zu erreichen, die überhaupt erst einem viel zu oft formulierte, Anspruch von Kultureller Bildung gerecht werden kann, in dem sie Bedingungen des Sehens, des Wahrnehmens zu thematisieren vermag.
Bei allem Lob bleibt jedoch Raum für Kritik. Dazu gehört, dass auch hier der ästhetische Genuss allein im Vordergrund steht und damit die Kunst als Selbstzweck statt als Bildung. So kann eine gewissen Historizität von Sehgewohnheiten zwar erfahren werden, eine dezidierte Beschäftigung damit bleibt im Rahmen der Ausstellung aber aus. Hier wäre Nachholbedarf. Zugleich wäre eine Einordnung in die Kultur der Zeit wünschenswert, die über einen ereignishaften Zeitstrahl hinausgeht, der sich viel zu sehr der veralteten Formen der „Geschichte der großen weißen Männer“ und retrospektiv „wichtiger“ Ereignisse verhaftet sieht. Stattdessen wäre gerade bei dieser Thematik ein Blick auf die Historizität beispielsweise des Fühlens lohnenswert, nicht zuletzt, weil jene Todsünden zugleich Konzepte des Fühlens beschreiben.
Trotz dessen kommt dieser Ausstellung mit ihrer Aufarbeitung von Kunst in einer Art und Weise, die Sehgewohnheiten in ihrem Wandel ernst nimmt, eine Vorreiterrolle zu, so dass „Visions Alive“ mit einer gewissen Berechtigung die erste historische Kunstausstellung genannt werden kann.