In der immer mal wieder geführten
Diskussion um das Schulsystem und dessen Bildungsinhalte, taucht in
letzter Zeit wieder vermehrt die Forderung nach mehr
Naturwissenschaft auf. Dahinter steckt zum einen eine kapitalistische
Verwertungslogik, die insbesondere den MINT-Fächern eine
Vermarktbarkeit zuspricht, einen monetärer Wert, den es aus den
entsprechend ausgebildeten (nicht gebildeten) Akteuren herauszuziehen
gilt. Auf der anderen, der idealistischen Seite hingegen herrscht
einen letztlich völlig unkritische Haltung den Naturwissenschaften
gegenüber, die diese zum Heilsbringer der Post-Postmoderne, also der
gegenwärtigen reaktionär-modernen Wende, verklärt.
Anstatt diese Forderung einfach
zurückzuweisen, möchte ich weiter gehen und für ein Weniger an
Naturwissenschaften plädieren, in dessen Zuge auch Schule weniger
zur Ausbildung und mehr zu Bildung werden kann. Denn, wir fühlen, so
Wittgenstein, „daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen
Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt
sind.“ Allerdings sollte der Begriff der Wissenschaft hier vor
allem als Naturwissenschaft präzisiert werden, um den Kern der Sache
zu treffen. Dieses Defizit, das sich, polemisch zugespitzt, darin
äußert, die Schüler*innen beispielsweise Atomgewichte berechnen zu
lassen, statt zentrale menschliche Probleme zu behandeln, führt
letztlich ebenso dazu, ganz entgegen der Intention der Idealisten,
esoterische Weltbilder zu befördern. Nicht nur werden so die
Sinnsuche und die lebensweltliche Bedürfnisse aus dem Unterricht
entfernt, ganz im Sinne der Ideologie einer dem objektivistischen
und rationalistischen Irrtum aufliegenden Wissenschaft, die eine
Distanz des Akteurs von dem Untersuchten normativ behauptet, sondern
dieses Feld wird anderen Angeboten überlassen. Diese liefern nicht
nur scheinbar emotions- und bezuglose Antworten darauf, was die Welt
im Innersten zusammenhält, sondern zugleich Fragen, die eben das
eigene Selbst und den eigenen Alltag betreffen. Jenen Angeboten
wenden sich die Akteure auch deswegen leicht zu, weil sie quasi
niemals selbst als Akteure in den Blick genommen werden. Selbst- und
Weltreflexion werden nicht erlernt. Dazu wäre ein Unterricht nötig,
der insbesondere psychologische, soziologische,
kulturwissenschaftliche, historische und philosophische Methoden
reflexiver Schau ausdrücklich einübt und somit den Menschen nicht
nur auf zellularer Ebene betrachtet, sondern als Wesen, das nach Sinn
sucht, bestimmten Sozialisationsprozessen ausgesetzt ist und eben
nicht dem immer noch aufrecht erhaltenen Ideal des rationalen Wesen
entspricht. Fühlen und Denken, Körper und Habitus, Gesellschaft und
Selbst müssen im Spiegel der lebensweltlichen Erfahrungen in den
Blick genommen werden, um davon ausgehend die akuten Probleme unserer
Welt, bestehend aus Rassismus, Sexismus, Nationalismus, usw. angehen
zu können. Nur dann lassen sich letztlich auch Verteilungsprobleme
und Armut lösen, denn, solange der Wille zur Ungleichverteilung
vorhanden ist, kann keine technische Innovation Ungerechtigkeit
auflösen. Sie kann lediglich dafür sorgen, das Problem zu
verlagern.
In diesem Sinne ist der Aufruf zu
weniger Naturwissenschaft zu verstehen. Nicht, weil
naturwissenschaftliche Methoden und Denkweisen weniger wichtig sind,
sondern weil eben nicht eine kritische Methodenschau im Fokus steht,
sondern ihre Wissensbestände als Weltwissen missverstanden werden.
Nicht, weil die durch diese generierten Wissensbestände keinen oder
weniger Wert hätten, sondern weil sie nur einen Teil der
tatsächlichen Probleme angehen können. Der Ruf nach weniger
Naturwissenschaften ist daher ein Ruf nach weniger Überbetonung und
nach auch schulischer Aufwertung von Sozial- und
Geisteswissenschaften aber auch künstlerischen Fächern, die das
Erproben von Sinnangeboten ebenso befördern können, wie sie
alternative Ausdrucksweisen erproben, die nicht jener
rationalistisch-sprachlichen Engführung entsprechen.
Der Ruf nach weniger
Naturwissenschaften ist der Ruf nach mehr Wissenschaft allgemein und
nach eine Ausbildung, die im Kern aus Bildung besteht, die sich nicht
der Verwertungslogik unterwirft.