Donnerstag, 15. Februar 2018

Für ein Weniger an Naturwissenschaft...

In der immer mal wieder geführten Diskussion um das Schulsystem und dessen Bildungsinhalte, taucht in letzter Zeit wieder vermehrt die Forderung nach mehr Naturwissenschaft auf. Dahinter steckt zum einen eine kapitalistische Verwertungslogik, die insbesondere den MINT-Fächern eine Vermarktbarkeit zuspricht, einen monetärer Wert, den es aus den entsprechend ausgebildeten (nicht gebildeten) Akteuren herauszuziehen gilt. Auf der anderen, der idealistischen Seite hingegen herrscht einen letztlich völlig unkritische Haltung den Naturwissenschaften gegenüber, die diese zum Heilsbringer der Post-Postmoderne, also der gegenwärtigen reaktionär-modernen Wende, verklärt.
Anstatt diese Forderung einfach zurückzuweisen, möchte ich weiter gehen und für ein Weniger an Naturwissenschaften plädieren, in dessen Zuge auch Schule weniger zur Ausbildung und mehr zu Bildung werden kann. Denn, wir fühlen, so Wittgenstein, „daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Allerdings sollte der Begriff der Wissenschaft hier vor allem als Naturwissenschaft präzisiert werden, um den Kern der Sache zu treffen. Dieses Defizit, das sich, polemisch zugespitzt, darin äußert, die Schüler*innen beispielsweise Atomgewichte berechnen zu lassen, statt zentrale menschliche Probleme zu behandeln, führt letztlich ebenso dazu, ganz entgegen der Intention der Idealisten, esoterische Weltbilder zu befördern. Nicht nur werden so die Sinnsuche und die lebensweltliche Bedürfnisse aus dem Unterricht entfernt, ganz im Sinne der Ideologie einer dem objektivistischen und rationalistischen Irrtum aufliegenden Wissenschaft, die eine Distanz des Akteurs von dem Untersuchten normativ behauptet, sondern dieses Feld wird anderen Angeboten überlassen. Diese liefern nicht nur scheinbar emotions- und bezuglose Antworten darauf, was die Welt im Innersten zusammenhält, sondern zugleich Fragen, die eben das eigene Selbst und den eigenen Alltag betreffen. Jenen Angeboten wenden sich die Akteure auch deswegen leicht zu, weil sie quasi niemals selbst als Akteure in den Blick genommen werden. Selbst- und Weltreflexion werden nicht erlernt. Dazu wäre ein Unterricht nötig, der insbesondere psychologische, soziologische, kulturwissenschaftliche, historische und philosophische Methoden reflexiver Schau ausdrücklich einübt und somit den Menschen nicht nur auf zellularer Ebene betrachtet, sondern als Wesen, das nach Sinn sucht, bestimmten Sozialisationsprozessen ausgesetzt ist und eben nicht dem immer noch aufrecht erhaltenen Ideal des rationalen Wesen entspricht. Fühlen und Denken, Körper und Habitus, Gesellschaft und Selbst müssen im Spiegel der lebensweltlichen Erfahrungen in den Blick genommen werden, um davon ausgehend die akuten Probleme unserer Welt, bestehend aus Rassismus, Sexismus, Nationalismus, usw. angehen zu können. Nur dann lassen sich letztlich auch Verteilungsprobleme und Armut lösen, denn, solange der Wille zur Ungleichverteilung vorhanden ist, kann keine technische Innovation Ungerechtigkeit auflösen. Sie kann lediglich dafür sorgen, das Problem zu verlagern.
In diesem Sinne ist der Aufruf zu weniger Naturwissenschaft zu verstehen. Nicht, weil naturwissenschaftliche Methoden und Denkweisen weniger wichtig sind, sondern weil eben nicht eine kritische Methodenschau im Fokus steht, sondern ihre Wissensbestände als Weltwissen missverstanden werden. Nicht, weil die durch diese generierten Wissensbestände keinen oder weniger Wert hätten, sondern weil sie nur einen Teil der tatsächlichen Probleme angehen können. Der Ruf nach weniger Naturwissenschaften ist daher ein Ruf nach weniger Überbetonung und nach auch schulischer Aufwertung von Sozial- und Geisteswissenschaften aber auch künstlerischen Fächern, die das Erproben von Sinnangeboten ebenso befördern können, wie sie alternative Ausdrucksweisen erproben, die nicht jener rationalistisch-sprachlichen Engführung entsprechen.
Der Ruf nach weniger Naturwissenschaften ist der Ruf nach mehr Wissenschaft allgemein und nach eine Ausbildung, die im Kern aus Bildung besteht, die sich nicht der Verwertungslogik unterwirft.

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