Samstag, 30. November 2013

Privatheit – eine (tier)ethische Betrachtung

Privatheit – eine (tier)ethische Betrachtung


In diesem kurzen Essay möchte ich mich dem oder besser einem spezifischen Konzept von "Privatheit" widmen. Es ist nötig, da der Verweis auf eine solche, befördert durch Ideen des Individualismus und Liberalismus, immer mehr als Totschlagsargument gegen politische oder ethische Eingriffe in eigenes Handeln verwendet wird. Der Begriff bildet so eine Art Mauer vor der scheinbar jedes Argument zerschellen soll. Dabei ist das Konzept der Privatheit wie es heute gelebt wird noch nicht allzu alt. Es beginnt sich in der Frühen Neuzeit zu formen aber noch bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein existieren Formen der sozialen Überwachung der Einhaltung sozialer Normen und selbst heute noch, wenn auch nicht mehr mit Hilfe obrigkeitlicher Maßnahmen, wird auf die Einhaltung bestimmter Normen auch im Privaten geachtet.
Grund genug also, dieses Konzept einmal aus moralphilosophischer Sicht zu betrachten und sich im Zuge dessen einer sinnvollen Konzeption zu nähern.
Die Annäherung an ein neues Konzept ist nötig, da die Übernahme bestehender Konzepte von Privatheit selten bewusst oder gar reflektiert geschieht, sondern durch Sozialisation geprägt ist, gleichzeitig aber bewusst eingesetzt wird.

Wenn wir nun fragen was „privat“ ist, so gelangen wir zu einer Beschreibung dessen, was unsere Gesellschaft oder Teile von ihr, ihrem Selbstkonzept gemäß, als von außen nicht zu beeinträchtigen versteht. Diese Beschreibung, anders als in der lebensweltlichen Wirklichkeit in vielen Fragen oft praktiziert, stellt aber keine Rechtfertigung oder Erklärung der normativen Ebene dar, die mit dem Konzept verbunden ist. Dies zu behaupten würde sich dem sog. deskriptivistischen Fehlschluss schuldig machen, wie ihn Hare in seiner Abhandlung zum Universellen Präskriptivismus skizziert.1 Die Beschreibung eines Zustandes ist nicht seine Rechtfertigung.

Eine der Aufgaben philosophischer Überlegungen und zwar jene, der hier nachgegangen werden soll, müsste nun die Entwicklung eines tragfähigen und ethische Anforderungen berücksichtigendes Fundament sein, auf dem „Privatheit“ fußt.

Mein Vorschlag wäre erst einmal:

Alles was die Handlungsfolgen im Privaten lässt, kann als privat gelten. Somit sind alle Handlungen aus moralphilosophischer Sicht als privat einzustufen, die von mir ausgehende nur mich betreffen oder die von einem privaten Kreis ausgehend nur diesen betreffen, vorausgesetzt die Handlungen und deren Folgen sind von diesem auch gewollt oder zumindest toleriert.

Das Problem das sich nun ergibt ist, dass praktisch alle Handlungen irgendwelche Einflüsse auf andere, auf die soziale oder natürliche Umwelt haben.
Eine weitere Einschränkung könnte der Verweis sein, dass nur negative Folgen nach außen dringen dürfen, jedoch ist das was als negativ empfunden wird durchaus heterogen. Der Verweis auf die Negativität einer Handlung könnte somit den ganzen privaten Bereich konstrollieren und in gewünschter Sicht disziplinieren.
Die Handlungsfolgen müssen demnach genauer betrachtet, eine alternative Bewertungsrichtlinie muss gefunden werden.
Als solche schlage ich die Unterteilung in primäre Beeinträchtigungen und sekundäre Beeinträchtigungen vor.
Diese Unterteilung entspringt der Diskussion um das Dilemma der Leidvermeidung in ethischen Konzepten. Das Vermeiden von Leid in einer solch absoluten Form als oberstes Kriterium moralischen Handelns zu stellen, würde das Leben unmöglich machen, das hat bereits Alberst Schweitzer richtig erkannt. Leid ist jedoch relativ zu beurteilen und im Kontext des Lebens zu betrachten. Es kann nie völlig vermieden werden. Wo immer zu Sozialität und Emotionalität fähige Wesen Gemeinschaften bilden, erschaffen sie soziales Leid. Die Auslöser diesen Leides sind letztlich banal erscheinende und alltägliche Praktiken, wie das Beenden einer Beziehung. Solche Praktiken müssten vermieden werden, jedoch würde ein Aufrechterhalten vielleicht ebenso Leid bedeuten, ein Dilemma also. Grundsatz kann also nicht die absolute Vermeidung aller leidvollen Zustände sein. Stattdessen sollen bei weitestgehender Selbstverwirklichung die Anerkennung der gleichen Ansprüche und Bedürfnisse anderer gewahrt bleiben. Elementares Leid, also solches das sich maßgeblich auf die Integrität (sowohl in physischer als auch in psychischer und sozialer Hinsicht) richtet sollte trotz Selbstverwirklichung vermieden und möglichst ein insgesamt positives Leben anderer nicht behindert werden.
Primäre Folgen sind nun solche, die sich auf elementares Leid beziehen, sekundäre auf soziales Leid in dem hier skizzierten Sinne.
Vermieden werden soll primäres Leid, alles was elementare Bedürfnisse beeinträchtigt (physische, soziale, emotionale) und ein insgesamt positives Leben anderer nachhaltig, latent oder akut verhindert. Nicht vermieden werden kann sekundäres, aus dem gelebten Alltag sozial-emotionaler Bindung entstehendes Leid. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass zumindest die Tendenz zu weniger Leid als Telos aufrecht erhalten werden sollte.

Damit wäre eine Skizze von Privatheit möglich, die sich nicht schlicht auf die unbewusste Übernahme tradierter Konventionen verlässt und die ethische Richtlinien angeben kann, ab wann eine im privaten Kreis, also im Kreis individueller, familiärer oder teilkollektiver Selbstverwirklichung begangene Handlung Eingriffen von außen unterliegen kann und sollte und ab wann diese Handlung über das Prädikat „privat“ als vor aktiven (um nicht den latenten Eingriff der Sozialisation zu übersehen) äußeren Eingriffen geschützt zu verstehen sein sollte. Was als privat gilt, soll so vor den quantitativ am stärksten vertretenen gesellschaftlichen Konventionn geschützt sein.

Diese Skizze soll nun ebenso skizzenhaft in ihrer Anwendung auf eine Handlungsweise oder besser einen Kanon an Handlungsweisen angewendet werden, die bisher mit dem unkritischen Gebrauch des Begriff verteidigt wurde.
Es geht um ein Thema, dass gemäß gesellschaftlicher Konventionen als Privatangelegenheit gilt, um das der Ernährung mit tierlichen Überresten.

Eine der ersten von Gegner dieser Praktiken angeführte Handlungsfolgen betreffen die Gesundheit des Individuums. Diverse Studien haben gezeigt, dass zumindest der übermäßige, vielleicht aber auch der geringfügige Verzehr tierischer Produkte ernsthafte Erkrankungen begünstigt.2 Individuelle Gesundheit, unter der Annahme derjenige, um den es geht, ist sich der Folgen wirklich und nicht nur oberflächlich bewusst, gilt vornehmlich als privates Gut. Da die Handlungsfolgen vorerst auf das Individuum beschränkt sind, gilt auch weiterhin die Privatheit. Allerdings erfährt diese Einschränkungen. Zum Einen, so könnte angeführt werden, bedeutet Krankheit wirtschaftlichen Schaden für die Gemeinschaft. Da es sich aber eher um die Erhöhung eines Risikos handelt und neben Ernährung viele weitere Lebensweisen eine solche Erhöhung aufweisen, halte ich diesen Punkt bisher für kaum brauchbar. Was jedoch eine Einschränkung darstellt ist das Vorhandensein positiver Pflichten, insbesondere solcher der Fürsorge für Mitglieder der gleichen sozialen Einheit, der Familie oder passender des „Ganzen Hauses“3
Wo solche existieren, kann ein bewusst herbeigeführtes erhöhtes Risiko, im Falle der Möglichkeit der Selbstverwirklichung in ähnlicher Weise sanktionsfähig sein. Im Falle der Ernährung ist dies gegeben, da hier der kulturell geprägte ähnliche Geschmack auch mit Alternativen erzeugt werden kann (wobei die Geschmacksprägung als zu thematisierend hier erstmal ausgeklammert werden soll), während die soziale, emotionale und kulturelle Bedeutung des Essens davon gar nicht betroffen wäre. Bei anderen Praktiken kann dies jedoch anders aussehen.

Eine weitere Handlungsfolge ergibt sich aus der Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit und der Ökologie.
Auch hier haben unzählige Studien nachweisen können, dass zumindest der erhöhte Konsum massive Beeinträchtigungen für Menschen, Tiere, Pflanzen und die gesamten Biosphäre darstellt.4
Aus diesen Gründen heraus scheint eine fast-vegane (weniger tierische Produkte, tierische Produkte eher aus Insekten) Ernährung geboten (innerhalb dieser sind wieder private Praktiken möglich) und damit nicht mehr Teil privater Selbstverwirklichung.

Der letzte aber zugleich entscheidenste Punkt betrifft das Tierleid als Folge.
Dem kulturell geprägten und damit veränderlichem „Genuss“ (und nur diesem) steht primäres und sekundäres Leid bei den zu Nahrungszwecken verbrauchten tierlichen Lebewesen gegenüber.
Das tierliches Leid in verschiedenster Hinsicht vorhanden ist, das es sich ausreichend mit dem menschlichen vergleichen lässt, auf dem ja u.a die Berücksichtigung menschlicher Lebewesen beruht und das eine a priori auf Vorannahmen und Vorurteilen basierende und durch historisch gewachsene Praktiken tradierte, wurde intensiv belegt.5
Hinzu kommt noch, dass bei mit uns in der Gemeinschaft existierenden Tieren auch positive Pflichten, die sich aus diesem Verhältnis im Gegensatz zu den in „Wildnissen“ lebenden Tieren, ergeben, die verletzt werden. Die menschliche Gesellschaft bildet mit diesen Tieren eine Gemeinschaft, die durch asynchrone Abhängigkeiten geprägt ist, die von der Menschheit bewusst forciert und geschaffen worden sind. Diesen Tieren gegenüber besteht als einerseits eine historische Verpflichtung zu positiven Pflichten, andererseits ergibt sich diese zusätzlich aus der Gemeinschaft in der wir uns zusammen befinden und in der diese Wesen nicht allein existieren können. Damit erfüllen sie auch hier das Kriterium, das bei gleichen Eigenschaften dafür sorgt, das auch Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen oder bis zu einem gewissen Alter mit Fürsorge zu behandeln sind.
Das wir die mit uns lebenden Tiere bisher im schlimmsten Sklavenstand halten ist hierbei ein historischer Fakt (und nicht der einzige seiner Art), ändert dabei nichts daran, dass wir eine Gemeinschaft bilden, auch wenn diese für einige von uns noch eine schreckliche ist.

Damit konnte grundlegend gezeigt werden, dass das hier skizzierte Konstrukt „Privatheit“ anwendbar ist und zudem der geforderten Bedingung, ethische Erkenntnisse und Richtlinien einbeziehen zu können standgehalten hat.
Dabei bleibt das Konstrukt aufgrund seiner relativen Formalität flexibel genug, um neue Erkenntnisse direkt umsetzen zu können statt wie bisher dabei zu helfen veraltete Erkenntnisse und Anforderungen zu tradieren. Es ist somit ein weit mündigeres Konzept.

Das Beispiel betreffend konnte zudem gezeigt werden, dass Ernährungsformen die Produkte aus dem Verbrauch von Tieren einschließen, keine Privatangelegenheit sind, sondern sich aufgrund ihrer das Private transzendierenden Handlungsfolgen im ethischen Diskurs verhandeln lassen müssen, der die Perspektive der „Opfer“ einschließen muss. Die Ergebnisse dieses Diskurs, die hier nur angedeutet werden konnten, führen dazu, dass sich die Ernährung, die Gesellschaft ändern muss. Die Folge sind aufgrund unreflektiert und im Zuge der Sozialisation angeeigneter Privatheitsideale dabei nicht selten Abwehrhandlungen, die es jedoch kritisch zu thematisieren gilt. Die Eingriff in die vermeintliche Privatheit des Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts sind letztlich nichts anderes als die Eingriffe in die Privatheit des Menschen des 19. Jahrhunderts durch abolitionistische und pädagogische Forderungen, um nur zwei zu nennen.


1Siehe dazu Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.
2Vgl. u.a. http://www.eatright.org/ada/files/veg.pdf; Campbell, Colin T.: The China Study, Dallas 2006; Clements, Kath: Vegan, Göttingen 2008; http://www.uni-giessen.de/fbr09/nutr-ecol/veroe_dissgroe.php; Berger, Iris: Vitamin-B12-Mangel bei veganer Ernährung. Mythen und Realitäten, aufgezeigt anhand einer empirischen Studie, 2009; Kugler, Hans G./Schneider, Arno: Vegetarisch essen, Krankheit vergessen – Wer ist der Krankmacher? Ein ärztlicher Ratgeber, 2008.
3Ich verwende diesen Begriff hier bewusst in Anlehnung an das Konzept, dass die kleinste frühneuzeitliche soziale Einheit beschreibt. In Anlehnung an diese verstehe ich unter dem „Ganzen Haus“ neben der heutigen Kernfamilie auch alle in der Hausgemeinschaft lebenden weiteren Wesen, denen gegenüber folglich Fürsorgepflichten besteht. Zu diesem gehören auch Tiere, die mit uns in multispeziesaler Gemeinschaft, in Anlehnung an multikulturelle Gemeinschaft existieren. Das diese Verhältnis immer noch stark durch Speziesismus und das Ausspielen ungleicher Machtverhältnisse geprägt ist, ist dabei zu kritisieren und nicht gegen das Modell ins Feld zu führen.
4Vgl.: Livestock's long shadow: http://www.fao.org/docrep/010/a0701e/a0701e00.HTM und darüber hinaus http://ec.europa.eu/environment/climat/campaign/control/additional_de.htm und http://www.vebu.de/alt/nv/dv/dv_1993_1__Oekologie_der_Viehwirtschaft,_World_Watch_Institute.htm, http://www.worldwatch.org/files/pdf/Livestock%20and%20Climate%20Change.pdf, sowie die Sammlung an Studien zu diesem Thema unter http://www.vegetarismus.ch/klimaschutz/
5Vgl.: http://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/schweine-sind-ich-bewusst, Bekoff, Marc: Das Gefühlsleben der Tiere, Ein führender Wissenschaftler untersucht Freude, Kummer und Empathie bei Tieren, Bernau 2008, Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994, Wolf, Ursula: Das Tier in der Moral, Frankfurt am Main 2004, Wolf, Ursula (Hrsg.): Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008.

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