Samstag, 30. November 2013

Flüchtige Momentaufnahmen, Provokationen und Gedankenspiele

Hier, als dritter Eröffnungspost ein paar kürzere Sachen, um einen Einblick ins Themenspektrum zu bieten und ersten Lesern ein wenig mehr zu bieten...

Wahllos aneinandergereiht...

Kunst und Wert
Der zentrale Mehrwert von Kunst für Bildung besteht weder in der ästhetischen Aufarbeitung wissenschaftlicher Ergebnisse (wie z.B. bei der künstlerischen Erprobung relationaler Raumvorstellungen), noch in der Vermittlung von Möglichkeiten der Erprobung neuer Ausdrzcksformen zu diesem Zweck oder zum Zwecke der Schaffung eines Selbst, sondern vor allem in der Thematisierung der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, indem die Kunst es vermag alternative Wirklichkeiten gestalterisch zu erschaffen oder diese auch nur abzubilden und somit vermittelbar, erfahrbar zu machen.


Welt und Wirklichkeit
Eines der größten und schwerwiegensten Missverständnisse, der die Allgemeinheit zum großem Teil aufsitzt, liegt in der Annahme des s.g. "Naiven Realismus" begründet, als der Idee, dass die Welt so ist, wie sie sich uns in unserer Wahrnehmung darstellt. Die "Realität", oftmals die Problematik verschärfend normativ aufgeladen und als "Normalität" gesetzt, wird so zur Begründung des Handelns. Diese ist jedoch nicht mehr als ein Konstrukt, ein Ideal, dass sich aus einem
möglichen Ausschnitt der (Be)Deutungsvielfalt herausschält und ihrerseits die Wahrnehmung der Welt prägt. Diese Konstruktion erfüllt zum Einen den Sinn, dem Chaos der Vielfalt zu entkommen und Handlungsfähigkeit zu erzeugen und zum Anderen, um Gemeinschaft über eine gemeinsam
konstruierte und bestätigte Wirklichkeit zu schaffen. Dabei bildet diese Normalitätskonstruktion nur ein Ideal, eine Bedeutungsnetzwerk an Möglich- und Verbindlichkeiten, aus dem sich je unterschiedlich stark die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bedienen. Die Funktion wird also nur zum Teil erfüllt und das Ideal selbst wird nur unzureichend und in starkem Sinne nur von einer Minderheit getragen, die mit unterschiedlichen Aneignungen und konkurrierenden Wirklichkeit im Konflikt steht.
Dies heisst nun nicht, dass wir in einen Relativismus verfallen dürfen oder müssen. Es heisst lediglich im Sinne kritischen Denkens die eigene Wirklichkeit zu hinterfragen und geeignetere Bewertungskriterien zu finden als jene nach einer größtmöglichen Passung mit einer nicht existierenden (bzw. nicht zugänglichen) Realität.
Diese Bewertungskritieren richten sich ihrerseits nach ihrer Funktion. Für die Psychotherapie ist das Auswahlkriterium für eine Wirklichkeit ein erträglicheres Leben für das Individuum, für generelle, in diesem Sinne moralischere Handlungsweisen, ist es die Ethik selbst, die das Kriterium stellt. In diesem Sinne steht die Forderung nach einer Ethik, die sich als Methode und nicht als Normenkatalog und damit als eigenständige Wirklichkei präsentiert.


Gesellschaft, Ordnung und Verbrechen
Jede Gesellschaft schafft sich ihre Verbrechen und Verbrecher selbst. Die Gefängnisse und ihre strafende Praxis sind der Spiegel dieser Gesellschaft und ihres unhinterfragten Werte- und Verstehenshorizonts. Was strafen wir an einem Mörder? Das Töten ist der Allgemeinzustand, es geschieht täglich, stündlich, minütlich. Das Töten ist eine Kulturtechnik. Am "Tier" und "Feind" geübt, in Ausübung wie Akzeptanz, ist es nur ein kleiner Schritt zum Menschen allgemein. Worin besteht der qualitative Unterschied? Was die Gesellschaft am Mörder straft ist nicht das Töten selbst, es ist die Verletzung ihrer kategorialen Ordnung.


Wissenschaft
Wissenschaft, abseits ihres selbstgerechten Postulats und des Drucks seitens der Masse, der sich aus Argowhn speist, wertet immer. Das Auswahl des Themas ist eine Wertung und die Zurückhaltung, die letztlich das Bestehen der Welt(deutung) bestätigt, ist eine Wertung. Sie muss sich dessen bewusst werden und soll werten. Wissenschaft soll nicht nur finden, was die Welt im innersten zusammenhält, sondern ihre Ergebnisse selbst wertend und verändernd einbringen statt diese Ergebnisse schlicht instrumentalisieren zu lassen, denn letzteres ist ihr größter Fehler. Philosophie raus aus dem Elfenbeinturm und rauf auf die Straße, rein in die Gesellschaft und auf die Barrikaden!


Wahrnehmung und Veganismus
"Du denkst also, du bist das besseres?!" ist eines der Grundvorwürfe gegen Veganer und Vegetarier.
Dass dieser Ausspruch Sinn macht bedeutet, dass es keine Vorbilder, keine Helden des Alltags gibt und geben darf. Gegen jede Form des Besseren wird uns ein grundlegendes Unbehagen anerzogen, das die Massen und ihren Konformismus als Ideal feiert und die Quantität als Legitimationsprinzip bestätigt.
Dabei wird jedoch das "Besser-sein" nicht negiert, sondern schlicht ignoriert, um in Selbstgerechtigkeit verharren zu können.
Freilich wird dabei übersehen, dass zu unterscheiden ist zwischen ethischerem Denken und moralischerem Handeln oder Leben, dessen Unterscheidung oder besser Nichtunterscheidung einen Teil des Unbehagens ausmacht, da noch mehr als gegenüber moralisch besserem Handeln, Vorurteile gegen ethischeres Denken, dass immer präskriptiv, belehrend, verändernd sein muss(!), bestehen.
Wir alle sind nun aber relativ, auf unterschiedlichen Gebieten, moralisch besser lebend als andere. Wir alle genügen relativ höheren Werten gemessen an ethischen Massstäben.
Jedoch sind nur einige davon durch die Masse legitimiert und genau hierin liegt die Wurzel ethischeren Denkens, dem sich jedoch nur wenige befleissen.
Freilich ist auch der Veganismus ein Schema (wie auch und noch problematischer das Essen von Fleisch), das angeeignet wird, sich auf Vorannahmen und Dogmen bezieht, denn das Denken und Handeln in und mit Hilfe von Schemen gehört zur Grundstruktur menschlichen Seins. Und freilich bedeutet dies auch, dass viele Veganer nicht "besser" sind, im Sinne, dass sie sich häufiger ethischer Reflektion hingeben, ihr Handeln im Alltag häufiger auf ethischem Denken basiert. Aber dies bedeutet nachwievor, dass sie genau auf dieser einen Ebene, gemessen an ethischen Massstäben moralischer handeln und genau das macht sie "besser" in Relation zu Menschen, die dies nicht tun. Gegen diese Bewertung besteht jedoch eine zutiefst ablehnende Haltung, die ihren Ursprung im Postulat der individuellen Gleichheit der Voraussetzung zur moralischen Bewertung hat und im Dogma der Toleranz, entstanden aus der Ablehnung objektiver und absoluter Wahrheiten. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Negierung einer absoluten Wahrheit oder eines absoluten Guten sehr wohl zwischen Alternativen entschieden werden kann, diese Entscheidung jedoch Reflektion und Wissen benötigt, dass nicht ohne Weiteres zugänglich ist. Expertenwissen wird jedoch überall dort abgelehnt, wo es sich auf Erklärungen von Handeln oder Aufruf zum Handeln bezieht. Nicht zuletzt zeigt sich dies in der Ablehnung und dem Unverständnis gegenüber den Geistes- und Sozialwissenschaften, der Neurobiologie und der Psychologie.
An diesem Wissen und der Fähigkeit zum ethischeren Denken und an dem moralischeren Handeln einzelner, ist nun jedoch weder etwas Verwerfliches, noch Schreckliches. Das "Besser-sein" einiger ist die Grundlage für jede moralische Weiterentwicklung. Wir sollten endlich lernen Weiterentwicklung anzuerkennen, insbesondere auch dann, wenn sich diese Weiterentwicklung auf nicht schon ausgetretenen Wegen bewegt, nur sollten wir dabei nie vergessen, dass auch wir immer "besser", als auch "schlechter" sind.

Veganismus, auch wenn er sich gern anders verstanden haben will, hat oftmals mehr mit dem ihn aneignenden Individuum zu tun, als mit "den Tieren", den er in den meisten bestehenden institutionalisierten Formen wenig hilft. Der größte Antrieb ist eher die Aufrechterhaltung der Vorstellung eines moralisch integren Selbst gemäß des eigenen Wertesystems, dass sich jedoch in weiten Teilen immer noch innerhalb annerkannter Wertesysteme bewegt und eher das Selbst zum Ziel hat, als das in seinem moralischen Status neu bewertete "Opfer"-Individuum. In der praktischen Arbeit geht es entsprechend in der Regel nicht um das Leid der gegenwärtigen Tiere um ihrer Selbst willen. Vielmehr ist dieses Leid rhetorisches Mittel und theoretische Begründung, um das eigentlich in den Handlungen implizit oder explizit anvisierte Ziel zu befördern: das Verhindern der Produktion zukünftiger Generationen die Leid ertragen müssen. Dieses Ziel ist dabei keinesfalls gering zu schätzen, es missachtet als alleiniges jedoch die gegenwärtigen Opfer zugunsten des Schutzes des eigenen Selbst und der "Herrschaftsgruppe".
Nur wenige sind demgegenüber bereit, die nötigen Schritte zu denken, geschweige denn auszuführen, um auch gegenwärtiges Leid zu beenden. Die Masse ist dafür
"zu gut erzogen". Das Resultat dieser "Erziehung" ist die beständige Reproduktion von Sklaverei und Barbarei unter dem Schutz einer falsch verstandenen Zivilisiertheit. Die Reduktion von Handlungsoptionen in der Durchsetzung von Zielen hat uns von Barbareien befreit, ebenso wie sie uns in Barbarei verharren lässt und jede Veränderung in eine bessere Zukunft verdrängt und die Gegenwart und ihre Opfer gering schätzt. Was ist damit gemeint? Die Frage ist nicht, ob Gewalt schlecht ist, wie man heute gerne meint, sie ist einfach, wir treten ihr als einer Konstanten gegenüber. Wir haben einige Formen der Gewalt nur durch andere ersetzt, einige barbarisiert, andere kultiviert. Diese kultivierten Gewaltanwendungen sind nun dank der Barbarisierung anderer Formen kaum zu überwinden oder kurzfristig, mit Blick auf die Gegenwart der Opfer, zu beenden.
Der Schlachthof im Zusammenhang mit dem Schutz des Eigentums, wie auch jede Form bürokratisch-struktureller Gewalt sind die besten Beispiele hierfür.

Wenn der Veganismus mehr sein will und soll als ein weiteres, wenn auch moralischeres Weltdeutungsangebot und Handlungsschema, sondern sich zugleich als ethische Methode begreifen und damit wirklich ethischen Ansprüchen genügen, muss sein Kern im Hinterfragen von Konventionen liegen.
Dies muss sich nicht zuletzt, sondern vor allem auch auf seine eigenen Konventionen, sein eigenes Tun erstrecken. Er muss damit auch jeder aus ihm stammenden Regel mit Skepsis begegnen und sich beständig neu erfinden.

Kultur kennt maßgeblich zwei grundlegende Ebenen.
Als das Phänomen bezeichnet, wie Gesellschaften sich selbst und ihrer Umwelt Sinn und Bedeutung verleihen und tradieren und welche Bedeutungen das sind, kennt sie eine "primitive" oder erste Stufe und eine zweite.
Die erste besteht darin, Phänomenen maßgeblicher physikalischer Natur Funktionen und Bedeutungen zuzuschreiben, die Ihnen aufgrund ihrer wahrnehmbaren physikalischen Eigenschaften zukommen (so z.B. bei Werkzeugen wie Stöcken, die gebraucht werden, um damit Nahrung zu erreichen). Die zweite Ebene ist komplexer, da hier Phänomenen Bedeutung und Funktionen zugeschrieben werden, die diese Funktionen überhaupt erst konstituieren. Geld in Form eines Geldscheins oder soziale Institutionen wären solche Phänomene, da ihre physikalischen Eigenschaften nicht die sind, aus denen sich grundsätzlich die Funktion speist. Erst durch die Zuschreibung sind diese Phänomene überhaupt fähig, diese Funktion erfüllen zu können in einem sehr rudimentären Sinn.
Das bringt uns dazu, dass wir nicht umhin kommen auch Tieren zumindest primitive Formen von Kultur zuzuschreiben, Formen, denen auch Menschen sich nachwievor bedienen. Als eine grundsätzliche Trennung von Mensch und Tier kann Kultur somit nicht mehr gelten, allenfalls ein gradueller Unterschied ist auszumachen. Damit muss eine weitere Grenze, ein weiterer Rettungsanker der Dichotomisierung fallen.

Eine der großen Schwierigkeiten der Anerkennung von Tierrechten liegt in der unsichtbaren Struktur gesellschaftlicher Wirklichkeit, die völlig unzureichend oder besser gar nicht, reflektiert wird. Die Wahrnehmung des Wesens des Seins der Tiere innerhalb unserer Lebenswelt ist erlernt als nur aus menschlichen Zwecken bestehend, die die immanenten Eigenschaften ihres Seins, also all jene, die nicht durch Zwecke für uns bestimmt sind, völlig aus der Vorstellung, die wir von ihnen haben entfernt. Diese Eigenschaften gehören scheinbar nicht einmal dem semantischen Gehalt der Begriffe an und zeigt sich besonders deutlich in perfiden Bezeichnungen wie "Nutztier". Diese sich in der Verteidigung gegen Tierrechte zur Ideologie verdichtende "Ontologie des Tieres" gilt es zu durchbrechen, nicht nur um den Tieren zu ihrem Recht in mehrfacher Bedeutung zu verhelfen, sondern auch als Beitrag zu einer mündigeren Gesellschaft.


Living History
Ein großes Problem, das sowohl klassische Museen aber auch Living History in seiner Fixierung auf Sach"kultur" aufweisen, ist, dass sie Artefakte fremder Kulturen losgelöst von ihrem sozialen Kontext präsentieren, der ihre Bedeutung (die in großen Teilen ihre Verwendung und ihre semantisches Feld ist) allererst erst konstituiert. Damit bleibt dem Betrachter nur der Rückschluss auf Reste ähnlicher Bedeutungen in der Gegenwart und führt dazu, dass nur ein kleiner Teil der Bedeutung letztlich erfasst wird. Dies wird verstärkt durch den Umstand, dass Teile der Bedeutung, ihrer Konstitution und des semantischen Gehalts auch gegenwärtiger Artefakte kaum bewusst werden und wo sie es sind, als unhinterfragter quasi-objektiver und quasi-natürlicher Betsandteil des Artefakts selbst gedacht werden. Die sozio-kulturell bedingte Konstruktion der Bedeutung des Artefakts, die den eigentlich Kern der Betrachtung darstellen sollte, da sie den eigentlichen Mehrwert darstellt, bleibt somit weithin verborgen. So wird ein großer Teil des Bildungspotentials verschenkt, Wissen wird zwar vermittelt aber Bildung kaum geleistet. Eine noch auszuarbeitende Didaktik des Living History als Vermittlungsmethode muss dies berücksichtigen.


Schule, Bildung und kritisches Denken
Wer intellektuell in diesem Land etwas wird, erreicht dies trotz der euphemistisch so bezeichneten Bildungsinstitutionen. Weder in der Schule, noch zunehmend in der Universität wird noch Bildungsarbeit geleistet, ein kritisches Bewusstsein aufgebaut. Vielmehr wird nur noch formales Wissen vermittelt und alles unter das Paradigma des Kapitalismus gestellt. Diese Fixierung auf formales Wissen wird begleitet von der fetischistischen Hofierung bestimmter Teile der Naturwissenschaften und des Ingenieurwesens. Auf diese Weise erhält sich das System stark. Das "Bildungssystem" gebiert so fortwährend Individuen mit mangelnder Bildung, ohne kritisches Potential, ohne die Fähigkeit der Infragestellung oder nur der Wahrnehmung der Konstruktionsmechanismen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es sorgt dabei jedoch für eine innovative, auf Technik fixierte Geldmaschinerie. Eine nötige Bildungskritik wird so notwendig immer auch Systemkritik.

Wissenschaft ist das fast blinde Herumstochern im lebendigen Körper der Welt, um zu wissen, was die Welt im innersten zusammenhält und dies mit Gedankeninstrumenten, die geschaffen wurden ohne wirklich zu wissen, was einen dort drin erwartet...

Philosophen und richtig verstanden könnte man dies auch auf fast alle Geistes- und Sozialwissenschaften erweitern, sind mit einem besonderen Privileg ausgestattet. Sie dürfen Konventionen, Gewissheiten, Identitäten und damit auch Legitimationen hinterfragen, kritisieren und zu Fall bringen. Dieses Privileg wird ihnen jedoch zum Preis allgemeiner Geringschätzung ihres Urteils und ihrer gesamten Disziplin durch die allermeisten Systeme und Systemebenen gewährt, in denen sie operieren. So erhält man die Illusion von Kritik und denkerischer Freiheit, zahnlos, ungefährlich, unbedeutend. Mit diesem Handel muss Schluss sein. Philosophie darf sich nicht im Denken erschöpfen, sondern muss auch Handeln sein, das seine Bedeutung einfordert.

Ob im Job, in der Schule oder allgemein in der sozialen Welt, der Verweis auf Konventionen als scheinbar nicht weiter zu begründende objektive Fakten und Handlungsanweisungen ist die Regel. Dabei haben Konventionen weder einen eigenen Wert außer eines instrumentellen, noch sind sie zwangsläufig. Sie sind vielmehr veränderbar, willkürlich und einer bestimmten historischen Entwicklung und psychischen und sozialen Bedürfnissen im Rahmen bestimmter Weltdeutungssysteme geschuldet.
Sie bieten Orientierung und Sicherheit, sie sind der quasi-religiöse Mantel, der das soziale Leben bestimmt. Sie sind der einfache Weg des Konservatismus, indem man sich blind treiben lassen kann, um den Preis jedwede Ungerechtigkeit beständig zu reproduzieren und jedweden Anspruch auf ein ethisches Leben aufgeben zu müssen, sich ihnen zu unterwerfen ist zugleich der Untergang in den Relativismus und moralischen Deskriptivismus.
Der andere Weg besteht darin, ihr wahres Sein zu erkennen und sie und ihren offen wie verborgenen Einfluss beständig zu hinterfragen.
Die Erkenntnis dieses eigentlichen Seins von Konventionen ist dabei die allererste Grundbedingung kritischen Denkens.

Je gebildeter ein Individuum wird, in einem Sinne, dass diesen Namen verdient, je mehr es Stufen kritischen Denkens erreicht und moralische Urteile losgelöst von Konventionen treffen kann, je mehr es das Handwerkzeugs erhält soziale und kulturelle Mechanismen zu analysieren und zu durschauen, desto größer werden der Nutzen und die Gefahr für Systeme jeder Größe.
Gib einem solchen Individuum Freiheit zur Entfaltung und es wird verändern, setz ihm konventionelle Grenzen und es wird zerstören, sich selbst oder das System.

Je mehr sich das Individuum mit Sozial- und Geisteswissenschaften, mit Psychologie und Neurobiologie beschäftig und darannicht zerbricht, nicht sein Selbst im Strudel der Komplexität der sozialen, kulturellen und biologischen Prozesse verliert, kurz, je mehr ein Individuum sich bildet in einem Sinn, der diesen Namen verdient, umso mehr schwinden liebgewonnene Dogmen, umso komplexer wird das Gewirr aus Prozessen und Mechanismen, die verändert und angeeignet werden, umso mehr öffnet sich das komplexe Gewebe der sozialen Welt und umso kleiner wird der Spielraum einer Anthropologie, die auf den freien Willen aufbaut und gleichzeitig öffnet sich ein neuer Spielraum von Handlungen und Entscheidungen. Umso mehr müssen liebgewonnen, Sicherheit und Orientierung versprechende Feindbilder weichen. Der Hass weicht Verständnis aus dem Mitleid erwächst, dass strafen aber nicht verurteilen kann.
Umso mehr müssen letztlich sich als Selbstzweck inszenierende, primitive Weltdeutungen und Lösungsvorschläge weichen. Solche Primitivität, wie sie nahezu allen existierenden politischen Systemen innewohnt muss überwunden werden. Um genauer zu sein, müssen solche Systeme und Lösungen als Selbstzweck überwunden werden. Allenfalls wo sie einem höheren Zweck dienen erhalten diese relativen und zeitlich begrenzten Wert. Sie müssen, wie jedes politische System die Grundlage ihrer eigenen Zerstörung in sich tragen lernen.
Dies sollte eine der Grundaxiome metapolitischer Überlegungen sein.

 
Welt und Wirklichkeit
Eine scheinbar triviale Aussage kann zu großer Einsicht führen..."Hasse nicht die Spinne, sie kann nich dafür, wer sie ist." Und so wie die Spinne können auch wir kaum mehr dafür, wer wir sind, auch wenn wir gern so tun, als wären wir so viel mehr als sie. Weit stärker als wir gemeinhin zu glauben bereit sind, formen uns die "natürlichen", sozialen, kulturellen und biographischen Umstände. Selbst die scheinbar freie Entscheidung basiert nicht zuletzt zu großen Teilen auf der durch diesen Rahmen geformten Interpretation. So können und vielleicht müssen wir vielleicht verhindern, verletzen, strafen, vielleicht sogar vernichten um zu verändern und zu verbessern aber niemals ohne bedauern und nie dürfen wir dabei hassen. In dieser Hinsicht muss der Mensch ein zutiefst gespaltenes Wesen sein.

Das wichtigste an einer Regel ist es, sie zu hinterfragen.

Das Ich ist ein Fluss. Urplötzlich entspringt unser Bewusstsein einer mysteriösen Quelle, die ihm verborgen bleibt. Fortan fliessen wir dahin ohne Rast, verlieren beständig hier und dort etwas Wasser und neues fließt hinzu bis zum ebenso plötzlichen Zurücksinken ins Mysterium. Die fließende Veränderung ist unser Wesen.

Jede Strukur, ganz gleich auf welcher Ebene, die sich in starren Konventionen verliert und kritisches Potential in sich aufnimmt, auf das sie angewiesen ist, will sie zukünftsfähig, reflektiert oder "gerecht" sein, wird entweder zerstört oder zerstört dieses Potential. Strukturen, ganz gleich ob Gruppen, Organisationen, Firmen oder Staatssysteme müssen wandlungsfähig und -willig sein. Nur so können sie überhaupt einen Sinn erfüllen oder auch nur ansatzweise einen Anspruch auf "Richtigkeit", "Wahrheit" oder "Moralität" erheben.

Der Glaube die Aufgabe von Gott als Lenker der Welt hätte uns "befreit" ist nichts als ein Irrglaube, ein selbstgerechtes, selbstverliebtes Statement. Die Verunsicherung, die der Wegbruch fester Werte und damit Sicherheit erzeugt hat, wurde durch das Dogma der Natur gefüllt.
Aus ihr selbst heraus sollten nun die Gesetze des Lebens und das Gute der Welt erkannt und legitimiert werden.
Dieser neue Irrglaube wirkt bis heute in erschreckender Weise nach. Das vermeintlich Natürliche der Welt und des Umgangs des Menschen mit sich und ihr, das letztlich nicht mehr ist als das alltäglich Sichtbare, dessen soziale und kulturelle Konstruktion geleugnet oder negiert wird, ist nun der Maßstab und der Grund der neuen Werte geworden. Eine solche Weltkonstruktion und ihre Werte leben von Naturalisierungen sozialer und kultureller Mechanismen und einer durch und durch positivistischen Sichtweise.
So wie die soziale Hierarchie in der Frühen Neuzeit durch das Beobachten scheinbar natürlicher, jedoch sozial eingeübter und unter bestimmten Vorstellungen gedeuteter Verhaltensweisen gerechtfertigt wurde, so wird auch heute noch die Superiorität des "Menschen" gegenüber dem "Tier" festgeschrieben.
Die Möglichkeit dessen ergibt sich nicht zuletzt aus einem Missverständnis, das darin besteht, alltägliche Beobachtungen als quasi naturwissenschaftliches Testsystem zu deuten.
Dabei handelt es sich jedoch nur um eine lebensweltliche und nicht wissenschaftliche Beobachtung, die ihre eigenen Vorannahmen übersieht und die das Bestehende somit nur bestätigen kann, bereits deutet statt beobachtet und antwortet statt fragt.
Dies ist möglich aufgrund des inszenierten alltagsmenschlichen Selbstverständnisses als vernünftiges und praktisch immer zum reflektierten Selbstdenken fähigen (und damit allezeit wissenschaftlich beobachtenden) Wesens, sowie der Verleugnung des Werts von Sozial- und Geisteswissenschaften und der Superiorität naturwissenschaftlicher Forschung oder in diesem Sinne einer abgespeckten, selbstkritikfreien Version dessen.

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