Samstag, 30. November 2013

Dürfen wir Tiere essen?

Eine Frage wie diese zu beantworten, so einfach es auf den ersten Blick auch erscheinen mag, ist schwierig. Zu untersuchen warum sie so schwierig ist, bringt uns aber, so denke ich, ihrer Beantwortung oder besser der Möglichkeit dazu näher.
Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus der Nähe des Fragenden zur Frage. So wird kaum jemand je über die Todesstrafe konkreter Personen entscheiden müssen, während die vorliegenden Frage untrennbar mit eigenen Handlungen und der Frage nach eigener moralischer Schuld verbunden ist. Dies führt schnell zu affektiven, vor allem abwehrenden Reaktionen (Vgl. von Scheve 2009, insb. S. 313ff; Landweer 1999, S. 178). Verdrängen und Vergessen sind Überlebensstrategien des (positiven) Selbst(bildes).
Die nächste Schwierigkeit besteht in der vermeintlich natürlichen aber konstruierten und einer bestimmten historischen Entwicklung und Weltdeutung geschuldeten Ferne des Fragenden zum fraglichen „Objekt“. Bereits die Frage impliziert eine Kluft, ein „Wir“, dem ein „Anderes“ gegenüber steht, ein Trennendes wird vorausgesetzt und auf dieses fokussiert. Dabei werden zunächst rein deskriptive Eigenschaften (meist Äußerlichkeiten, der Körper, die Form) über die die Zuteilung in entsprechende Kategorien ausgeführt wird, als „anders“ und in diesem Sinne eben nicht „besonders“ konzeptionalisiert, verallgemeinert und normativ aufgeladen. Zu einer bestimmten, einer anderen Kategorie zu gehören reicht aus, um auf bestimmte Weise behandelt zu werden. Solche Kategorien werden zur zirkulären Begründung des moralischen Status, sie strukturieren die Wahrnehmung, bestimmen den Diskurs und bestätigen die Vorannahmen, indem sie den zu beweisenden Unterschied (sprachlich) produzieren. Sie werden durch Denken und Handeln weiter tradiert und durch ihre fortwährende Erzählung zum legitimierenden Mythos, der aufgrund der Undurchsichtigkeit seiner Entstehung, seiner sozialen Teilung und folglich emotionalen Bindung als natürlich gegebene Autorität im Alltagsverständnis missverstanden wird (Lyotard 1990).
Folglich findet die Debatte nicht in einem „leeren Raum“ der Kontemplation statt, sondern in einer Welt, in der die Frage praktisch beantwortet scheint. Die Handlungsaufforderungen sind bereits formuliert.
Dies kritisch zu hinterfragen bedeutet damit auch ein Austreten aus der sozialen (und emotionalen) Sicherheit des Konformismus. Die Gewissheiten der sozialen Gruppe, ihre kollektive Identität und die Anerkennung durch diese sind gefährdet und dies wird nicht selten sanktioniert.

Allerdings sind solche Routinen nicht allein negativ zu verstehen. Sie reduzieren Komplexität, bedeuten Stabilität und ermöglichen Handlungsfähigkeit in der alltäglichen Lebenswelt. Aber sie müssen beständig hinterfragt und neuen Erkenntnissen angepasst werden. So sinnvoll ihre Einfachheit ist, so gefährlich ist sie.
Die Frage zu beantworten, sich bereits mit ihr zu beschäftigen, ist damit auch ein Stück des Weges zum mündigen Selbst, im Zuge dessen Wahrnehmungsschemata hinterfragt, das Seiende auf sein Gewordensein hin untersucht und seine Normativität in Frage gestellt wird. In diesem Sinne kann zumindest die leicht umformulierte Frage: Sollten wir Tiere essen, ohne die Frage kritisch betrachtet zu haben, mit „nein“ beantwortet werden.

Eine Analyse der Frage, ihrer Vorbedingungen, sowie der eigenen muss am Anfang philosophischer Betrachtung stehen. Es gilt den Blick zu klären, die Wahrnehmung (und den Diskurs) von der Einengung durch vorangehende Vorstellungen und Machtkonstellationen zu befreien, denn nur mit einem ungetrübtem Blick kann der Frage schließlich vor-urteilsfrei nachgegangen werden.1

Ein großer Schritt Richtung Beantwortung besteht damit darin zu schauen, ob die intuitiven Urteile des Alltagshandelns auf solchen Vorurteilen beruhen, bzw., ob sie eine zentrale Eigenart moralischer Urteile besitzen. Diese ist nach Hare, die Universalisierbarkeit moralischer Urteile, also die Verbindlichkeit des Urteils in allen ausreichend ähnlichen Sachverhalten. Unterschiede im Urteil müssen moralisch relevante(!) Unterschiede in der Situation sein, also solche, denen eine Relevanz für die Situation nachgewiesen wird, die nicht von vornherein zugeschrieben ist, bzw. nicht auf einer Voreingenommenheit beruhen (Hare, Präskriptivismus, 1992). Anders formuliert handelt es sich hierbei um den Gerechtigkeitsanspruch der Ethik.2

Damit ist zu fragen, ob die postulierten Unterschiede überhaupt existieren oder für die Frage relevant sein können.
So ist auch die Hautfarbe, die eine Zeit lang als Unterschied galt, bzw. verallgemeinernd auf einen solchen verwies, grundsätzlich kein moralisch relevantes Merkmal, wenn es um die Frage nach Verteilungsgerechtigkeit geht. Die Hautfarbe als deskriptives Merkmal macht eben keinen begründbaren Unterschied im Gegensatz zum Reichtum einer Person, da sich dieser z.B. direkt auf die Folgen auswirkt.

Philosophische Annäherungen benutzen nicht selten Vergleiche oder Analogien zur Annäherung und Verdeutlichung. In diesem Fall ist dies besonders heikel, da die häufig benutzten Analogien die erwähnten Schutzmechanismen und Entrüstung hervorrufen und somit oberflächlich allzu leicht das zu Verdeutlichende ablehnen lassen. Nichtsdestotrotz soll auch hier derart vorgegangen werden, da man sich nun, gewappnet mit dem Wissen um die angesprochenen Prozesse, gefahrloser eines solchen bedienen kann.

Die Frage, die ich stellen möchte ist: Würden Sie einen Menschen essen? Ich hoffe die Antwort lautet „nein“, um meine Betrachtung zu Ende führen zu können. Zumindest wäre das zu erwarten. Soweit, so deskriptiv. Wichtiger ist nun die Frage, warum nicht?
Was könnte der moralische Grund sein, keine Menschen zu essen, der aber mit Blick auf die eigentliche Frage, auf Tiere nicht anwendbar ist und dabei nicht zirkulär auf die konstruierten Kategorien als Begründung verweist?
Für einen von vornherein möglichst großen Unterschied könnte (moralische) Reziprozität angeführt werden. Da nur Menschen fähig seien moralische Rechte anderer zu berücksichtigen, besteht auch nur diesen gegenüber eine Verpflichtung. Aufgrund des impliziten Konsens, das Menschen zu essen (moralisch) falsch sei, wird es unterlassen. Solche Begründungen entspringen vertragstheoretischen oder diskursethischen Überlegungen, von denen letztere hier betrachtet werden sollen.3 Erstere hingegen wurden jüngst durch Nussbaum deklassiert (Nussbaum 2010).

Die Grundlage diskursiver Ethik, die Teilnahme aller betroffenen und sprach- und handlungsfähigen Subjekte (meist als Personen kategorisiert), führt nun zu einigen Problemen. Diese ergeben sich aus zwei oberflächlichen Gleichsetzungen. Die erste umfasst die Begriffe „Mensch“ und „diskursfähig“. Dabei ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen, je nachdem, was als Grundlage der Diskursfähigkeit vorhanden sein muss. Ist dies Sprachfähigkeit im Sinne der Fähigkeit sich mittels menschlicher Zeichensysteme auszudrücken (was bereits zu kritisieren wäre) müsste eine Erweiterung vorgenommen werden, die auch Affen, die sich mit Zeichensprache verständigen können, in den Diskurs aufnimmt und Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen ausschließt.
Einige Menschen sind genauso wenig sprach- und handlungsfähig wie viele Tiere, bzw. einige Tiere sind genauso sprach- und handlungsfähig wie viele Menschen.
Allerdings bemerkt selbst Habermas, dass Kommunikation mehr als Sprache umfasst (Habermas 1991, S. 223). Für abstrakte Diskussionen um moralische Normen ist eine abstrakte Sprache zwar unablässig, für die im Diskurs zu äußernde Forderung nach Anerkennung und der „Formulierung“ von Interessen jedoch nicht. Nonverbale Kommunikation ist weitaus umfangreicher und universaler (man denke nur an den Bereich der Emotionsexpressionen, die wichtiger Teil der Bedürfniskommunikation sind).

Weiterhin wird der Diskurs auch nicht von allen im engeren Sinne „Sprachfähigen“ geführt. Der Zwang des besten Arguments diskursiver Ethik führt dazu, dass die moralischen Regeln von Wenigen bestimmt werden, da mehr als Sprache für „vernünftige“ Argumente nötig ist (Habermas 1991, S. 154). Ein Mindestmaß an Reflektions- und Abstraktionsvermögen, sowie Intelligenzformen sind nötig, um sinnvoll am Begründungsdiskurs teilzunehmen. Oder anders: nur Wesen, die innerhalb der moralischen und kognitiven Entwicklung weit genug sind, (hier sei auf die Diskussion zur stufenweise Ontogenese der Moral verwiesen), nehmen aktiv am Diskurs teil.4
Nicht alle Menschen sind also Teil des Diskurses und noch weniger nehmen über die bloße Formulierung ihrer Interessen hinaus Anteil.

Die zweite Gleichsetzung besteht nun darin, auch die Menge der Diskursteilnehmer mit jener der Betroffenen gleichzusetzen. Dies ist offensichtlich falsch, da nicht alle Betroffenen am Diskurs teilnehmen. Habermas selbst schreibt: „Der praktische Diskurs erfordert die Einbeziehung aller jeweils berührten Interessen [...]“ (Habermas, 1991, S. 25) Wenn nun aber alle betroffenen Interessen einbezogen werden sollen, dann auch die Interessen und Bedürfnisse von Nichtdiskursteilnehmern. (Vgl. Habermas 1991, S. 42f) Eine Variante dies zu beheben ist die Übernahme der Verantwortung durch Vertreter (moralische Advokaten) wie sie Weisshaupt vorsieht (Vgl. Weisshaupt 1991, S. 81) Allerdings ist eine Ausdehnung auch auf Tiere möglich, denn auch diese haben den Status von Betroffenen.

Es ist also nicht möglich Reziprozität als moralisch relevantes Merkmal aufzufassen, dass als Grund gelten kann, das Nichtessensollen von Menschen und das Essendürfen von Tieren zu begründen. Ein weiteres Kriterium muss her.
Als solches könnte Potentialität oder aber das, was als normale Eigenschaften der Spezies bezeichnet werden kann, gelten.
Auch ersteres hilft aber wieder nicht weiter, denn einige Menschen sind auch nicht potentiell zur Reziprozität fähig, z.B. bei bestimmten geistigen Beeinträchtigungen.
Zudem wird bei beidem übersehen, dass bei der Beurteilung gerade die gegenwärtige Lage entscheidend ist. Einem Rollstuhlfahrer ist wenig mit dem Verweis geholfen, er wäre potentiell fähig zu laufen oder es gehöre zur normalen Ausstattung seiner Spezies laufen zu können. Er kann es nicht und dies ist der Grund warum die Gesellschaft den Bau von Rollstühlen und Rampen befürwortet, weil seine momentane Situation ihm anders eine Teilhabe nicht gestattet, weil sie nicht durch „Normalität“ (ohnehin zu kritisieren) im erwähnten Sinne geprägt ist.5
Es funktioniert also nicht Berücksichtigung der Interessen und des Wohls für Säuglinge einzufordern, weil sie einmal Erwachsene sein werden, für Demente, weil sie dies einmal waren und für schwer geistig Behinderte, weil sie es in einem Paralleluniversum nicht sein müssten. Ihre Beachtung wird aus ihrer gegenwärtigen Perspektive heraus mit Blick auf ihre jeweiligen Bedürfnisse gefordert.

Ein anderer Grund Menschen nicht zu essen (Tiere aber schon) könnte nun der Verweis auf die Nähe sein, bzw. eine innerspeziesale Verbundenheit.
So nimmt beispielsweise Norbert Hoerster eine natürliche Mindestverbundenheit der menschlichen Spezies zueinander an, die stärker als zu Tieren ist (Vgl. Hoerster 2004, S. 53f).
Allerdings ist diese empirisch nicht umfassend nachweisbar, um als quasi natürliche Autorität herhalten zu können.
So ist empfindet ein Rassist oder Sklavenhalter beispielsweise nicht unbedingt ein stärkeres Mitleid zu einer andersrassigen Frau denn zu einem Tier. Die „Natur“ des Rassismus kann bewirken, dass dem Rassisten das Leben und Wohlergehen seines Hundes wertvoller ist, als das von Andersrassigen. Grundlage für eine solche Verbundenheit wäre eine positive emotionale Bindung, bei der es sich jedoch um je spezifische, (sub-)kulturell konstruierte Emotionsnormen statt um natürliche Gegebenheiten handelt.
Sozialität und emotionale Bindungen kommen empirisch inklusiver und exklusiver vor. Eine Verbundenheit kann sich auf Einzelne, auf Gruppen, schlicht auf alles beziehen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass alle zur Sozialität fähigen Tiere auch über Speziesgrenzen hinaus instinktive und/oder emotionale Bindungen eingehen können.
Eine natürliche Verbundenheit gegenüber der eigenen Spezies ist grundsätzlich also nicht gegeben. Ganz im Gegenteil können emotionale Bindungen statt an Speziesgrenzen gebunden zu sein, diese sogar auflösen. Eine Einschränkung bedarf ob ihrer Konstruiertheit selbst Begründung statt eine zu sein (Vgl. Wolf 2004, S. 114).

Natürlich hat Hoerster insofern Recht, als es empirisch in der Tat so ist, dass es eine (in gewissem Maße auch angeeignete) Norm gibt, nach der Menschen eine besondere (emotionale) Bindung zu sich als Gruppe aufgrund dieser Zugehörigkeit, die auf bestimmten zugeschriebenen verallgemeinerten Eigenschaften basiert, haben, die sich der Spezifika des Einzelnen gegenüber verstellt, bzw. verstellen soll (zu Gruppen mit ihrer spezifischen Wirklichkeitskonstruktion durch Emotionen siehe Gerhards 1988, S. 103-110). Gruppen arbeiten mit Inklusion und Exklusion, es muss ein Außen geben, das sich auch normativ absetzt. Diese Gruppenidentität und ihre Legitimität muss allerdings in Frage gestellt werden, um ihre routinierte Bildung zu verändern und so auch die Normativität neuer Erkenntnis anzupassen. Diese Erkenntnis und dies ist ein Verdienst Singers Argumentation, besteht darin, dass die zur Gruppenidentität verallgemeinerten Fähigkeiten und Eigenschaften (wie die der Empfindungsfähigkeit), die die Legitimation bilden eben nicht exklusiv sind, wie im Sinne der Absetzung der Gruppe behaupten wird.
Das Postulieren einer Verbundenheit der Spezies Mensch untereinander, die noch dazu ihre Historizität und Entwicklung verschleiert und fälschlicherweise naturalisiert, zur anthropologischen Konstante erklärt wird, ist schlicht falsch. Nimmt man Verbundenheit, emotionale Nähe als Grundlage das Essen von Menschen zu verhindern, kann dies zur Norm geronnen das zwar leisten, jedoch fehlen moralisch relevante Kriterien, die dies für alle Menschen gewähren, Tiere jedoch ausgrenzen. Aufgrund des Vorkommens spezifischer Vorstellungen von emotionalen Beziehungen in verschiedenen Gesellschaften kann zudem eine Vielzahl an Ausgrenzungen gerechtfertigt werden.

Allerdings kommt die emotionale Nähe dem eigentlichen Kern sehr nah. Sie kann dazu führen, das Gegenüber als Individuum wahrzunehmen, bzw. anzuerkennen und es als mit Würde ausgestattet zu verstehen.
Im Zentrum steht die Anerkennung eines Wesens als Subjekt seiner Selbst, als Subjekt mit eigenem Wohl, als Individuum das in der Welt existiert, diese empfindet und mit Empfindungen auf sie reagiert. Die Fähigkeiten zu Empfindungen, zu Emotionen verschiedener Komplexität, zu Interessen und Bedürfnissen, nach einem aus der Perspektive des jeweiligen Wesens guten Leben, sowie das dies bei Missachtung subjektiv empfundenes Leid verursacht, stellt im Zusammenhang mit dem Zufügen von Leid und der Tötung als prima facie schlecht6 die Grundlage der Berücksichtigung dar. Es ist weder die Zuneigung, noch die soziale oder kulturelle Nähe, noch das persönliche Zugestehen oder Zusprechen von Intelligenzidealen. Dies sind nur Konstrukte, die oberflächlich gesehen den Menschen oder Teile der Menschheit in traditionellen Deutungsrahmen ihren Platz sichern.

Wenn nun aber die Eigenschaft – ein individuelles Wohl zu haben, das auf Empfindungs- bzw. Emotionsfähigkeit basiert und das es zu Achten gilt – den eigentlichen Grund darstellt, Menschen nicht zu essen und es ist in der Tat das Kriterium das als moralisch relevant gelten muss, da es die Grundbedingung darstellt, unter deren Annahme die Frage überhaupt Sinn ergibt, dann können wir auch hier letzten Endes nicht beim Menschen stehen bleiben.
Denn das auch eine Reihe nichtmenschlicher Wesen, vor allem jene, die zu Nahrungszwecken verbraucht werden, als empfindungsfähige, bzw. emotionsfähige Wesen anzusehen sind, die über komplexe Fähigkeiten verfügen, die zu Empfindungen von Freude und Leid und somit zu entsprechenden Dispositionen führen, hat eine Vielzahl an Studien gezeigt (Vgl. Balcombe 2010, Balluch 2005, Bekoff 2008). Dabei ist nicht nur die absolute Sicherheit (sofern es eine solche geben kann) über die Fähigkeiten dieser Tiere entscheidend, sondern bereits ausreichende Hinweise, wie der Verhaltensforscher Marc Berkoff treffend begründet:
„Wenn ich davon ausgehe, dass Tiere subjektive Gefühle von Schmerz, Angst, Hunger, usw. verspüren und ich damit falsch liege, dann habe ich niemandem geschadet; doch wenn ich vom Gegenteil ausgehe, Tiere jedoch tatsächlich solche Gefühle haben, dann öffne ich grenzenlosen Grausamkeiten damit Tür und Tor...Es muss heißen: Im Zweifel für die Tiere – wenn denn überhaupt noch irgendwelche Zweifel bestehen.“ (Bekoff 2008, S. 44)
Diese Haltung, die in der menschlichen Interaktion bestimmend ist, wird hiermit lediglich auch auf Tiere ausgedehnt, um eine vorgängige Ungleichbehandlung auszuschließen.

Nun können zwar auch emotionale Bindungen und die Zugehörigkeit zu kategorischen sozialen Verbänden wie Familie oder Gesellschaft moralisch relevant sein7, schließlich erfüllen sie gewisse Funktionen. Allerdings betrifft dies eher positive Pflichten, solche der Fürsorge. So kann ich weit stärker meinem Kind verpflichtet sein als einem fremden. Ein Mangel an positiven Pflichten bedeutet keine Aufhebung negativer. Der moralisch relevante Grund der elementaren negativen Pflichten (des Unterlassens) kann nur an das Vorhandensein elementarer Bedürfnisse gekoppelt mit der Fähigkeit der Empfindung sein. Einem Wesen das leiden kann, darf ich also prima facie kein Leid zufügen. Ob ein Wesen leiden kann oder nicht, ist demnach das Schlüsselkriterium bei Fragen, ob ich leidverursachende Praktiken anwenden darf.

Nun sind zwar (nur theoretisch) Praktiken denkbar, die ohne direktes Leid töten, ein gern angeführter Einwand, jedoch greifen hier die bisher ausgeklammerten Einwände im Bereich Gesundheit, Ökologie und Verteilungsgerechtigkeit. Ebenso muss die Begründung des menschlichen Entwurfs seiner Selbst in die Zukunft aufgrund der Empirie fallen. So ist Zukunftsfähigkeit auch bei diversen Tieren anzunehmen. Weiterhin sind viele der zu Nahrungsmitteln verbrauchten Tiere soziale Wesen, so dass Leid Dritter entsteht.
Auch ist zu fragen, welchen Sinn diese Grenze macht. Letztlich ist der Entwurf des Selbst in der Zukunft ursächlich durch den Wunsch das Unvermeidbare zu vermeiden geprägt und von einer Betonung der Gegenwart.
Wenn von einem säkularen, allein im Diesseits gelegenen Leben auszugehen ist, so sind sowohl das Selbst, das maßgeblich eine Ansammlung von Erlebnissen, deren Verarbeitung und entsprechenden Dispositionen ist (um es sehr zu vereinfachen), als auch dessen Entwurf in der Zukunft insofern unsinnig, als die Löschung dieser Erinnerung unvermeidbar ist. Der hinter der Idee stehende Wunsch ist auf die Gegenwart gerichtet und entspringt einem „Weiterleben-wollen“, das notwendig die Gegenwart betonen muss, da, um sinngemäß Alatriste im gleichnamigen Film wiederzugeben, wir in der Zukunft alle tot sind.
Es ist nun also so, dass die auf das Subjekt bezogene Konzeption des Zeitbewusstseins wenig Sinn macht, vielmehr ist ihr Kern die aktuelle Wollensfähigkeit8, das akute Weiterleben wollen, das auch bei vielen Tieren vorhanden ist. Dies gilt umso mehr, als das auch völlig in der Gegenwart existierende, bewusste Lebewesen ein Stück in die Zukunft weisen. Dieser Umstand wird durch ein falsches Verständnis des Terminus Gegenwart verschleiert, denn auch diese bezeichnet einen sich in der Zeit sowohl in Zukunft, als auch Vergangenheit erstreckenden Bereich, der nicht auf einen Moment reduzierbar ist.

Dürfen wir nun also Tiere essen? Ein Teil der Antwort muss lauten, dass die Frage falsch gestellt ist. Sie droht die Antwort durch die implizite Vorannahme einer anders seienden und zugleich homogenen Gruppe, die einer weiteren, „besonderen“ Gruppe gegenübersteht zu lenken.
Dies, sowie das bis hierher Gedachte berücksichtigend, muss der zweite Teil der Antwort lauten: Viele von Ihnen und dieses „Viele“ schließt vor allem jene ein, die zur Zeit davon betroffen sind, nicht, sofern wir moralisches Handeln als Grundlage anerkennen.









Literatur:

Balcombe, Jonathan: Second nature. The inner lives of animals, New York 2010.

Balluch, Martin: Die Kontinuität von Bewusstsein, Wien 2005.

Bekoff, Marc: Das Gefühlsleben der Tiere, Ein führender Wissenschaftler untersucht Freude, Kummer und Empathie bei Tieren, Bernau 2008.

Gerhards, Jürgen: Soziologie der Emotionen, Weinheim und München, 1988.

Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991.

Hare, Richard Mervyn: Moralisches Denken: seine Ebene, seine Methode, sein Witz, Frankfurt am Main 1992.

Hare, Richard Mervyn: Zur Einführung: Universeller Präskriptivismus, in: Fehige, Ch, Meggle, G.: Zum moralischen Denken, 2 Bde, Frankfurt am Main 1992, S. 31-54.

Hoerster, Norbert: Haben Tiere eine Würde? Grundfragen der Tierethik, München 2004.

Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchung zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999.

Lyotard, Jean-Francois: Memorandum über die Legitimität, in: Engelmann, Peter (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart 1990, S. 54-75.

Nussbaum, Martha C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010.

Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen, Frankfurt/Main 2009.

Schwickert, Eva-Maria: Feminismus und Gerechtigkeit: über eine Ethik von Verantwortung und
Diskurs, Berlin 2000.

Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994.
Weisshaupt, Brigitte: Ethik und die Technologie am Lebendigen, in: Konnertz, Ursula: Grenzen der Moral. Ansätze feministischer Vernunftkritik, Tübingen 1991, S. 75-92.

Wolf, Ursula: Das Tier in der Moral, Frankfurt am Main 2004.

Wolf, Ursula (Hrsg.): Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008.


1Dabei sollen vorerst Argumente aus den Bereichen Ökologie und Verteilungsgerechtigkeit ausgeklammert werden, zumal diese sich vornehmlich auf Quantität des Verbrauchs tierlicher Lebewesen auswirken.
2Also der fundamentalen Grundlage vieler Ethiken, die sicherlich eine Erweiterung um Ebenen der Fürsorge enthalten sollten um sie zu komplettieren, die diese erste Ebene jedoch unterstützen statt zu negieren.
3Die Betrachtung bezieht sich im Folgenden insbesondere auf Habermas.
4Eine Übersicht und Bearbeitung dazu bietet Schwickert.
5Das deckt sich auch mit Nussbaums Orientierung an aktuellen Bedürfnissen.
6Insoweit Leid von Dritten (moralischen Akteuren) zugefügt wird. Dabei sind Leid und Tod im Kontext des Lebens zu betrachten, also nie völlig vermeidbar. Stattdessen sollen bei weitestgehender Selbstverwirklichung die Anerkennung der gleichen Ansprüche und Bedürfnisse anderer gewahrt bleiben. Elementares Leid soll trotz Selbstverwirklichung vermieden werden und möglichst ein insgesamt positives Leben anderer nicht behindert.
7Dabei wird hier ausgeklammert, dass dies auch relevant für das Verhältnis zu Tieren ist. So ergeben sich Unterschiede in der Behandlung zu Wildtieren (eher negative Pflichten) und zu Tieren in der menschlichen Gesellschaft (auch positive Pflichten). Menschen und Tiere bilden letztlich eine multispeziesale Gemeinschaft, die bisher noch auf Unterdrückung basiert, dies aber nicht länger sollte.
8Die auch Ursula Wolf als ein Grundbedingung moralischer Berücksichtigung konzeptionalisiert.

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